Robin Carminis

Lebenspfand


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austariert. Sie hatten herausgefunden, dass an diesem Tag, um dreizehn Uhr, ein Transit vom Hauptquartier aus

       geplant war. Um die Gravitationswellen, die Harukis Zeitsprung verursachen würde, zu tarnen, würde er sekundengenau zur selben Zeit wie der Historyscout im Transitorium springen müssen. Dafür war es unerlässlich, dass Sam in der Agency die Datenströme überwachte.

      Sato erinnerte sich mit einem warmen Bauchgefühl an ihren gestrigen Abend, oder besser gesagt, hauptsächlich an die vergangene Nacht. Sam war, von Natur aus, ein leidenschaftlicher Mensch, aber die bevorstehende Trennung hatte ein zusätzliches Feuer in ihr entfacht. Bis zum Morgengrauen hatten sie sich geliebt, wie noch nie zuvor, und als Sam zur Arbeit in die Agency hatte aufbrechen müssen, waren bei beiden Tränen der Verzweiflung geflossen.

      Es war ihnen nur allzu bewusst, dass es keinen anderen Ausweg gab, wenn sie die Zeitlinie wieder ins Gleichgewicht bringen wollten. Und das konnten sie nachweislich nicht der Agency überlassen. Ihr Vertrauen in die Firma war durch die Erkenntnisse, die sie während ihrer Recherchen in den vergangenen Tagen gewonnen hatten, mit jedem zusätzlichen Quantum Information geschwunden.

      Das internationale Ministerium für Zeitreisen existierte seit dem 14. September 2020, exakt fünf Jahre nach dem Tag, an dem erstmals die Existenz von Gravitationswellen wissenschaftlich nachgewiesen worden war. Diesem Amt, mit Sitz in Kopenhagen, war die TT Agency unterstellt. Die Agentur besaß zehn Zweigstellen weltweit und ihr Hauptsitz befand sich in den USA. Genauer gesagt in Texas, im sogenannten Cidwell Branch. Einem ehemals ausgedehnten Weideland, welches dem Ministerium gehörte und nahe dem Brazos River lag.

      Bei Samanthas Nachforschungen hatte sich herausgestellt, dass es seit der Gründung der Behörde zu keinem einzigen temporalen Zwischenfall, infolge einer Einmischung in die Vergangenheit, gekommen war. Aber die vielen Jahrtausende, in denen die Wissenschaftler, ohne jegliche Auswirkung auf die Geschichte, Datensammler gewesen waren, hatten die Vorgesetzten leichtsinnig werden lassen. Sicherheitskonzepte waren verwässert worden und Masterpläne zu Fall-back-Szenarien geschrumpft. Langer Rede kurzer Sinn, die Behörde hatte keine brauchbare Strategie für einen wirklichen Ernstfall.

      Wenn Samantha ihre eigene Existenz sichern und Satos Ehre wiederherstellen wollte, mussten sie schnell, und zugleich besonnen, handeln. Leider gaben die Ermittlungen zu Tomás Batedors Verschwinden nach wie vor zu viele Rätsel auf. Der Historyscout Nr. 12 hatte es blendend verstanden, seine Spuren zu verwischen. Alle Sprungpunkte waren gelöscht worden, dadurch war es schier unmöglich, seine temporale Reiseroute nachzuvollziehen.

      Gelernt war eben gelernt! Dieses gewiefte Verhalten zwang Haruki und Sam einen gewissen Respekt ab. Zwar befanden sich die Datensammlungen des Geschichtsforschers auf dem Speicher des Tablets, nur ließen sich daraus keine vernünftigen Rückschlüsse auf Orte oder Zeiten ziehen, an denen er sich aufgehalten hatte. Zumindest nicht kurzfristig.

      Bisher war es den beiden nur geglückt, anhand der gefundenen Buchveröffentlichung, den letzten Aufenthaltsort von Batedor zu identifizieren. Arlington, Texas.

      Allzu weit hatte er sich mit dieser Wahl nicht von der

       TT Agency entfernt. Von Cidwell Branch bis dort dauerte es mit dem Aero-Moto höchstens zwanzig Minuten.

      Als Haruki kurz vor zwölf auf einem Parkplatz in der Innenstadt ankam, wählte er Sam über sein Multicom an. Ihr Gesicht erschien auf dem Display. Wie verabredet, war sie pünktlich in Mittagspause gegangen, und hatte das Gebäude der TT Agency verlassen, damit sie ungestört sprechen konnten. Haruki traf sie in dem Park an, der in der Nähe des Firmengeländes lag.

      »Hallo Schatz!«, begrüßte sie ihn.

