Bernharda May

Ein halbes Dutzend Mord


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allein gebacken hat? Die Mutter, diese Ruth, muss doch mitbekommen haben, dass das Mädchen ein falsches Rezept ausgesucht hat. Oder hat sie das Kind alles völlig allein machen lassen? Wie unverantwortlich! Und faul dazu!«

      »Tatsächlich hatte Ruth die kleine Louise mehrmals unbeaufsichtigt in der Küche gelassen, um den Kaffeetisch zu decken und Sahin zu begrüßen, der sehr zeitig eingetroffen war«, sagte Herrmann. »Sie vertraute auf die Selbständigkeit ihrer Tochter. Einzig beim Stürzen und Zerschneiden des Tortenbodens half sie ihr.«

      »Unverantwortlich«, fand Wilma.

      »Derjenige, der das Internet manipuliert hat, muss gewusst haben, dass Louise unbeaufsichtigt backen würde«, warf ihr Bruder Bert ein.

      »Guter Punkt!«, lobte Herrmann.

      »Und er muss sichergegangen sein, dass sie die Maiglöckchen auch ja nicht vergisst«, setzte Cornelia hinzu. »Wenn wir erfahren, woher Louise die Blumen hatte, kommen wir vielleicht auf den Mörder!«

      »Wie sich herausstellte, hatte Louise die Maiglöckchen am Tag zuvor in Agnes’ kleinem Garten pflücken dürfen«, erzählte Herrmann. »Tork hatte das aus dem kurzen Gespräch mit dem Kind erfahren, und darauf angesprochen bestätigte die Apothekerin diese Information.

      ›Das ist alles, was in meinem winzigen Gärtchen zurzeit wächst‹, rechtfertigte sie sich uns gegenüber, ›und ich habe schließlich nicht wissen können, was die Kleine damit vorhatte.‹«

      »Da haben wir’s!«, rief Cornelia fröhlich aus. »Die Apothekerin war’s!«

      »Noch haben wir gar nichts, liebe Tante«, widersprach Ronald. »Schließlich wissen wir nicht, wie Daniel nun wirklich vergiftet worden ist. Die ganze Maiglöckchenangelegenheit diente ja nur als Ablenkung!«

      »Was die wirkliche Ursache der Vergiftung anging, kam dank der Spurensicherung schnell Klarheit auf«, ergriff Herrmann wiederum das Wort und alle lauschten gespannt. »Die Beamten hatten unterm Tisch eine Schachtel Tabletten gefunden. Es handelte sich um ein Medikament mit dem Wirkstoff Digoxin, welcher bei Überdosis Herzprobleme verursachen kann – bis hin zum Tod. In meiner Laufbahn bin ich bereits öfter mit dieser ›Tatwaffe‹, wenn mir diese Bezeichnung gestattet ist, konfrontiert worden, und auch Tork war sie nicht fremd.

      Als man ihm die Schachtel zeigte, erledigte er sofort zwei Telefonate: Eines mit dem Krankenhaus, wo Daniels Leiche geblieben war, und eines mit dem Polizeirevier. Die Ärzte sollten den Toten auf Spuren von Digoxin prüfen, die Kollegen hingegen einen Experten hinzuziehen, der die Website hacken konnte. Sie wissen schon, die IP-Adresse des Programmierers herausfinden und damit der Verursacher jenes Maiglöckchenstreichs orten. Solange die Website online war, blieben ja noch viele andere User gefährdet!

      Erst nach den Anrufen begutachtete er die Tablettenschachtel genauer. Er fragte uns alle der Reihe nach, ob uns das Medikament gehöre und falls nicht, ob wir die Schachtel am Nachmittag gesehen hätten. Wir alle, auch Ruth, verneinten. Tork zog sich einen Gummihandschuh über die Finger, öffnete die Packung und zog eine dieser Plastikstreifen heraus, in denen normalerweise die Tabletten in einzelnen Hülsen versiegelt sind, bis man sie jeweils für die Einnahme herausbricht. Die Hülsen dieses Plastikstreifens waren bereits allesamt geleert.

      ›Es ist davon auszugehen, dass der Inhalt der Schachtel dem Verstorbenen zugeführt worden ist und seinen Tod verursacht hat‹, sagte Tork ernst. ›Dem Fundort der Schachtel nach zu urteilen, muss die Zufuhr während Ihrer Kaffeerunde erfolgt sein. Es tut mir leid, aber ich muss Sie alle dazu befragen.‹

      Ich glaube, es tat ihm wirklich leid. Er war ein Fremder mitten in einem Trauerhaus und uns allen sah man an, dass Daniels Tod uns nahe ging. Es war kein guter Augenblick für Vernehmungen, deshalb wies Tork sogleich in freundlicherem Ton darauf hin, dass die Kriminalpolizei die Beteiligten in den Folgetagen aufs Revier laden würde.

      ›Sie kommen zu uns, wenn Sie alle wieder bei Kräften sind‹, sagte er.

