Bernharda May

Ein halbes Dutzend Mord


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erinnert mich an den Brief für den Verstorbenen, den Sie abgefangen haben‹, sagte er gemächlich. ›Ein Sachverhalt, für den Sie uns noch eine befriedigende Erklärung schuldig sind. Huch!‹

      Aus Daniels Sakko flog ein weißer Briefumschlag zu Boden.

      ›Den muss er samt Jackett gestern hier vergessen haben‹, vermutete ich.

      Ich glaube, das waren die ersten Worte, die ich laut aussprach, seitdem ich die Firma betreten hatte. Es war wie ein Déjà-vu: Tork nahm den Umschlag, der ebenfalls bereits geöffnet war, entnahm ihm einen Brief und wieder war es ein Geschäftsbrief. Nur war der Inhalt ein ganz anderer.

      ›Ein Bestätigungsschreiben von einer Lebensversicherung‹, sagte Tork und schaute aufs Datum. ›Daniel hat sie bereits vor zwei Jahren abgeschlossen!‹

      ›Soll das heißen, er trug all die Zeit den Brief mit sich herum?‹, fragte ich ungläubig, wartete die Antwort nicht ab und schob gleich die nächste Frage hinterher: ›Wer ist denn begünstigt?‹

      Die Auskunft überraschte mich nicht: Es war Ruth, die im Falle von Daniels Tod eine ansehnlich hohe Summe Geld erhalten sollte.«

      »Endlich, ein Motiv!«, freute sich Ronald. »Damit rückt Ruth in den Kreis der Verdächtigen!«

      »Ein Motiv hatten wir schon vorher, jedenfalls was Sahin angeht«, meinte seine Großtante. »Wenn er das Schreiben über das Beförderungsangebot abfing, dann sicherlich, weil er selbst auf den Posten scharf war, den Daniel bekommen sollte.«

      Cornelia schloss die Augen und sprach aufgeregt weiter:

      »Ich sehe es genau vor mir: Sahin neidet Daniel den Erfolg, fängt den Brief ab und meint, wenn sein Kollege sich nicht beim Vorgesetzten meldet, wird die Frist verstreichen und er, Sahin, würde den Posten kriegen. Dann fürchtet er aber, der Vorgesetzte könnte das direkte Gespräch mit Daniel suchen. Es käme heraus, dass der Brief verschwand. Die Hausbotin weiß genau, dass sie Sahin den Umschlag gab. Also muss er zu drastischeren Mitteln greifen, um seinen Konkurrenten auszuschalten: Er muss ihn töten!«

      »Ich widerspreche dir, mein Schatz«, sagte Hans-Georg, »und tippe auf die Apothekerin! Dieses Digoxin ist gewiss verschreibungspflichtig (hier nickte Judith bestätigend) und niemand anderes außer ihr konnte daran ohne Probleme rankommen. Sie bringt es heimlich ins Haus, lässt dabei die Kunden vor verschlossener Türe stehen und erfindet dann eine Art von Alibi, welches niemand nachweisen, aber auch niemand anzweifeln kann. Schlaue Dame, diese Agnes!«

      »Und ihr Motiv?«, fragte Cornelia.

      »Das Haus!«, behauptete ihr Ehemann prompt. »Sie will den Urzustand ihres alten Heims wiederherstellen. Beklagte sie sich nicht über den kleinen Garten? Hat Herr Herrmann nicht ausführlich von den beengten Verhältnissen gesprochen, in welchen sich die Apothekerfamilie wiederfand, nachdem sie die Hälfte ihres Eigentums verkaufen musste? Möglicherweise hatte sie genug angespart, um es zurückzukaufen, aber eine junge, aufblühende Familie würde die eigenen vier Wände nicht aufgeben. Eine alleinerziehende Mutter dagegen vielleicht schon..?«

      »Ich halte diese Agnes nicht für schuldig«, bekundete Kay. »Wir dürfen nicht vergessen, dass der Täter oder die Täterin die ganze Angelegenheit mit der Website in die Wege geleitet haben muss. Wer käme da besser in Frage als die Frau eines IT-Spezialisten? Sicherlich hat sie ihren Daniel ab und an im Büro besucht. Wenn er sie nur ein paar Mal dort allein ließ, war es ihr möglich, von einem der PCs aus das leidige Rezept ins Internet zu stellen. Und ihre Kenntnisse hätten bestimmt auch ausgereicht, das Netbook ihrer Tochter wunschgemäß zu manipulieren.«

      »Vielleicht waren es sogar Ruth und Sahin gemeinsam«, meinte Cornelia. »Was, wenn sie ein heimliches Liebespaar gewesen sind? Dann wären Beförderung und Lebensversicherung quasi der Bonus zu dem geglückten Mord gewesen!«

      Kay fand Gefallen an der Idee und stimmte seiner Gastgeberin zu. Cornelia freute sich zwar über die Verstärkung, registrierte aber innerlich, dass sie Kay trotzdem keinen Deut besser leiden konnte. Unterdessen schmunzelte Ronald:

      »Wir haben jetzt allerhand Theorien aufgestellt, die Sie und Ihren Kollegen Tork vermutlich auch beschäftigt haben, Herr Herrmann. Nun will ich meine Ansicht auch noch in den Ring werfen. Wie wäre es mit Louise?«

      »Louise?«

      »Das Kind?«

      »So ein kleines Mädchen?«

      Die Stimmen der Gäste gerieten durcheinander. Wilma und Bert Voigt schauten sich entgeistert an. Auf was für schauerliche Einfälle die jungen Leute heutzutage kamen! Kinder als Mörder!

