Ben Leo

Schattenhunger


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eines Tages begann Malvor, ihm ein paar Leibesübungen beizubringen. Er machte sie vor und Bajo ahmte sie nach, bis er diese Abfolgen beherrschte. „Du musst dir die Kraft aus der Umgebung holen!“, ermahnte er ihn immer. Eines Tages holte Malvor einen Stab heraus, den Bajo schon bei ihrer ersten Begegnung gesehen hatte. Dieser war von fast schwarzer Farbe, nicht ganz so lang, als wenn man die Arme ausbreitete, an einigen Stellen dicker, an anderen dünner und an den Enden kugelförmig. „Dieses hier ist ein Wuko!“, sagte Malvor bedeutsam und hielt es Bajo hin, damit er es genau betrachten konnte. „Es ist aus einem Stück der Nachteiche gemacht, die in diesem Wald steht und weit über tausend Jahre alt werden kann. Das Holz ist leicht, steinhart und trotzdem hat es so viel Geschmeidigkeit, dass es nicht splittert, wenn man damit einen Schlag ausführt. Es ist eine Waffe! Eine Waffe zur Verteidigung! Du wirst lernen, so eine Waffe zu führen, denn eines Tages wirst du dich verteidigen müssen.“ „Ha, wenn ich kämpfen will, dann nehme ich mir ein Schwert und haue meine Gegner in Stücke!“, tönte Bajo großmäulig. Malvors ernster Blick ließ in rot werden. Natürlich konnte er mit einem Schwert nicht umgehen, wo er doch noch nicht einmal Blut sehen konnte. Einmal hatte er bei einem Freund eines in die Hand genommen und unbedacht ausgeholt. Dabei musste dieser um sein Leben fürchten und in Deckung springen, wobei außerdem ein Regal zu Bruch ging und das schwere Ding am Ende noch auf Bajos Fuß fiel. „Du darfst solche Dinge nicht auf die leichte Schulter nehmen“, mahnte Malvor. „Waffen bringen Tod, Verderben und Leid! Und sie werden nur allzu oft zum Angriff benutzt. Diese Waffe dient nur der Verteidigung oder der Jagd nach Nahrung! Sie sieht nicht so aus, aber sie ist sehr effektiv. Und wenn du mit dem Wuko eins geworden bist, wirst du spüren, wie mächtig es sein kann.“ Bajo schaute wegen seiner unbedachten Äußerungen etwas bedröppelt drein, aber dieses Wuko weckte seine Neugier und er war, alleine schon vom Aussehen dieses Stabes, beeindruckt. Malvor gab ihm zum Üben zunächst einen einfachen Holzstab, der dem Wuko sehr ähnlich war. So musste Bajo nach seinen Leibesübungen auch immer mehr Abfolgen mit dem Stab lernen und das bei Wind und Wetter, wenn es trocken war oder schneite, im Hellen wie im Dunklen. Im Gegensatz zu seinen Erinnerungsbemühungen brachten ihm diese Übungen jedoch sehr viel Freude.

      Neben seinen Tagespflichten besuchte Bajo selbstverständlich trotzdem weiter seine Höhle. Er hatte aufgehört, sich Gedanken über die Größe dieser Aufgabe zu machen und nahm sich nun viel ernsthafter Bekannte und Freunde vor, um sich an gemeinsame Dinge zu erinnern. Tatsächlich begann er sich etwas ‚leichter‘ zu fühlen, er hatte das Gefühl, von Tag zu Tag ein wenig mehr Kraft zu bekommen.

      Ab und zu hatte er Augenblicke, in denen er sich selbst wie ein Dritter sah. So stellte er zum Beispiel fest, dass er sich gut auf die verschiedenen Menschen einstellen konnte und daher bei allen beliebt war. Fast bei jedem machte er seine Witze und brachte die Leute oft zum Lachen. Doch seine Scherze waren auch immer eine versteckte Kritik oder eine Anspielung auf Verhältnisse, die nicht in Ordnung waren, was aber die wenigsten verstanden.

      Zudem erkannte Bajo, dass er es nicht zuließ, dass ihm jemand zu nahe kam; stets war er darauf bedacht, sein Innerstes für sich zu behalten. Niemandem konnte Bajo sich so wirklich öffnen, denn im Grunde traute er den Menschen nicht recht. Er empfand das als keine gute Sache, denn es machte ihn einsam, doch er konnte auch nicht herausfinden, warum das so war; sicher aber lag es wohl auch an seinem tyrannischen Vater.

      Eine weitere schlechte Eigenschaft, die wohl ebenfalls mit seinem alten Herrn zusammenhing, war seine Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Häufig wartete Bajo so lange, bis andere die Entscheidung für, oder eben auch oft gegen ihn trafen. Allzu gerne ließ er seine Freunde bestimmen, was man machen wollte und wo es hinging und trottete dann, immerhin als hervorragender Begleiter, hinterher. Ging es darum, jemanden aus der Familie zu besuchen, ließ er sich solange Zeit mit der Antwort, bis schließlich Tante Nele für ihn zusagte. Nur seine Arbeit war da die Ausnahme; da wusste Bajo meist, was zu tun war, aber vielleicht gingen die Entscheidungen dort auch einfacher von der Hand, weil er sie für das Kontor und nicht für sich selbst treffen musste.

