Jan Nadelbaum

Kurzgeschichtensammlung II


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blieb mir das bisher erspart‘, lachte Martin innerlich und geriet allein von ihrem Anblick ins Schwitzen.

      „Was lesen Sie denn“, setzte sie wieder an.

      Martin hielt ihr das Buch hin.

      „O, Remarque. Nettes Buch. Trauriges Ende. Die Freundin stirbt.“

      „Das habe ich mir schon gedacht, wollte es aber selbst lesen…“, seufzte Martin, sich über die ungewöhnlich tiefe Stimme wundernd.

      „Na, wenn Sie sich das ohnehin längst gedacht haben“, grinste sie und wippte mit ihrer Handtasche.

      Martins Augen sanken zurück ins Buch. Ehe er den nächsten Satz abgeschlossen hatte, startete sie die nächste Attacke: „Früher bin ich mit meinen Freunden immer am Fluss gewesen. Ja, Sie werden es kaum glauben, aber ich war mal jung.“

      Sie lachte ein tiefes, rauchiges, Martin verstörendes Lachen.

      „Doch, glaub ich Ihnen“, grummelte er verbissen.

      „Stockfisch!“

      „Was“, er schlug entsetzt das Buch zu.

      „Gehen Sie nicht mir Ihren Freunden hin und wieder zum Fluss? Oder Ihrer Freundin?“

      Sie stupste ihn munter mit dem Ellenbogen in die Seite und lächelte dabei übers ganze Gesicht.

      „Schön auf der Wiese liegen, gedankenversunken, das Leben genießen… Machen Sie nicht manchmal?“

      „Nein“, antwortete Martin und begann im Buch zu blättern, um die Seite wiederzufinden.

      „Na, jetzt lassen Sie das Buch doch mal zu! Die stirbt doch eh! In der Klinik! In den Bergen! Geht alles den Bach runter! War vor fuffzig Jahren schon so und wird sich jetzt nicht geändert haben.“

      Martin glotzte sie an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Die Kirchturmuhr wies kurz vor halb vier. Über eine halbe Stunde müsste er diese Unperson ertragen, wenn er sich keinen anderen Platz suchen würde.

      „Und? Woran liegt’s?“

      „Ich wüsste nicht, mit wem ich hier liegen sollte. Es reizt mich ehrlich gesagt auch nicht. Ich sitze lieber auf der Bank“, bekannte er.

      „Keine Freunde?“

      Martin überlegte. Was wollte sie von ihm?

      „Nicht hier.“

      „Wo dann?“

      „Woanders.“

      „Wo liegt das denn“, kicherte sie.

      Sein Blick verfinsterte sich ein wenig. Die Alte wollte ihn anscheinend auf den Arm nehmen.

      „Entschuldigung, der war blöd“, brach sie in ein Gelächter aus, das noch lauter und klappriger klang als dasjenige zuvor, ein bisschen wie früher die Blechmülltonnen auf dem Schulhof. Dabei bebte ihr ganzer Körper und wieder knuffte sie ihn in die Seite. Martin musste ebenfalls lachen. Die Situation war einfach zu komisch.

      „Früher bin ich mit meinem Großvater oft hierher“, berichtete sie und wies flussaufwärts, wo der Hauptlauf mit einem Seitenarm eine kleine Halbinsel bildete. Dort stand das Wasser, bewegte sich bloß, wenn die Wellen eines Schiffes in den Seitenarm schwappten.

      „Einmal erzählte er mir von den Flussnymphen. Sie leben im Fluss und kommen zum Schlafen in den Flussarm, weil es da ruhiger ist.“

      „Und was haben die im Fluss zu suchen“, erkundigte sich Martin, der die Alte ziemlich abstrus fand. Er hatte sich allerdings zwischenzeitlich damit abgefunden, dass das mit dem Lesen ohnehin nicht mehr klappen würde, weshalb er das Buch beiseitelegte.