      »Hi Sam, bist du gut rausgekommen?«

      »Ja, alles klar hier. Sie schöpfen keinerlei Verdacht.«

      »Gut, bist du mit der Analyse fertig geworden?«

      »Yep, bin ich. Hör zu, ich konnte den Radius leider nicht genauer eingrenzen. Die Chronik im Tablet, ich meine, die Dokumentation der Sprünge, wurde, vermutlich von Tomás Batedor selber, gelöscht. Es bleibt dabei. Das einzige, was wir wissen, ist, dass er 1976 dieses Buch unter dem Namen Thomas Wayfarer veröffentlicht hat. Wir haben leider nur den Buchtitel und die kurze Autorenvita in der Datenbank. Da steht, dass er in Arlington, Texas gelebt hat und verheiratet war.«

      »Okay, wenn wir keinen besseren Anhaltspunkt haben, versuche ich es erstmal dort. Hoffen wir, dass er nicht umgezogen ist. Ich befinde mich jetzt Downtown am Hillary-Clinton-Stadium nahe der Main Street.«

      »Zeig mir mal das Stadion und dreh dich dann langsam im Kreis. Ich hab meine Augmented-Reality-Brille dabei. Dann kann ich dir genau sagen, was in den letzten 250 Jahren dort gestanden hat. Weiter zurück müssen wir sicher nicht gehen, oder?«, scherzte sie.

      Haruki stieg aus dem Auto und ging ein paar Schritte Richtung der Arena. Er hob sein Multicom und fing ein Bild der Umgebung ein. Während er sich um seine eigene Achse drehte, hörte er, wie Sam vor sich hinmurmelte.

      »Stopp! Das ist gut.«

      Haruki drückte auf den Auslöser und dokumentierte den exakten Punkt.

      »Und was erwartet mich da?«, wollte er wissen.

      »Da befand sich 1976 ein leerstehendes Gebäude. In dem Hinterhof könntest du unbeobachtet materialisieren. Die anderen Stellen sind eher ungünstig, da stehen ein Biff-Burger und ein Chef-Burger Fastfood Restaurant. Ich weiß ja, wie sehr du Junkfood hasst.« Ihre Stimme verriet, dass sie dabei grinste.

      »Sehr umsichtig von dir.«

      »Immer gerne, Schatz. Und denk dran! Dir könnte bei der Ankunft zunächst etwas übel sein. Aber das weißt du ja selbst.« Haruki wechselte auf die Webcam des Multicoms und Sams Gesicht füllte erneut den Bildschirm. Mit einem Mal spürte er einen dicken Kloß in seinem Hals.

      »Ich werde dich vermissen, Sam.«

      »Und ich dich erst.«

      Eine kurze Pause voll unangenehmer Stille folgte. Dann räusperte sich Haruki und ging dabei in die Knie. Sam blickte verwirrt aus dem Handy.

      »Samantha Gunnarsson. Möchtest du mich heiraten?« Aus dem Gerät dröhnte ein verblüfftes Schnauben.

      »Hast du mich etwa gerade gefragt, ob ich deine Frau werden will?«, fragte Samantha mit erstickter Stimme nach.

      »Ja, und ich meine es todernst!«

      »Ich will!«

      »Ich mache keine Scherze, ich liebe dich und ich weiß, ich werde…«

      »Ich wihill …«

      »Du willst?« Haruki sprang auf und riss die Arme in die Luft. Die nächsten Augenblicke bekam Samantha am anderen Ende ausschließlich Stücke des Himmels oder schräge Bilder von Bauwerken zu sehen, begleitet von lautem Jubel. Als Haruki seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte, wurde seine Stimme ernst.

      »Ich komme zurück. Das verspreche ich dir!«

      »Ich weiß!«

      »Ich werde direkt nach meiner Ankunft 1976 im Houston Chronicle inserieren. Dann kann ich dir unter dem vereinbarten Code mitteilen, dass ich angekommen bin. Okay?«

      »Alles klar! Ich scanne ab jetzt jeden Tag das Archiv.«

      »Ich verspreche dir, dass ich mich regelmäßig melde. Ehe du dich umschaust, bin ich wieder bei dir.«

      »Ich liebe dich auch!« Ihre Augen schimmerten feucht. Sie warf ihm eine letzte Kusshand zu und beendete das Gespräch.

      Haruki starrte auf den dunklen Bildschirm. Es dauerte einen Moment, bis er sich auf seine Aufgabe konzentrieren konnte. Er überprüfte die Uhrzeit. 12:44 Uhr.

      Punkt dreizehn Uhr kam eine Nachricht von Sam.

       ›Countdown läuft - Starte bei zwanzig‹

      »Vielen Dank, dass Sie sich für ein Gerät der TT Agency entschieden haben«, gab das Tablet mit einer angenehmen weiblichen Stimme von sich.