Edith Seo

Triaden-Liebchen


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ich musste ihr wohl oder übel vertrauen. Es war zu spät. Ein zurück gab es nicht. Ich bekam Schüttelfrost, aber man deutete dies Gottseidank nicht als Geständnis. Die alte Staatsanwältin lächelte wohlwollend.

      „Sie sind noch jung.“ sagte sie, „da ist es nicht so leicht, das zu verarbeiten. Aber sie haben alles richtig gemacht.“

      Nach und nach wurde mir klar, dass sie eine Triaden-Jägerin war und dass ein Boss weniger immer positiv zu werten war. Wenn sie, die Staatsanwältin, Glück hatte, würde es zu einem Bandenkrieg kommen und das wäre ein triumphaler Abschluss ihrer Laufbahn.

      Ich war erleichtert. Dann musste sie telefonieren. Sie verließ dafür nicht den Raum, sodass Tingting mithören konnte, was sie sagte. Tingting wurde blaß, dann rot, dann violett und wieder zurück.

      „Was ist?“ fragte ich sie, aber sie antwortete gar nicht. Ich zitterte. Hatte ich mich getäuscht?

      Würden sie mich verhaften? Einkerkern? Hängen?

      War die Staatsanwältin gar selbst eine Mafiosa und sie würden uns gleich alle umbringen? War das eine Masche? Alle möglichen Gräuel malte ich mir aus. Ich übergab mich. Es kam nur etwas Schleim und Galle. Claudio wich angeekelt zurück. Wir hatten uns noch gar nicht vorgestellt. Das war ein guter Einstieg, dachte ich sarkastisch. Da weiß er gleich, mit wem er es zu tun hat. Langsam schlich sich das alte Gefühl Tingting gegenüber zurück. Neid. Ich beneidete sie um Claudio. Als Eifersucht konnte man es kaum bezeichnen, denn wir kannten uns ja gar nicht, aber schon jetzt wusste ich, dass ich ihn wollte. Weil er ihr gehörte. Ganz einfach nur deshalb.

      Ist doch egal, wenn sie uns umbringen, dann sterben wir wenigstens alle zusammen. Die Staatsanwältin schaute mitleidig. Tingting schrie sie an, überschlug sich wieder.

      Mich ließ man lange im Ungewissen.

      Claudio mischte sich ein. Auf ihn reagierte auch keiner.

      Irgendwann packte die Staatsanwältin Tingting an den Schultern und brachte sie wieder zum Sitzen. Claudio und ich sahen sie erwartungsvoll an.

      „ Wir müssen raus aus China.“ Sagte Tingting. „Für immer.“ Dann brach sie in Tränen aus. Für immer raus aus Shanghai? War das hier eine Art Zeugenschutzprogramm? Was sollte das überhaupt? Ich verstand nicht richtig.

      „Ich bin hier geboren.“ Schluchzte Tingting. „Dort in Puxi. Und jetzt…“ ihre Stimme versagte.

      Die Staatsanwältin ging zur Tür, öffnete. Zwei weitere Männer traten ein. Sie trugen seidene Anzüge und Ray Ban- Brillen. Sie sahen aus wie die Unterwelt in personae. Sie würden sich um alles kümmern, sagte die Staatsanwältin. Claudio stand auf, die Staatsanwältin klopfte ihm auf die Schulter und ging. Hinter ihr die Polizisten, ähnlich wie bei der Chefarztvisite.

      Ich sah, wie die Leiche jetzt durch den Flur abtransportiert wurde.

      Tingting weinte immer noch. Ich legte meinen Arm um sie. Claudio stand hilflos rum. Dann sprachen die beiden Bebrillten in ausgezeichnetem Englisch mit uns.

      Wir müssten umgehend das Land verlassen. Unser Leben sei in Gefahr. Jemand sei bereits auf dem Weg zu Tingtings Wohnung und würde auf ihre Anweisung alles notwendige packen. Dabei reichte der Kleinere der beiden Tingting sein I-Phone. Tingting zog lautstark die Nase hoch. Das nervte mich. In China ziehen sie immer die Nase hoch, anstatt sie zu schnäuzen.

      Sie begann kleinlaut mit der Person am anderen Ende zu reden. Der Größere der Beiden sprach jetzt mit mir und Claudio. Wir seien Ausländer, gleichwohl könnten wir nicht einfach in unsere Heimat zurückkehren. Wir seien in Lebensgefahr.

      Claudio sagte, er sei gar nicht dabei gewesen und überhaupt. Der andere ließ sich nicht irritieren. Wir würden unsere Heimat nie wiedersehen. Es musste sein. Wir drei könnten zusammenbleiben, das sei alles, was er für uns tun könne. Man würde uns zu einem fernen Ort ausfliegen und wir bekämen eine neue Identität.

      Mir entwich ein affektiertes Lachen. Das war so klischeehaft. Mafia. Zeugenschutzprogramm. Ausreise ohne Rückkehr. Sowas sah man in Agentenfilmen. Sowas passierte nicht im echten Leben. So ein Schwachsinn. Sollten sie mich doch irgendwo hin verschleppen. Ich würde schon wieder nach hause finden. Ich hatte auch von Nizza aus wieder nach Hause gefunden. Heute war alles vernetzt, ich sprach spanisch und französisch, man konnte mich fast überall in der Welt aussetzen, ich würde heim finden.

