Fjokla dagegen fand an diesem Leben Geschmack: die Armut, der Schmutz, das unaufhörliche Fluchen gefielen ihr gut. Sie aß alles, was man ihr gab, schlief, wo es sich gerade traf, goss das Schmutzwasser dicht vor der Haustüre aus und ging mit bloßen Füßen durch jede Pfütze. Gleich vom ersten Tage an fing sie Nikolai und Olga zu hassen an, weil ihnen dieses Leben nicht gefiel.
»Will mal sehen, was ihr hier fressen werdet, ihr Moskauer Edelleute!« sagte sie schadenfroh. »Das möchte ich sehen!«
Eines Morgens – es war Anfang September – brachte Fjokla zwei Eimer Wasser von unten herauf; als sie rosig vor Kälte, hübsch und kräftig in die Stube trat, saßen Marja und Olga am Tisch und tranken Tee.
»Wohl bekomm's euch!« versetzte Fjokla spöttisch. »Diese vornehmen Damen,« fügte sie hinzu, die Eimer auf den Boden absetzend: »eine neue Mode haben sie eingeführt, jeden Tag Tee zu trinken. Daß ihr vom Teetrinken nur nicht zerspringt!« fuhr sie fort, Olga mit Haß anblickend. »Was die in Moskau für Fett angesetzt hat!«
Sie holte mit dem Tragjoch aus und traf Olga auf die Schulter; die beiden Schwägerinnen schlugen die Hände zusammen und sagten nur:
»Ach, mein Gott!«
Fjokla ging darauf zum Fluß, Wäsche zu spülen, und fluchte unterwegs so laut, daß man im Hause jedes Wort hören konnte.
So verging der Tag. Ein langer Herbstabend brach an. Die ganze Familie war in der Stube versammelt und haspelte Seide; alle waren mit der Arbeit beschäftigt bis auf Fjokla: sie war wieder aufs andere Ufer gegangen. Die Seide holten sie sich von der nahen Fabrik, und die ganze Familie verdiente mit der Arbeit an die zwanzig Kopeken die Woche.
»Als wir noch den Gutsherren gehörten, hatten wir es viel besser,« sagte der Alte bei der Arbeit. »Wir konnten arbeiten, essen und schlafen, alles zu seiner Stunde. Zum Mittag gab es Kohlsuppe und Grütze, und zum Abendessen wieder Kohlsuppe und Grütze. Gurken und Kraut hatte man, so viel man wollte. Auch die Sitten waren damals viel strenger. Ein jeder paßte selbst auf sich auf.«
Das einzige trübe Lämpchen, das in der Stube brannte, qualmte. Wenn sich jemand vor das Lämpchen stellte und auf das Fenster ein großer Schatten fiel, konnte man das grelle Mondlicht sehen. Der alte Ossip erzählte bedächtig, wie man in dieser Gegend, wo das Leben jetzt so langweilig und armselig war, zur Zeit der Leibeigenschaft gelebt hatte: wie man Treibjagden veranstaltete und die Bauern, welche mithalfen, mit Schnaps traktierte; wie man ganze Wagen mit geschlachtetem Geflügel den jungen Herrschaften nach Moskau schickte, wie man die Bösen mit Ruten züchtigte oder auf ein anderes Gut verschickte, die Guten aber belohnte. Auch die Großmutter erzählte manches. Sie konnte sich an alles erstaunlich gut erinnern. Sie erzählte von ihrer Herrin, einer guten und gottesfürchtigen Frau, deren Mann ein Trinker und Lüstling war und deren sämtliche Töchter unglücklich heirateten: die eine bekam einen Säufer, die andere einen gewöhnlichen Kleinbürger, die dritte aber wurde entführt (die Großmutter selbst, die damals jung war, hatte bei der Entführung mitgeholfen); und alle drei starben bald aus Gram, ebenso wie ihre Mutter. Als die Großmutter diese Erinnerungen auffrischte, vergoß sie sogar einige Tränen.
Plötzlich klopfte jemand an die Türe, und alle fuhren zusammen.
»Onkel Ossip, laß mich übernachten!«
Ein kleiner kahlköpfiger Greis, der Koch des Generals Schukow, derselbe, dem bei der Feuersbrunst die Mütze verbrannt war, trat in die Stube. Er setzte sich hin, hörte zu und gab auch einige von seinen eigenen Erinnerungen zum besten. Nikolai ließ die Beine vom Ofen herunterhängen und fragte den Alten nach den Gerichten aus, die man vor Zeiten zu kochen pflegte. Man sprach von Klops, Koteletts, verschiedenen Suppen und Saucen, und der Koch, der auch ein gutes Gedächtnis hatte, nannte Speisen, die es nicht mehr gab; so hat es zum Beispiel ein Gericht gegeben, das aus Ochsenaugen bereitet wurde und »Erwachen am Morgen« hieß.
