Cornelius Keppeler

Liebe


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LIEBE

       »Theologie der Liebe« oder die scheinbar unsichtbare Wirklichkeit der Liebe

      Für den deutschen Begriff der Liebe gibt es im Griechischen verschiedene Übersetzungen, die zwei Grundformen von Liebe bezeichnen. ’Αγάπη (lateinisch: caritas) lässt sich mit Nächstenliebe oder Barmherzigkeit, dagegen ἔρως (lateinisch: amor) mit sinnlicher Liebe übersetzen, wodurch sich das Zugeneigt-Sein in Freundschaft von jenem in einer Partnerschaft unterscheiden lässt. Auch wenn die Sinngehalte der Begriffe ἀγάπη und ἔρως jeder für sich ein breites Bedeutungsspektrum abdecken, so weisen sie doch die gleiche Grundcharakteristik der Liebe auf. Sie sind durch Unbedingtheit1, Maßlosigkeit2 und Annahme des Anderen gekennzeichnet.

      Hinzu kommt, dass der Mensch ein Leib-Geist-Wesen ist, so dass auch seine Liebe einen leiblich-geistigen Charakter haben muss, um seinem Wesen zu entsprechen. Für diese zwei Dimensionen der menschlichen Liebe finden sich in der theologischen Literatur unterschiedliche Bezeichnungen: begehrende Liebe (amor concupiscentiae) und selbstlose Liebe (amor benevolentiae)3 oder physische bzw. ontische Liebe und ekstatische Liebe4. Der insbesondere im Mittelalter geführten Diskussion darüber, welche die wahre Form der (Gottes-) Liebe sei, liegt eine in der Liebe selbst verborgene Dialektik zugrunde: „Einerseits gehört zum Wesen der Liebe, daß Liebende in ihrem Vollzug die Reflexion auf das eigene Glück ›vergessen‹ (sonst würde das Gegenüber instrumentalisiert); anderseits ›wissen‹ Liebende, daß sie gerade in diesem ›selbstvergessenen‹ Akt ihr Glück finden (würde man dies verneinen, entzöge man der Liebe jede Motivation).“5 Daher sollte zum einen ein Verständnis von zwischenmenschlicher Liebe erreicht werden, nach dem sie „dann am ›geistigsten‹ [ist], wenn sie den ganzen Menschen in sich integriert, also auch die notwendige ›Trieb‹-Grundlage bewahrt und verbreitert.“6 Zum anderen sollte mit Bezug auf die Gottesliebe nachvollzogen sein, „daß es zwischen Gottes-Liebe und Selbst-Liebe eine letzte, wenn auch als Phänomen nicht zum Ausdruck kommende Identität gibt, so daß beide letztlich als zwei Aspekte ein und desselben wahrhaft natürlichen Verlangens zu verstehen sind.“7 Beide Dimensionen der Liebe sind also in solch einer Weise auf einander bezogen zu begreifen, „daß die ontologische (transzendentale) Wesensstruktur des Menschen auf Gott hin gerade dann sich selbst (in ›Selbst-Liebe‹) bejaht und vollzieht, wenn der Mensch ›ekstatisch‹ (›ek-sistierend‹) liebend sich in Gott verliert und so findet.“8

      1 „Wenn der Mensch den Nächsten so liebt, wie er sich selbst liebt, liebt er ihn nicht wegen irgendwelcher Vorzüge, sondern um seiner selbst willen, spontan und grenzenlos“, Schockenhoff, Eberhard, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg 2007, 301.

      2 „Der maßlosen Liebe wohnt wesensmäßig die Dynamik inne, immer mehr zu wachsen, die Grenzen immer weiter hinauszuschieben“, Herzgsell, Johannes, Karl Rahners Theologie der Liebe, in: Geist und Leben 77 (2004) 171-183, 173.

      3 Vgl. Rahner, Karl, Art. Liebe. V. Heutige Problematik, in: ders./Höfer, Josef, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg 21961, 1038-1039, 1039.

      4 Vgl. Ratzinger, Joseph, Art. Liebe. III. Geschichte der Theologie der Liebe, in: Höfer, Josef/Rahner, Karl, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg 21961, 1032-1036, 1034.

      5 Nocke, Franz-Josef, Art. Gottesliebe. II. Systematisch-theologisch, in: Kasper, Walter u.a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg 31995, 927-930, 929.

      6 Rahner, Karl, Art. Liebe. V. Heutige Problematik, in: ders./Höfer, Josef, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg 21961, 1038-1039, 1039.

      7 Drumm, Joachim, Art. Liebe. IV. Systematisch-theologisch, in: Kasper, Walter u.a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg 31997, 912-915, 914.

      8 Rahner, Karl, Art. Liebe. V. Heutige Problematik, in: ders./Höfer, Josef, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 6, Freiburg 21961, 1038-1039, 1038f.