      ›Und solange bleiben wir verdächtig, wie?‹, entgegnete Agnes gereizt. ›Ihre Strategie sieht doch nur vor, dass wir uns alle gegenseitig beschuldigen, die Packung Tabletten heimlich hergebracht zu haben!‹

      Tork schüttelte den Kopf und wusste nicht recht, wie er auf die Apothekerin reagieren sollte. Ich versuchte die Situation zu entspannen, indem ich mich bereit erklärte, gleich an Ort und Stelle meine Aussage zu machen. Meinem jungen Kollegen war das sichtlich unangenehm, schließlich war ich sein Vorgesetzter. Als aber Ruth und Sahin bestätigten, dass ich fast als Letzter eingetroffen war und außer einem Blumenstrauß nichts bei mir gehabt hatte, schien Tork erleichtert.

      ›Ihr Sakko passt ohnehin nicht‹, meinte er.

      Ich verstand nicht und fragte, was er meine. Da kramte er aus seiner Jackentasche eine Pinzette hervor, nahm die Plastiktüte mit der Tablettenschachtel in die linke Hand und tauchte mit der rechten die Pinzette hinein. Er erwischte einen dunkelblauen Faden, der sich an einer Ecke der Packung verfangen hatte, zog ihn aus der Tüte und hielt ihn uns allen vor die Nase.

      ›Dieser dünne Faden ist mir gleich aufgefallen. Sie werden ihn dagegen vermutlich übersehen haben. Es könnte sich dabei um einen losen Faden aus eben jener Tasche handeln, in der die Schachtel gesteckt hatte, bevor man sie, vollständig geleert, unter das lange Tischtuch fallen ließ. Möglicherweise wollte der Täter oder die Täterin die Schachtel zunächst dort verstecken und später abholen, um sie ganz zu entsorgen.‹

      Tork wandte sich an Sahin.

      ›Ist das Ihr Sakko, das dort am Kaffeetisch über der Stuhllehne hängt?‹

      Sahin nickte.

      ›Das ist mein Bürojackett‹, sagte er. ›Ich hab’s von der Firma bekommen. Wir tragen dort alle so eins.‹

      ›Quasi eine Einheitskleidung für alle Mitarbeiter?‹, fragte Tork und Sahin nickte abermals.

      Der Kommissar ging auf besagten Stuhl zu, hielt den Faden daran und wir sahen, dass die dunkelblaue Farbe übereinstimmte. Alle wussten, was uns Tork damit sagen wollte.

      ›Wollen doch mal sehen, ob in den Innentaschen irgendwo eine Faser beschädigt ist‹, sprach er und untersuchte das Sakko.

      Dabei glitt ein Umschlag aus der Innentasche.

      ›Sieh einmal an, ein Brief an Ihren Kollegen Daniel in Ihrem Jackett? Und sogar geöffnet!‹

      Tork holte einen Bogen Papier aus dem Umschlag. Ich konnte an dem getippten Text erkennen, dass es sich um einen Geschäftsbrief handelte. Mein Kollege las ihn nicht laut vor, fasste aber zusammen:

      ›Es ist ein Angebot für eine Beförderung. Sahin, haben Sie diese Post an Ihren Kollegen absichtlich abgefangen?‹

      Bevor der Befragte Antwort geben konnte, mischte sich Ruth ein:

      ›Ich weiß, was Sie denken, Herr Kommissar! Aber Sahin hat mit der Sache nichts zu tun. Seitdem er hier eintraf, war er nie allein im Wohnzimmer, um irgendetwas in Daniels Kaffee oder Kuchen oder sonstwohin zu tun. Er war immer – wie sagt man in Ihrem Metier? – unter Aufsicht! Ebenso wie Herr Herrmann hier. Ich empfing sie alle an der Tür und geleitete sie zu Tisch.‹

      ›Wie aber kam die Schachtel hierher, wenn sie keinem gehörte?‹, höhnte Tork. ›So, wie Sie es alle darstellen, müsste sie ja ungesehen von allein unter den Wohnzimmertisch gekrochen sein.‹

      Der bisher so freundliche Kommissar wurde etwas rot im Gesicht und ich wunderte mich über seine plötzliche Grobheit. Tork musste meine Irritation bemerkt haben, denn er atmete tief durch und fuhr dann etwas ruhiger fort:

      ›Entschuldigen Sie bitte meinen Ausbruch. Mir scheint jedoch, irgendjemand hatte vor, ein kleines, naives Mädchen als Mörderin ihres Vaters darzustellen. Und das wühlt mich auf.‹

      Später lernte ich Tork etwas besser kennen und heute kann ich ihn gut verstehen. Er ist Vater zweier Jungen, die damals wohl im gleichen Alter wie Louise gewesen sein mochten. Der Gedanke, dass Erwachsene für ihre mörderischen Pläne sogar Kinder instrumentalisierten, konnte selbst ihn als Kommissaren