      »So abwegig ist das nicht«, verteidigte sich Ronald. »Immer wieder lesen wir von der Verrohung der Gesellschaft. Und genauso oft lesen wir von überbehüteten Kindern, von hochbegabten Schülern und so weiter. Wenn das alles mal zusammenkommt, kann ich mir gut vorstellen, dass Louise schlau genug wäre – auch in ihrem Alter – all die Fäden zu spinnen, die zuerst auf sie deuten und dann am Ende doch alle wieder von ihr wegweisen. Kinder kommen mit Informatik oft viel besser und schneller klar, weil sie mit all den digitalen Geräten aufwachsen. Sie wissen auch genau, wann sie den dummen Naivling spielen müssen, damit Erwachsene sie in Ruhe lassen. Und nicht selten empfinden sie unverhältnismäßigen Ärger über ihre Eltern, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es wünschen. Da braucht Daniel ihr gegenüber nur irgendwann einmal ein Versprechen gebrochen oder sie ausgeschimpft zu haben und sie beginnt aus Wut und verletzter Eitelkeit darüber zu brüten, wie sie sich rächen könne.«

      Ronald hielt inne. Beinahe von allen Zuhörern um ihn herum erntete er missbilligende Blicke.

      »Vergesst nicht, dass jeder an dem Kaffeetisch als verdächtig gelten musste«, fügte er noch hinzu, aber vergeblich.

      Einzig der ehemalige Kriminaldirektor schaute ihn verständnisvoll an.

      »Ihre Theorie ist an und für sich nicht unmöglich, wenngleich unwahrscheinlich«, gab er zu. »Es gibt mitunter Kinder, die bereits eine sehr starke kriminelle Veranlagung zeigen. Ich kann Ihnen an dieser Stelle nichts anderes entgegenhalten als meinen Eindruck, dass Louise nicht zu diesen Kindern gehörte.«

      »Dann will ich ihnen glauben«, räumte Ronald ein, »und meine These zurückziehen. Sie kennen ja das Mädchen und ich nicht. Und Sie kennen auch die Lösung des Falles.«

      »Das wohl, aber all Ihre Theorien gefallen mir außerordentlich gut. Leider stimmen sie nicht.«

      »Heißt das, der Täter war gar keiner aus der Kaffeerunde?«, fragte Judith verwundert. »Wir haben doch zu jedem etwas gesagt!«

      »Oh doch, mit dieser Behauptung behält Ronald recht«, versicherte Herrmann. »Einer von uns Sechsen war es. Streng genommen galt auch ich nach wie vor als Verdächtiger, ehe Tork den Fall auflösen konnte.«

      »Schade, dass es nur sechs und nicht insgesamt dreizehn Leute waren«, lächelte Kay süffisant, »das hätte so einen dramatischen Effekt gehabt. Dreizehn bei Tisch! Die Dreizehn als Unglückszahl…«

      Er schien nicht zu merken, dass keiner auf seine Zwischenkommentare einging.

      »Ich denke, die Apothekerin war es«, meldete sich Wilma zu Wort. »Herr Herrmann gibt uns nur nicht recht, weil das Motiv nicht stimmt. Mit ihrem Haus hat der Anschlag nichts zu tun. Sie war vielleicht eifersüchtig? Eine alte Jungfer wie sie und ein so schmucker Nachbar wie der Daniel – da kamen vielleicht Gefühle auf und weil die nicht erwidert wurden, machte sie mit dem Mann ihrer Träume kurzen Prozess.«

      Bert sagte nichts, aber sein Gesichtsausdruck verriet, dass er die Ausführungen seiner Schwester nachvollziehbar und schlüssig fand. Der Kriminaldirektor aber schüttelte den Kopf.

      »Sie vergessen allesamt den Fakt, dass die Lebensversicherung schon zwei Jahre alt war. Und den Faden an der Tablettenschachtel vergessen Sie ebenfalls. Und die Sachertorte. Und die interne Postbotin. Und das Jackett, ach, das hätte mir damals gleich auffallen müssen!«

      Man merkte, dass Herrmann sich aus zweierlei Gründen grämte. Zum einen, weil seine Zuhörer nicht mit der Logik eines