      1. Selbstliebe und Liebe zum Anderen

      Lieben setzt (die Erfahrung von) Geliebt-werden voraus. Hat der Liebende sein erfahrenes Geliebt-werden durch einen Menschen als Ausdruck des Geliebt-werdens von Gott begriffen, ist eine selbstlose Liebe denkbar, ohne dass diese Hingabe zu einer Selbstaufgabe führt. Denn das Bewusstsein, bleibend Adressat der Liebe Gottes zu sein, verleiht dem Liebenden einen dauerhaften stabilen Selbststand, durch den er sich ohne Angst, sich zu verlieren, ganz seinem Lieben hingeben kann. Die Liebe Gottes hält den Liebenden im Sein, während er sein Dasein für den Geliebten hingibt (vgl. Joh 15,13).

      Die Vollform der Liebe zeigt sich jedoch nicht in solch einer einseitigen Liebe, in der sich der Liebende verströmt, sondern in der gegenseitigen Liebe zweier sich Liebender. Zur Liebe gehört wesensmäßig das Geben und Empfangen, oder besser: das Empfangen und Geben, weil das Empfangen dem Geben vorgängig ist. Empfangen und Geben bedeuten aber nicht nur das Empfangen und Geben von Liebe, sondern sind eine Ebene tiefer vom Lieben-können (»Empfangen«) und vom Lieben-wollen (»Geben«) getragen. »Selbstlos« kann eine Liebe demnach nur sein, indem sie keine Antwort, sprich Gegenliebe erwartet bzw. fordert. Im Liebesvollzug geht es den Liebenden nicht um sich, sondern um den Geliebten und um die Weitergabe der selbst empfangenen Liebe, oder präziser: um die Verwirklichung der empfangenen Liebesfähigkeit.

      Die Selbstlosigkeit scheint vielerorts als das Originalitätskriterium für wahre Liebe verstanden zu werden. Doch kann diese Selbstlosigkeit gefährlich missverstanden werden, wenn diese ekstatische Selbstlosigkeit in eine Selbstaufgabe mündete. Ein ekstatisch Liebender kann sich aber in seiner Liebe nicht auflösen, weil der Vollzug des Liebens zwingend eines Subjektes bedarf. Liebe ist ein Beziehungsgeschehen zwischen einem Liebenden und einem Geliebten. Fiele der Liebende seiner Liebe zum Opfer, fiele die Liebe in sich zusammen. Demnach gibt sich wahre Selbstlosigkeit nicht auf, sondern sieht von sich ab und sucht den Vorteil des Anderen. In der liebenden Ekstase lässt sich der Liebende zunächst zurück1 und übersteigt sich im Sinne des Paradoxes »Wer außer sich ist, ist ganz bei sich«.

      Wenn es nun in der Heiligen Schrift heißt: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“ (Lev 19,18), so ist damit zunächst gesagt, dass die Liebe zum Nächsten die Selbstliebe voraussetzt. Diese Selbstliebe darf dabei nicht mit Egoismus oder gar Narzissmus verwechselt werden. Sie setzt vielmehr „ein realistisches Selbstkonzept voraus, das auch die eigenen Schwächen, die einen beim anderen unangenehm auffallen, nicht verdrängen muss“2. Solch eine reife Selbstliebe ist dementsprechend mit „ein[em] hohe[n] Maß an Nachsicht und Geduld“3 verbunden, damit mit den eigenen Unzulänglichkeiten angemessen umgegangen werden kann. Dabei betont Romano Guardini die Wichtigkeit der Annahme seiner selbst und „unterscheidet (…) einen doppelten Aspekt im Prozess der gelingenden Selbstannahme: negativ den Verzicht auf ein illusionäres, phantastisches Selbstkonzept, das mich zur ständigen Flucht vor mir selbst verleitet, und positiv die Bereitschaft, die mir von Gott her zugedachten Möglichkeiten und Grenzen meines Daseins als Aufgabe der eigenen Lebensgestaltung zu akzeptieren.“4 Das zur Selbstliebe Formulierte lässt sich dann jedoch ohne Bruch auf die Liebe zum Nächsten übertragen und bekommt von dort her seine eigene Dynamik. Denn „welche schier endlose Geduld wir uns selbst gegenüber erweisen, welche Nachsicht wir gegenüber den eigenen Schwächen üben, wie oft wir uns auch die gleichen Fehler am Ende doch immer wieder verzeihen, wie viel Verständnis wir für die Besonderheiten unserer Lage aufzubringen bereit sind und welchen Einfallsreichtum wir dafür mobilisieren, Entschuldigungsgründe für unser eigenes Fehlverhalten zu entdecken – dann steht uns plötzlich klar vor Augen, was es heißt, die Liebe zum Nächsten dem Maß unserer spontanen Selbstliebe zu unterstellen.“5

      1 „In der Liebe verwirklicht der Mensch sich selbst. Aber weder indem er sich selbst verwirklicht, noch indem er sich ausschließlich auf seine Selbstverwirklichung konzentriert, sondern dadurch, dass er achtsam mit