Stefan Grau

Herzerwachen - Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen!


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Minute durchströmen sollten, wahrscheinlich in diesen Sekunden nur ein Milliliter vorhanden gewesen. Die restlichen stauten sich förmlich in meinen Muskeln. Adrenalin. Ich hasse Adrenalin! Das Zeug macht einen ganz kirre!

      Mein Handy befand sich nicht mehr in meiner Hand. Ich vermochte, wieder vernünftig zu sehen, obwohl noch immer ein paar hartnäckige Sterne vor meinen Augen umherhüpften. Nicht wissend, was ich überhaupt tat, schmiss ich meinen Arm um den vermutlichen, noch immer vor mir stehenden Dieb und lud ihn so in meinen Schwitzkasten ein. Seitlich von mir bildete sich ein Halbkreis der anderen Anwesenden und beförderte mich so in einen Hundertachtzig-Grad-Stellungskrieg.

      »Gebt mir mein Handy wieder oder ich bring ihn um!«, schrie ich total hysterisch und hob dabei meine Bierflasche an, welche sich noch immer in meiner linken Hand befand.

      »Hilfe Jungs!«, versuchte ich meine Freunde zu alarmieren. Allerdings war meine Stimme so piepsig, dass noch nicht mal ein Hund in fünf Metern Entfernung diese wahrgenommen hätte. Scheiß Adrenalin.

      »Stell die Flasche weg und wir stecken die hier auch weg!«, sagte einer der Umzingelnden mit russischem Akzent. Es war mir gar nicht aufgefallen, dass drei Messerspitzen auf mich gerichtet waren. Das sieht scheiße für dich aus!, dachte ich mir. Mit Russen spaßt man nicht, die stechen dich ab.

      Mein Adrenalinausstoß war so hoch, dass meine Beine wie Presslufthammer anfingen zu vibrieren. Die tektonisch, eurasische Kontinentalplatte empfand meine Fußmassage wahrscheinlich als Anreiz, ein Erdbeben achter Magnitude am Zipfel des italienischen Stiefels freizulassen. Hätte meine imaginäre Tochter dort gewohnt, hätte sie das Haus verlassen dürfen.

      Des Weiteren blockierte das unerwünschte Hormon meine Denkvorgänge, welche ohnehin schon mager meinen Kopf durchströmten. Ich versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen und die Ausgangsmöglichkeiten dieser Situation durchzuspielen.

       Die »Geh-ins-Gefängnis-Karte«-Möglichkeit

      Ich schlage kreisförmig mit meiner Bierflasche um mich. Den Ersten im Halbkreis erwischt es am Kopf, die Flasche zersplittert und er geht zu Boden. Mit der spitzen, bodenlosen Flasche treffe ich die restlichen sieben Pitbulls auf Augenhöhe. Alle blind. Polizei kommt, ich werde festgenommen. Auf Grundlage der deutschen Rechtslage und dem überwiegenden, mich belastenden Beweismaterial durch die augenlosen Opfer komme ich auf unbestimmte Zeit ins Gefängnis.

       Die »Lauf-Forrest-Lauf«-Möglichkeit

      Ich hab fünf Monate im American-Football-Team gespielt. Nicht sehr lange, allerdings sollte ich von meinem Wide-Receiver-Trainingseinheiten noch ein paar Ausweichmanöver auf die Kette bekommen. Ich sprinte los, weiche den Messerattacken mit einer gekonnten Dreihundertsechzig-Grad-Drehung aus, flitze wie der Wind und finde mich in der Obhut meines Freundeskreises wieder. Allerdings würde ich dann bedingungslos auf mein Handy verzichten.

       Die »Nahtoderfahrungs«-Möglichkeit

      Ich schlage kreisförmig mit meiner Bierflasche um mich. Den Ersten treffe ich nicht, die Restlichen auch nicht. Aggressiv stürzt sich die Bande auf mich. Diverse Messerstiche bringen mich zu Boden. Ich wache im Krankenhaus auf, lebensnotwendige Organe wurden schwer beschädigt, aber ich komme durch. Trotzdem werde ich mein Leben lang Folgen davontragen. Die Täter werden wahrscheinlich nicht gefasst. Kein Schmerzensgeld.

       Die »Glimpflich-davongekommen«-Möglichkeit

      Ich gebe ihnen meine Bierflasche, die Messer verschwinden vielleicht und es kommt zu einem Faustkampf. Ich rufe meine Freunde nochmals zu Hilfe …

      Ich entschied mich für die letzte Möglichkeit. Auch aus dem Grunde, da ich die anderen Alternativen schon wieder vergessen hatte.

      Eins musste man der Truppe vor mir lassen, sie hielten ihr Wort. Ich reichte einem der Messerhalter meine leere Bierflasche, er stellte sie auf den Boden und die Messer verschwanden in den Hosentaschen der Eigentümer.