      „Das sind junge Frauen, die hier mit ihren Freunden auf den Wiesen gelegen haben. Wenn die Freundschaft oder die Beziehung danach in die Brüche geht, müssen sie in den Fluss.“

      „Aha,“, meinte Martin mit kaum verstecktem Desinteresse, „der dürfte ja dann recht voll sein, wenn ich so über die Wiesen schaue und sehe, wer hier alles rumliegt…“

      „Jedes Mal wenn eine Nymphe stirbt, führt der Fluss weniger Wasser – das hat mir mein Großvater auch noch erzählt.“

      „Und was passiert mit den Jungs? Wär‘ doch ein bisschen ungerecht, wenn nur die Frauen in den Fluss müssten, oder?“

      „Irgendwie schon… Aber ist Ihnen aufgefallen, dass es am Bahnhof immer mehr Tauben gibt?“

      „Ja. Tauben sind allerdings weiblich…“

      „Sehen Sie einer Taube etwa an, ob sie weiblich oder männlich ist?“

      „Nee… Ich zumindest nicht.“

      „Da haben Sie’s! Das sind alles Kerle!“

      „Würde trotzdem voll im Fluss und am Bahnhof. Ich zähle gerade fünf Pärchen… Und das jeden Tag im Sommer?“

      Sie schien nachzuzählen.

      „Sie sind aber pessimistisch. Vielleicht funktioniert‘s ja bei allen!“

      „Dennoch… wären auf die Dauer viele…“

      „Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass da die ganzen jungen Frauen drin verschwinden. Warum auch? Die haben ihr Leben ja noch vor sich. Sind bestimmt nur alte, graue Weiber, wie ich eins bin“, sie prustete los. Dabei rutschte ihr Hut. Ungewöhnlich flink hatte sie ihn sofort wieder zurechtgerückt.

      „Ja, vermutlich“, raunte Martin und sah demonstrativ auf die Kirchturmuhr. Gleich zwanzig vor vier. In einer Viertelstunde hätte er es geschafft und könnte gehen. Zugegeben: Das wäre nun ebenfalls möglich gewesen, jedoch war er einfach nicht der Typ, sich von anderen von seinem Platz vertreiben zu lassen. Zumindest glaubte er, dass es sein Platz war, weil er hier zuerst gesessen hatte. Außerdem fand er die Oma irgendwie ganz lustig. Dass Promenadenomas lustiger sind als Haltestellenomas, hatte er schon früher gemerkt.

      „Sind gleich zwanzig vor vier“, sagte sie, der sein Stieren zur Uhr sehr wohl aufgefallen war, trocken.

      „Ich muss gleich los“, schob sie hinterher. „Meine Katzen warten. Wenn man Tiere hat, ist man stets gebunden.“

      „Ja, das stimmt.“

      „Meine Tochter wohnt in Irland.“

      „Waren Sie mal da?“

      „Ja, aber zu selten. Das Fliegen ist nicht so meins…“

      Martin senkte seinen Kopf. Das Buch lag neben ihm auf der rechten Seite.

      „Ich lese übrigens auch gerne“, gestand sie, „Hoffmann.“

      Martin drehte sein Gesicht zu ihr hin.

      „Ha“, schrie er kurz auf und machte einen Satz nach rechts.

      „Sköne Oke“, zischelte sie, sich mit ihren Augen in ihn hineinfressend, ehe sie erneut ihr krachendes Gelächter zum Besten gab. „Wohl bisschen schreckhaft?“

      „Ach, nein, überhaupt nicht“, erwiderte Martin. Möglichst unauffällig versuchte er, auf seinen alten Platz zurückzugleiten.

      „Die Musik von ihm ist auch sehr schön. Auch etwas düster.“

      „Texte kenne ich einige von ihm, aber die Musik bisher nicht“, meinte Martin, dem noch nie eine derart unheimliche Promenadenoma begegnet war. Und diese hellblauen großen Augen, viel zu jung für den Rest! Er hatte den Eindruck, dass sie sich andauernd vergrößerten. So oder ähnlich stellte er sich die Augen von Mozarts Osmin vor, als er Pedrillo und Blonde ertappte. Wie in dem Video, das er im Internet mal gesehen hatte, nur dass die Alte keinen Turban trug, sondern diesen weißen, blau bebänderten Hut.

      „Müssen Sie sich anhören. Immer dann, wenn man etwas zu kennen glaubt, entdeckt man eine neue Seite an ihm.“

      Plötzlich schoss sie auf.

      „Ich