Rita Renate Schönig

Beschuldigt


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sich ein Grinsen nicht verbeißen. Seit sie ihre kurze Eifersüchtelei auf die aus Chile zurückgekehrte Britschitt, wie Schorsch Brigitte Diaz geborene Zimmermann nannte, überwunden hatte, kamen die drei gut miteinander zurecht.

      Bis vor wenigen Monaten war Sepp noch mit von der Partie. Wenn auch nicht mehr so flott zu Fuß, brachte er durch seine abenteuerlichen Marotten und Einfälle immer wieder Leben in die Truppe. Gundel erinnerte sich noch gut an einige Episoden.

      Weil die Festnetzstation auf den Boden gefallen und zerbrochen war, hatte Sepp versucht, das Gehäuse mit Sekundenkleber zu verbinden. Daraufhin mussten die Sanitäter seine Finger, die an der Station klebten, mit einem Spezialmittel lösen. Dann die Sache mit dem vermeintlich toten Kaninchen seines Enkelsohns Leon, dass durch einen identisch aussehenden Hasen ersetzt werden sollte. Stunden später stellte sich heraus, dass das Karnickel nur eine Schnapsleiche war, wegen der ausgelaufenen Flasche Korn, die Sepp im Hasenstall vor seiner Tochter Elfi versteckt hatte. Dass es sich bei dem alkoholisierten Langohr um eine Häsin handelte, die mit dem neu hinzugekommenen Rammler gleich mal eine Familie gegründet hatte, darüber war nur Leon begeistert – dessen Eltern weniger.

      Sepps Einfall im letzten Jahr setzte allem aber die Krone auf. Er fotografierte, was ihm vor die Linse kam, und die Aufnahmen landeten letztlich im weltweiten Netz, freilich mithilfe der Körner-Jungs aus der Nachbarschaft. Doch damit ging er eindeutig zu weit. Zumal Gundel bei einem seiner Schnappschüsse die Hauptrolle spielte und dazu in einer keinesfalls vorzeigbaren Situation. Auch wenn die Aufzeichnung von Felix und David Körner wieder aus dem Internet herausgenommen wurden, war das Verhältnis zwischen ihr und Sepp etwas angekratzt – bis vor einigen Wochen.

      Er stürzte auf der Treppe im Hauseingang und konnte das Bett nur noch selten verlassen. Seit dieser Zeit saß Gundel oft bei ihm.

      Wenn isch mol werklisch net mehr waas, was do owe bei mir vorgeht – sagte er und zeigte auf seinen Kopf, der mit einem weißen Verband umwickelt war – musst de mir verspreche, dass de mir e ganz besonders Plätzje backst, domit des schnell vorbei is.

      Zuerst machte Gundel große Augen, nickte dann aber zögerlich. Oft hatte sie ihre Spezialplätzchen mit den geheimen Zutaten gebacken und sich diese zusammen mit Sepp und Schorsch bei einer Tasse Tee schmecken lassen. Und ja – einmal hatte sie sich in der Dosis vertan. Die Folge war, dass sie alle ausgelassen in Sepps Garten tanzten und sangen, hatten aber die Orgie, wie Herbert es genannt hatte, ohne Schaden überlebt. Die Cannabispflanzen nicht. Er entsorgte sie noch am gleichen Tag. Jedoch war der Nachschub durch Gundels Freundin aus den Niederlanden gesichert, jetzt sogar in mundgerechter Form. Und die hohen Stromkosten, die das Aufziehen der Pflanzen erforderlich machten, fielen ebenfalls weg.

      Es war schon besser so – besonders für Sepp, sprach Gundel sich selbst Mut zu und wischte die Tränen, die über ihre Wangen kullerten, hurtig weg. Innerhalb von vierzehn Tagen schloss er für immer seine Augen. Elfi hatte gesagt: Mit einem Lächeln im Gesicht. Ob das stimmte ...? Auf jeden Fall half es und Gundel war heilfroh, dass sie ihr Versprechen nicht einlösen musste.

      „Warum ist der Lehrer verschwunden?“, wollte Brigitte wissen und holte sie damit in die Gegenwart zurück.

      „Ach, des war e ganz komisch Geschicht“, erwiderte Schorsch. „Do war so a Mädsche, die hot ihrn Lehrer …“

      „Ihr kommt doch noch mit zum Kaffee?“, wurde er von Elfi unterbrochen. Sie, ihr Mann und Leon – Sepps Lieblingsenkel – sowie dessen Eltern hatten die Gruppe mittlerweile eingeholt.

      „Ich habe einen Schokoladenkuchen gebacken“, sagte Bettina. „Den hat Sepp immer so gerne gemocht.“

      Spontan fuhr Schorsch genüsslich mit der Zunge über seine Lippen. Gleichzeitig blickte er zum Himmel hoch. „Mer esse e Stick fer disch mit Sepp und denke debei an disch.“

       Herbert drehte seinen Kopf zur Seite und wischte eine kleine Träne aus den Augenwinkeln. Nicht nur wegen des emotionalen Moments glänzten jetzt auch Schweißperlen auf seiner Stirn. Von einem nur mit wenigen Wölkchen besiedelten, fast strahlendblauen Himmel schien die Herbstsonne und überschritt nochmals die 18 Grad-Marke. Er schwitzte gewaltig in seinem schwarzen Anzug und war froh, das Jackett bald ausziehen zu können – wenn er denn durfte. Ein Seitenblick zu Helene, die sich ebenfalls mit einem Taschentuch über die Stirn wischte, erfüllte ihn mit Hoffnung. Offenbar war ihr in dem dunkelblauen Kleid mit den weißen Pünktchen, das ihr wunderbar stand, wohl auch zu warm.

