Ben Leo

Schattenhunger


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den Stab flussabwärts gründlich ab, da ein stinkender Schleim an den Enden klebte und setzte sich auf seinen Platz an der Hütte. „Du Idiot, du Nichtsnutz!“, beschimpfte er sich selbst. „Du kannst es einfach nicht lassen, du Trottel!“ In den Ärger über sich selbst mischte sich aber auch Erstaunen. Er wunderte sich wirklich, wie er sich da herausgewunden hatte und kam zu dem Schluss, dass sich seine Übungen wirklich bezahlt gemacht hatten und sein Körper in dieser Situation irgendwie einen eigenen Willen besessen hatte, was er höchst beachtlich, aber auch ein wenig befremdlich fand.

      An diesem Tag machte sich Bajo schon frühzeitig das Abendessen, erinnerte sich auf seinem Nachtlager an das Erlebte und verließ die Hütte lieber nicht mehr. Die folgenden Tage strengte er sich besonders an und wagte sich nur auf kurze Ausflüge hinaus. Aber kaum wieder im Lot, fing schon die nächste Sache an, ihn zu reizen: Malvor hatte ihm zwar schon einmal den oberen Raum gezeigt, aber nur, weil er auf die dortige Luke hinweisen wollte, die auf das Dach hinausführte und bei Gefahr als Notausstieg dienen sollte. Davon abgesehen, gab es auf dem Dach einen kleinen Hocker und man konnte wunderbar die Gegend aus dieser Höhe beobachten. Doch zu gerne wollte Bajo einmal in Malvors Habseligkeiten stöbern, die dort oben waren. Immerhin war dieser ein Zauberer und wer wusste, was er dort so an magischen Gegenständen aufbewahrte. Bajo war hin- und hergerissen und das bewirkte, dass er sich schlecht konzentrieren konnte. Bei seinen Übungen fiel er öfter hin, ließ das Essen fast verbrennen und dachte bald nur noch über das geheimnisvolle Zimmer nach.

      Eines Mittags schließlich konnte sich Bajo nicht mehr zurückhalten. Er stieg die Leiter nach oben und spähte in den Raum. In diesem Moment flog ihm ein Nachtfalter auf die Nase und ließ sich dort nieder. So stand Bajo da ganz ruhig auf der Leiter und schielte den Falter an. Doch als er versuchte, das Tier in den Fokus zu bekommen, sah er, für einen kurzen Augenblick, eine Person im halbdunklen Raum stehen, es war… MALVOR! Er erschrak so sehr, dass er fast von der Leiter fiel und der Nachtfalter flog wieder davon. Doch Bajo konnte in dem Raum auch mit der Tranlampe, die er von unten holte, niemanden sehen. Da wurde ihm plötzlich bewusst, wie schändlich es doch war, was er da tat. Malvor war von Anfang an freundlich zu ihm gewesen und hatte ihn wie seinen eigenen Sohn aufgenommen. Und das einzige was Bajo bei dessen Abwesenheit einfiel, war, seine Sachen durchwühlen zu wollen. Schnell stieg er wieder herunter und setzte sich nach draußen. Er fühlte sich wie ein Verräter, wie hatte er nur den Gedanken fassen können, Malvor zu hintergehen? „Zum Glück bin ich umgedreht, das hätte ich mir nicht verziehen, wenn ich wirklich seine Sachen durchwühlt hätte“, beruhigte er sich selbst. Aber dass er den Zauberer im Zimmer für einen Moment deutlich hatte sehen können, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er überlegte sich, dass Malvor vielleicht heimlich nach Hause gekommen war und nur darauf gewartet hatte, dass Bajo sich hochschlich. Aber warum war er denn dann wieder verschwunden? Eigentlich konnte es dies auch nicht sein. Es blieb eben ein Rätsel.

      Wieder einige Tage später hatte Bajo etwas länger geschlafen und erneut wilde Dinge geträumt. Er öffnete die Tür und trat heraus, um draußen den Kamin fertigzumachen. Die Sonne stand schon höher und strahlte ihm ins Gesicht, es war sehr mild, fast warm und die Vögel zwitscherten um die Wette. Ausgiebig reckte sich Bajo und genoss für einen Augenblick die warmen Strahlen. Seit langer, langer Zeit war er für einen Moment mal wieder glücklich. Bajo setzte sich auf seinen Platz und kostete dieses Gefühl voll aus. „Wie oft war ich in meinem Leben so glücklich?“, fragte er sich selbst. „Wenn ich es zusammenzähle, was kommt dabei raus? Ein paar Tage, ein paar Stunden? War ich überhaupt einmal wirklich glücklich? Aber was mache ich da? Ich fange schon wieder an zu grübeln und das ist nicht gut!“ Er stand wieder auf und begann fröhlich mit seinen Arbeiten. Malvor hatte ihn immer wieder ermahnt: „Denke, entscheide und dann handle, ohne zu denken!“ Und tatsächlich konnte Bajo seine Aufgaben viel besser erledigen, wenn er dabei nicht grübelte oder sich irgendwelche Vorstellungen machte. Manchmal war er so vertieft in seine Handlungen, dass er alles andere um sich herum vergaß, ja, sogar die Zeit existierte dann nicht mehr.