      Blitzschnell befand ich mich wieder mit Warp-geschwindigkeit im Universum. Die Fäuste donnerten nur so auf mich ein.

      Ich merkte, wie mein Schwitzkasten sich lockerte und der Gefangene mir entglitt. So hatte ich zumindest eine weitere Hand zur Verteidigung. Steigerung der Kampfkraft um hundert Prozent, würde ich mal sagen!, freute sich ein Gedanke. Ein sehr kleiner Freudentanz, denn die Situation hatte sich kein Stück verbessert. Wenn man schon drei Schläge im Kopfbereich einstecken musste, ist es schwer, überhaupt die Deckung noch aufrecht zu erhalten. Mein Vater meinte damals zu mir, es wäre ihm in Prügeleien egal, ob er draufginge, aber einen würde er mitnehmen.

      Etwas übertrieben, aber die Richtung stimmte. Scheiß auf Deckung, jetzt kommen die Nuklear-Fäuste!, sammelte ich mir Mut für meinen bevorstehenden Angriff an. Wenn man einen ausknockt, am besten den Anführer, kriegen die anderen Schiss oder werden noch aggressiver. Fünfzig/Fünfzig-Chance.

      Der in der Mitte des Halbkreises präsentierte sich förmlich als Zielscheibe. Den nehm wa!, bereiteten meine Gedanken meine Brust-, Schulter- und Trizeps-Muskulatur vor.

      Ich holte Schwung und warf alles nach vorne, was ich an Kraftreserven übrig hatte.

      Die Zielscheibe bewegte sich, damit hatte ich nicht gerechnet! Eine Dreißig-Grad-Neigung seines Kopfes ließ meine Faust an ihm vorbeizischen. Ich schwöre, ich habe sein Ohrläppchen getroffen. Half trotzdem nichts.

      Meine Freunde hatten den Tumult anscheinend mitbekommen. Sie kamen gerade angerannt, als der letzte Schlag des Abends meine Schulter streifte.

      »Vollidiot, kannst noch nicht mal deine Schläge platzieren!«, lachte ich leise vor mich hin. Dabei war ich im Wesentlichen nicht gerade treffsicherer. Zu meiner Verteidigung, ich hatte ja auch diverse Discokugelreflexionen vor meinen Augen.

      Beim Anblick meiner auf sie zustürmenden Verbündeten flohen die Küchenutensilien-Besitzer in den nah gelegenen Wald. Alle bis auf einer. Er hatte auch nicht auf mich eingeschlagen. Er wollte mit dem Vorgefallenen nichts zu tun haben und sagte mir, dass er kooperationswillig war, die Beteiligten beim Namen zu nennen, sie zu verpfeifen.

      Ich rief die Polizei. Kurze Zeit später fuhr eine Streife am Parkplatz vorbei und machte sofort wieder kehrt.

      »Wollen die mich verarschen? Warum kommen die denn nicht rüber, ich hab denen doch gesagt, wo wir sind!«, ärgerte ich mich mal wieder über die Freunde und Helfer. Beim zweiten Anruf baten sie mich dann, ich solle vorne an der Straße auf sie warten. Also lief ich beim nächsten Erscheinen eines Polizeiautos diesem entgegen.

      »Haben Sie die Polizei gerufen?«, fragte mich einer der aussteigenden Polizisten.

      »Guten Abend, ja, das habe ich! Ich habe da vorne …«

      »Nächstes Mal bitte sofort an einem zugänglichen Ort stehen, wo wir Sie sehen können!«, unterbrach mich der Polizist.

      »Tut mir leid, nur mir wurde gerade mein Handy geraubt und ich konnte einen da vorne dingfest machen. Deshalb dachte ich, Sie würden zur Befragung zu uns rüberfahren!« Ich kochte innerlich. Die Schranke des Parkplatzes war oben, man hätte in sieben Sekunden den Parkplatz mit dem Auto überqueren können. Sind die mittlerweile so faul? Oder wurden ihnen die Mittel für Sprit gekürzt?

      »Sie wissen schon, dass Sie sich hier unbefugt aufhalten?«

      Gedanklich stand mir die Kinnlade offen. Die wollten mir doch nicht nach den Geschehnissen einen Vortrag halten oder mir einen mündlichen Platzverweis erteilen.

      Ich wusste nicht, was ich auf diese Frage antworten sollte. Vorschriften hin und her, ein wenig entgegenkommender kann man ja wohl sein.

      »Wir nehmen Ihre Daten auf, wenn Sie Anzeige erstatten wollen, können Sie das bei uns tun!«

      »Ja, aber ich habe da vorne einen Zeugen!«, argumentierte ich hilflos.

      Die Polizisten nahmen dies gar nicht zur Kenntnis und stiegen wieder in ihren Streifenwagen.

      Und dann waren sie auf einmal weg. Ich war perplex. Nackt in einer Gummizelle ohne Erinnerungen aufzuwachen,