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      Beim Klang der Kirchenglocke schreckte Frank zusammen. Reflexartig zuckte seine Hand nach rechts, wo er sein Akkordeon abgestellt hatte, und atmete erleichtert auf. Das Instrument lag neben ihm. Er musste wohl auf der >Bambelbank<, wie eine angebrachte Plakette die erhöhte Sitzgelegenheit bezeichnete, eingeschlafen sein. Vor einigen Stunden hatte er sich der auf den ersten Blick unbequem aussehenden Bank nahe dem Spielplatz genähert. Schnell stellte er aber fest, dass es sich gut darauf sitzen ließ, obwohl oder gerade, weil die Füße den Boden nicht erreichten und deshalb baumelten. Die anhaltenden Schläge der Kirchenglocke verkündeten, es war 6 Uhr abends und er brauchte eine Unterkunft für die Nacht – und dringend eine Dusche.

      Noch immer schien die Sonne aus einem fast wolkenlosen Himmel mit schätzungsweise um 20 Grad Temperatur. Aber laut Wetterbericht würde es schon bald abkühlen und für die nächsten Tage war Regen angesagt. Frank besann sich des Schildes im Fenster eines Fachwerkhauses in der Altstadt, das Ferienzimmer anbot. Sollte er da sein Glück versuchen, oder doch lieber die unpersönliche Umgebung eines Hotels bevorzugen? Mit Sicherheit würde man dort weniger Fragen bezüglich seines Aufenthaltes stellen – wenn überhaupt. Aber was machte es schon? Er brauchte ja nicht zu antworten. Dennoch entschied er sich für die Ferienwohnung; schließlich wollte er den Rest seines Lebens in dieser Stadt verbringen. Da wäre eine kleine Wohnung besser als ein 12-Quadratmeter-Hotelzimmer.

      Als er den Platz vor der Schule überquerte, fiel ihm ein Mädchen mit einem roten Kapuzenshirt auf, das sich am >Mainbau<, dem 1905 südöstlich zum Main hin angebauten Trakt, herumtrieb und kurz darauf verschwunden war. Neugierig ging er in die Richtung. Doch von der Jugendlichen fehlte jede Spur. Auch in dem Höfchen neben dem Gebäude, dessen Eisentür mit einem Vorhängeschloss gesichert war, konnte er niemanden entdecken.

      Schon zu seiner Zeit an der Schule hatte die Absperrung den Zweck, dass sich kein Kind, während der Pausen dort aufhalten sollte und somit der Aufsicht des Lehrpersonals entging. Dennoch war es, vor allem für die älteren Jahrgänge eine Verlockung gewesen, auf der Brüstung balancierend das Gittertürchen zu umgehen, um in den Hofbereich dahinter zu klettern. Mittlerweile hatte man, wie Frank feststellte, auf der Mauer ein nach innen gebogenes Eisengeländer angebracht, das den Zugang aber nicht wirklich unmöglich machte.

      Jetzt hörte er leise gemurmelte Wortfetzen, die aus dem Gebäude zu ihm drangen. War die Schule doch nicht so verlassen, wie es ihm erzählt worden war? Wurden einzelne Räume vielleicht noch immer genutzt? Vermutlich. Was sonst sollten die Teenies außerhalb der normalen Schulstunden dort zu suchen haben? Frank drehte am Türknauf. Ohne ein Geräusch zu verursachen, ließ sich die Tür öffnen. Einen Moment stand er still und lauschte. Nichts! Sein Akkordeon legte er in die Ecke neben dem Eingang und sah durch das Treppenhaus nach oben. Dann setzte er seinen Fuß auf die erste Stufe. Noch immer der gleiche PVC-Belag wie damals. Langsam ging er weiter. Dabei glitten seine Hände auf dem hölzernen Handlauf entlang, der über dem schmiedeeisernen Geländer angebracht war. Die Erinnerungen flammten auf wie heiße Feuerzungen. Er meinte das helle Lachen und das Geschrei der Kinder zu hören und vernahm sogar die schrägen Töne von Flöten sowie eines Bogens, der die Darmsaiten des Geigenkorpus malträtierte. Dann das Aufschlagen des Stocks auf dem Lehrertisch, der eine Unterbrechung und einen Neustart forderte.

      Ohne Übergang mischten sich Schüsse, krachendes Getöse und Zischen zwischen die musischen Klänge. Es hörte sich wie eines dieser merkwürdigen Ballerspiele an, die Jugendliche oftmals bevorzugen, um sich in eine Parallelwelt zu flüchten. Ja, natürlich – die Teenies! Er selbst