      Wieder läutete es an der Tür. Der Kleinere ging hin und kam mit Jiaozi, chinesischen Maultaschen, zhu shui yu, scharf eingelegtem Sezuanfisch und Reisnudeln zurück. Wir sollten etwas essen. Essen war immer wichtig in China. Beim Essen knüpft man Freundschaften, löst Probleme und beruhigt den Geist. Wann immer man jemandem begegnet, kommt nach der Grußformel zuerst die Frage „Ni chi le ma?“ „Hast du schon gegessen?“ Ich dachte an diese banalen Sätze, die mir das Gefühl gegeben hatten, es ganz weit gebracht zu haben. Viele tausend Kilometer von der Heimat entfernt zu sein und etwas neues zu erfahren. Jetzt sollte ich diese Welt schon wieder verlassen und, was am schlimmsten war, mit Tingting und deren Geliebtem, an einen unbekannten Ort verbracht werden, wo ich wieder niemanden kannte, wo ich das fünfte Rad am Wagen wäre. Gedankenverloren schlürfte ich meine Nudeln. Es war alles sehr fettig, aber mir war nicht mehr schlecht. Wir tranken Reiswein und Jasmintee dazu und es half wirklich, sich ein bisschen zu entspannen. Nach dem Essen warteten wir noch eine Weile. Die beiden Männer telefonierten ab und zu und da ich nichts verstand, kamen mir immer wieder Zweifel, ob hier alles mit rechten Dingen zuging, ob man uns wirklich außer Landes fliegen würde, ob das hier nicht eine Falle war.

      Ich hätte weg laufen können, aber was hätte das gebracht. Ich sprach die Sprache nicht, ich war in Shanghai immer nur hinter Tingting hergelaufen und mit ihr in Taxen ein- und ausgestiegen und flupp, waren wir am nächsten Ort. Ich würde ewig brauchen, um mich zu orientieren. Sie wären auf jeden Fall schneller als ich.

      Also saß ich wie ein Kaninchen vor der Schlange. Irgendwann, nachdem er ein Telefonat beendet hatte, sagte der Große:

      „Es geht los.“ Wir gingen zum Aufzug und fuhren ganz nach oben. Auf dem Dach stiegen wir aus. Ich schwankte. So hohe Gebäude pendeln immer ein bisschen. Das ist das Geheimnis der Statik. Wenn sie ganz fest wären, würden sie ja zusammenbrechen. Wir standen also auf dem Dach und sahen unter uns die hellerleuchtete Shanghaier Nacht. Die Skyline am Bund wurde verschluckt vom gesamten Lichtermeer der Stadt. Soweit das Auge reichte, sah man erleuchtete Fensterfronten.

      Aus der Dunkelheit flog etwas auf uns zu. In ca. zwanzig Meter Entfernung landete der Hubschrauber. Geduckt liefen wir hin und die Agenten halfen uns hinein. Vorne sass ein weiterer Mann, er war älter und wirkte besonnen. Sie wechselten ein paar Worte und der Alte gab das Zeichen zum Start. Wir schaukelten los. Mein Magen war immer noch empfindlich, aber in der Aufregung vergaß ich das.

      Unter mir schwamm Shanghai. Tingting biss an ihren Fingernägeln und starrte willenlos aus dem Fenster. Claudio beachtete sie nicht. Mir kam inmitten all dieser surrealen Aufregung ein Gedanke. Shanghai war Tingtings Heimat. Hier kannte sie die Regeln, sprach sie die Sprache, war sie wer. Der exotische Ausländer, Claudio, war interessant und aufregend. Wenn wir aber nun woanders hin kamen, war Tingting allein in der Fremde mit einer Deutschen und einem Sizilianer. Unser Exotenbonus würde verblassen, sie würde an Heimweh leiden. Ich ahnte, dass sowohl Claudio als auch ich ihr nun einen Schritt voraus wären. Wir waren beide in Shanghai gewesen, wir hatten unsere Heimat verlassen zugunsten des Abenteuers. Tingting war nur aus der Not, ihrem ersten Mord, heraus nach Europa gekommen. Sie mochte französische Mode und französisches Mineralwasser. Ansonsten war ihr Interesse nicht besonders tief gehend.

      Wir flogen zum Hongqiao International Airport, der der Stadt am nächsten lag und stiegen auf dem Flugfeld in einen Learjet um. Claudio, dem die ganze Angelegenheit am wenigsten an die Nieren zu gehen schien, war beeindruckt. Er war Hobbypilot, wie ich erfuhr. Beim Start sah Tingting schweigend und weinend aus dem Fenster, während Claudio mir von dem Modell vorschwärmte. Der Learjet 85, in dem wir hier saßen, sei nigelnagelneu. Er habe eine Reichweite von über 5000 km und könne 900 km/h schnell fliegen. Ich lauschte ihm gespannt, weniger, weil ich mich für die Daten interessierte, als vielmehr, um einen ersten Kontakt herzustellen. Als wir die Reiseflughöhe erreicht