      Endlich waren alle anstehenden Pflichten soweit erledigt und auch einige Übungen hatte er schon absolviert. Es war früher Nachmittag und der Tag hielt, was der Morgen versprach: Es war der erste schöne Frühlingstag! Bajo hatte die Augen geschlossen und lauschte in den Wald. Als er versuchte, die Vogelstimmen zu unterscheiden und die Richtung, aus der sie kamen, zu orten, vernahm er plötzlich dumpfe rhythmische Geräusche.

      Angespannt horchte er und war sich nach kurzer Zeit sicher: das musste ein trottendes Pferd sein! Bajo sprang auf und blickte den Pfad Richtung Norden hinauf. In der Tat war da ein Reiter. Und dem Hut nach zu urteilen… „JAAA, Malvor! Du bist wieder zurück!“, schrie Bajo vor Freude und tanzte aufgeregt umher. Er stand neben der Brücke und strahlte seinem Lehrer entgegen. Aber worauf ritt Malvor da? So etwas hatte Bajo noch nie gesehen. Völlig erstaunt und mit offenem Mund betrachtete er das schöne Tier. Es sah aus wie die Mischung aus einer Bergziege und einem Rennpferd aus der Thalarischen Steppe, war von schneeweißer Farbe und hatte zwei große, gedrehte Hörner, die nach vorne gewölbt waren. Das mysteriöse Tier war recht groß und dennoch von schlanker, edler Statur. Zaumzeug und Sattel glänzten pechschwarz und waren mit glitzernden Kristallnieten beschlagen. Malvor lächelte, wohlwissend, was für ein beeindruckender Auftritt dies war. Mit einem eleganten Satz sprang der alte Mann direkt vor Bajo herunter und schaute ihn an. „Wie ich sehe, bist du noch in einem Stück und die Hütte ist auch nicht abgebrannt!“, bemerkte er mit ernster Miene. Doch lange hielt er diese Mimik nicht durch und glitt über in ein herzliches Lachen, in das Bajo fröhlich einstimmte und ihn umarmte. „Wie war deine Reise, Malvor? Du musst mir alles erzählen!“, flehte er, während sie zusammen die vielen Pakete von dem weißen Tier, welches man auf baldisch „Valdeyak“ nannte, luden „Und was ist das nur für ein prächtiges Geschöpf? Stammt es aus den Bergen? Was hast du da alles mitgebracht?“, so fragte und plapperte Bajo unentwegt vor sich hin. Zum einen hatte er ja die ganze Zeit niemanden zum Reden gehabt, außer sich selbst, zum anderen platzte er fast vor Neugier.

      Nachdem sie alle Pakete nach oben in die Hütte geschafft hatten und Malvor sich, nach ein paar Übungen, frisch gemacht hatte, setzten sie sich wieder mal draußen auf ihre Plätze und tranken ein kühles Glas Blubbersaft. „Bitte Malvor, erzähle mir, wie es bei den Balden war, ja? „Na, wenn du mich so sehr darum bittest, dann fange ich einfach mal an: Es war nicht einfach, dort hochzugelangen, denn ich war früher dran als sonst, es lag noch viel Schnee und den geheimen Pfad zu finden, war schwierig. Aber der Aufstieg dorthin lohnt sich immer, es ist eine Wonne, diese herrlichen Dörfer und Städte in den glitzernden Felsen zu betrachten. Mein Freund Sibon heißt mich mit seiner Familie stets herzlich willkommen. Und fast immer präsentiert er mir eine neue Erfindung der Balden. Dieses Mal zeigte er mir eine Lederkugel, halb so groß wie eine Hand, gut vernäht und mit geheimnisvollem Inhalt. Wenn man diese Kugel kräftig knetet, strahlt sie für Stunden Wärme aus. Für lange Erkundigungen in die kalte Landschaft ein heißes Taschenfeuer zu haben, ist eine gute Sache! Ich freue mich auch immer wieder auf die gesunden Speisen, die sie mir anbieten. Es gibt frische Salate, Kräuter und Früchte, die sie auch im Winter in großen Höhlen anbauen. Geschickt angeordnete Kristalle leiten das Sonnenlicht von draußen hinein und verstärken es dermaßen, dass man denken könnte, man stünde im Sommer auf einem der oberen Felder und nicht im Winter in einer Höhle. Ich liebe vor allem auch den Umgang und die Gespräche mit diesen zauberhaften Wesen. Sie sind nicht nur sehr schlau, sondern auch Meister der Worte. Manchmal ist es wie Musik für mich, wenn sie etwas beschreiben oder erklären. Und sie haben ein ausgeprägtes Gespür, eine besondere Wahrnehmung ihrer Umgebung. Sie können Dinge fühlen, die weit von ihnen entfernt sind. So erkennen sie die Stimmungen eines Einzelnen oder auch ganzer Völker!“

      Malvor berichtete den ganzen Nachmittag von seinen Erlebnissen und von den Balden allgemein. Bajo hing an seinen Lippen und hibbelte manchmal vor Aufregung hin und her. Oder er lag vor ihm auf dem Boden, blickte in den Himmel und lebte Malvors Geschichten im Geiste nach. Besonders gefiel ihm ein besonderer, seltener Stein, den die Balden manchmal in den Bergen fanden: Der Sonnenstein. Kam er für eine Weile mit Wasser in Berührung, so fing er an zu leuchten und das tat er für einige Stunden. „Da braucht man keine stinkende Tranlampe mehr“, dachte sich Bajo.

      „So, der alte Mann ist am Verhungern!“, beendete Malvor seinen Vortrag und deutete damit an, dass Bajo das Essen fertigmachen sollte. Bajo