      Eines Abends erzählte er Malvor von dieser Erkenntnis. Der Zauberer hörte ihm aufmerksam zu und erklärte dann: „Wenn man andere für sich entscheiden lässt, ist das ein Zeichen dafür, dass man selbst nicht weiß, was man eigentlich will, oder genauer gesagt, dass man nicht gelernt hat, herauszufinden, was man eigentlich will. Und wenn sich die Entscheidungen der anderen summieren, die einem im Innersten eigentlich missfallen, dann wird man immer unzufriedener, man hasst am Ende sein Dasein - so wie du! Neben der Tatsache, dass man ‚Ballast` abwirft und ‚Kraft` hinzugewinnt, ist es bei diesem Erinnern ein guter Nebeneffekt, dass man seine eigenen Verhaltensmuster erkennt und daraus lernen kann. Bei dir dauert es zwar lange, aber du bist auf dem richtigen Weg. Mache weiter so. Wenn du bei deinen engsten Beziehungen angekommen bist, wirst du auch irgendwann verstehen, warum es dir so schwerfällt, Entscheidungen zu treffen.“

      Für Bajo begann eine harte Zeit. In der Höhle versuchte er weiterzukommen, doch oft genug verspürte er Blockaden oder seine Bemühungen endeten in Tränen und Selbstmitleid. Den anderen großen Teil des Tages musste er seine Übungen machen, wobei er dies jedoch trotz der körperlichen Anstrengung vorzog, denn so dachte er wenigstens nicht so viel nach. Es gab zwei Formen seiner Übungen: Die ohne Stab, die seiner Gesundheit und seiner körperlichen Stärke dienten und ihm eine gewisse Kraft gaben, und die mit dem Wuko, besser gesagt seinem Ersatzwuko, welche ihm Schnelligkeit, Konzentration, Wachsamkeit und Geschicklichkeit brachten. Bajo kombinierte die Stockschläge jetzt auch mit Tritten und Fausthieben und lernte, solchen auszuweichen, sich abzurollen oder in die Höhe zu springen. Von Anfang an bewunderte er die Geschicklichkeit und Ausdauer von Malvor. Wenn dieser seinen Mantel auszog und ihm eine, mittlerweile längere, Übung beibrachte, verschlug es Bajo jedes Mal den Atem. Nie hatte er jemanden so konzentriert, präzise, kraftvoll und elegant erlebt. Es war wie ein magischer Tanz, dessen Kraft man förmlich spürte und er ahnte langsam, was es bedeutete, mit dem Wuko eins zu werden.

      „Wenn ich dich sehe, wie du das machst, dann komme ich mir dagegen vor wie ein Mädchen, das mit einem Strohhalm fuchtelt“, gestand er Malvor bewundernd. „Erstens, sowohl kann der Strohhalm eine tödliche Waffe als auch das Mädchen eine mutige Kämpferin sein und zweitens stehst du noch am Anfang und hast nur einen Übungsstab und dafür schlägst du dich schon ganz beachtlich!“, entgegnete Malvor und zwinkerte ihm dabei aufmunternd zu. Bajo sehnte sich schon manchmal nach Anerkennung und Lob, doch bekam er diese tatsächlich, so konnte er nie recht etwas damit anfangen. Jetzt aber freute er sich über Malvors Kompliment, es bedeutete ihm etwas.

      Für den Winter hatten sie neben dem Kamin noch eine weitere Feuerstelle vor den beiden Sitzen draußen in der Baumwurzel eingerichtet, wo sie sich gerne nach dem Abendessen wärmten und plauderten. „Warum tust du das alles für mich?“, fragte Bajo eines Abends. „Du weißt, dass ich Leva folge und Leva hat dich mir gezeigt. Wenn du die Welt aus einem anderen Blickwinkel siehst, erkennst du Dinge, Zeichen und Hinweise, die dir vorher verborgen waren“, entgegnete Malvor. „Was sind das für Dinge und Zeichen?“ „Das kann alles Mögliche sein: eine merkwürdige Wolkenformation, ein Mensch, den du unerwartet triffst, doppelte Zahlen, die immer wieder auftreten, ein besonderer Traum… Dinge, die man leicht übersieht oder gleich wieder vergisst, aber wenn man wachsam ist, erkennt man sie und spürt auch ihre Bedeutung. Doch es dauert Jahre, manchmal ein Leben lang, um diesen Dingen folgen zu können“. Neugierig fragte Bajo: „Was war das für ein Zeichen, dass du mit mir hattest?“ Malvor starrte ihn einen Moment lang an: „Es war auf einer Brücke in einem Park in Kontoria. Ich stand da und bewunderte die herbstliche Blätterpracht dieser kleinen Oase inmitten des Steinmeers der Menschen. Ich hatte dich erst gar nicht richtig bemerkt, typisch für dich, wie ich jetzt weiß, aber du hieltst einen Moment hinter meinem Rücken inne und da spürte ich dich. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass du anscheinend wissen wolltest, warum ich dort stand und die Bäume betrachtete. Aber du brachtest kein Wort heraus. Und dann sah ich, dass du zwei verschiedene Schuhe anhattest. Normalerweise versuche ich, für die Menschen unbemerkt zu bleiben. Du jedoch hast mich nicht nur bemerkt, sondern hast dich auch für mich interessiert. Und als ich dann noch das mit den Schuhen sah, was ich vorher noch bei keinem Mann gesehen hatte, wusste ich, dass ich dich unter meine Fittiche nehmen musste.“

      Bajo hatte dieses Ereignis vollkommen vergessen, konnte sich jetzt aber tatsächlich an dieses Zusammentreffen erinnern.