»Verstand man damals Koteletts à la Marechal zu machen?« fragte Nikolai.
»Nein.«
Nikolai schüttelte vorwurfsvoll den Kopf und sagte:
»Das sind mir schöne Köche!«
Die Mädchen saßen und lagen auf dem Ofen und blickten, ohne mit den Augen zu zwinkern, herab; es sah so aus, als ob ihrer eine ganze Menge wäre, wie die Engel aus den Wolken blickten sie herab. Die Erzählungen gefielen ihnen gut; sie seufzten, zitterten und erbleichten bald vor Entzücken, bald vor Entsetzen; wenn aber die Großmutter erzählte, deren Berichte die interessantesten waren, hielten sie den Atem an und erstarrten zu Stein.
Schweigend gingen alle schlafen; die Alten, von den Erzählungen erregt, dachten daran, wie schön doch die Jugend sei, die, wie sie auch ausfalle, doch nur das Freudige, Rührende, Lebendige in den Erinnerungen zurücklasse, und wie schrecklich kalt der nicht mehr ferne Tod, – an den soll man lieber gar nicht denken! Das Lämpchen ging aus. Die Dunkelheit, die beiden vom Monde hell erleuchteten Fenster, die Stille, das Knarren der Wiege sprachen davon, daß das Leben schon vorüber ist und nie wiederkehren wird ... Man schlummert ein, man vergißt sich, und plötzlich berührt jemand die Schulter, haucht die Wange an, – und der Schlaf ist augenblicklich verflogen, man hat im Körper ein Gefühl, als ob man ihn sich wund gelegen hätte, und lauter Gedanken an den Tod ziehen durch den Sinn; man dreht sich auf die andere Seite um, der Tod ist schon vergessen, dafür kommen aber die alten, langweiligen, trüben Gedanken an die Not, die Nahrung, und daß das Mehl teurer geworden ist, und nach einer Weile denkt man schon wieder daran, daß das Leben vergangen ist und nie wiederkehrt ...
»Mein Gott!« seufzte der Koch.
Jemand klopfte ganz leise ans Fenster. Fjokla war wohl heimgekommen. Olga stand auf, ging, gähnend und ein Gebet flüsternd, hinaus und entriegelte die Haustüre. Es war niemand zu sehen; von der Straße wehte Kälte herein, und der Flur wurde vom Mondlicht erhellt. Durch die offene Tür war die stille, leere Straße zu sehen und der Mond, der am Himmel stand.
»Wer ist da?« fragte Olga.
»Ich,« klang es zurück. »Ich bin's.«
Neben der Türe stand, sich an die Wand drückend, Fjokla; sie war splitternackt. Sie zitterte am ganzen Körper, klapperte vor Kälte mit den Zähnen und erschien im grellen Mondlichte auffallend blaß, schön und seltsam. Die Schatten und der Mondglanz auf ihrem Körper hoben sich grell ab, und ihre dunklen Brauen und die junge, feste Brust fielen besonders deutlich in die Augen.
»Die ausgelassenen Burschen drüben haben mich ausgezogen und so laufen lassen ...« sagte sie. »Nun bin ich nackt nach Hause gekommen, so wie die Mutter mich geboren hat. Bring mir irgend etwas zum Anziehen.«
»Komm doch in die Stube!« sagte Olga leise. Auch sie begann zu zittern.
»Daß mich die Alten nicht sehen.«
Die Großmutter war schon in der Tat wach und brummte, und der Alte fragte: »Wer ist da?« Olga brachte ihr ihr eigenes Hemd und einen Rock, half ihr beim Anziehen, und dann traten sie beide leise in die Stube.
»Bist du es, du Schamlose?« brummte die Großmutter, die schon erraten hatte, wer es war. »Herumtreiberin ... daß du zugrunde gehst!«
»Macht nichts, macht nichts,« flüsterte Olga, ihre Schwägerin einhüllend. »Macht nichts, meine Liebe.«
Und es wurde wieder still. Hier im Hause schlief man immer schlecht; ein jeder hatte etwas Zudringliches, das ihn nicht einschlafen ließ: der Alte die Kreuzschmerzen, die Großmutter – ihre Sorgen und ihren Ärger, Marja – die Angst, und die Kinder – das Jucken und den Hunger. Auch jetzt schliefen sie unruhig; sie wälzten sich von der einen Seite auf die andere, phantasierten und standen oft auf, um Wasser zu trinken.
Fjokla begann plötzlich mit lauter, rauher Stimme zu schreien, beherrschte sich aber gleich wieder, und schluchzte nur ab und zu, immer stiller und dumpfer, bis sie ganz verstummte. Marja stand auf und ging hinaus, und man hörte, wie sie draußen die Kuh molk und ihr sagte: »Halt!« Auch die Großmutter ging hinaus. In der Stube war es noch dunkel, aber man konnte schon alle Gegenstände unterscheiden.
Nikolai, der die ganze Nacht nicht geschlafen