Ben Leo

Schattenhunger


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      Im mittleren Ring, weiter den Hügel hinauf, im Abstand zu einer noch dickeren Mauer, war die Ringstraße der Banker und Geldverleiher. Ihre Häuser waren selbst schon kleine Paläste, über deren Haupttoren jeweils das riesige Wappen der Familie thronte. Selbstverständlich hausten auch hier Heerscharen von Dienern, Zofen, Köchen und Laufburschen sowie Gärtner, die sich um die üppige Bepflanzung der Höfe kümmern mussten.

      Hinter einer schier unüberwindlich hohen Mauer und nur noch durch ein Tor erreichbar, lag der eigentliche Palast. Groß und protzig, aber nicht wirklich schön, ragte das Herrscherhaus über dem Drehkreuz der äußeren Welt. Hier nun lebten die hohen Aristokraten, welche aus den wohlhabendsten und einflussreichsten Kontors- und Banker-Familien stammten. Sie stellten die höchsten Würdenträger der Stadt und des Landes, die für Handel und Versorgung, Militär und Ordnung, Stadtwache und Diplomatie zuständig waren und alle als Berater dem Herrscher dienten. Nur die Obersten für die Rechtsprechung hatten ihr eigenes Gebäude in der Stadt und waren unabhängig. Der Herrscher über Kontoria hatte den Titel ‚Kondukt‘. Jemand musste sich durch ‚großartige Taten‘ hervortun, um als Kondukt gewählt zu werden, es war also kein ererbter Titel. Kontoria aber war nur ein Teil von Großmittenreich, welches sich aus den Gebieten Erzingen, Kornburg, Thalaria und eben der Stadt Kontoria zusammensetzte und immer einen König hatte. Der Herrscher über Großmittenreich, also über alle vier Gebiete, wurde mittlerweile auch gewählt und war weiterhin der König, auch wenn man Könige eigentlich nicht wählen kann, aber es erschien allen einfacher, diesen Titel beizubehalten. Die Wahl des Königs von Großmittenreich fand bei einer geheimen Zusammenkunft der höchsten Würdenträger und Aristokraten statt. Zwar konnte auch der Baron von Erzingen, der Lord der Kornburg oder der Fürst von Thalaria zum König gewählt werden, aber meist war es der Kondukt von Kontoria, der das Rennen machte. Die Zusammenkunft für die Wahl erfolgte nur dann, wenn der König starb oder sein Amt freiwillig abgab und wurde im kleinen alten Tempel abgehalten, welcher am höchsten Punkt, im östlichen Teil der Palastanlage, ein sonst recht unbenutztes Dasein fristete. Zwar gab es noch eine alte kirchliche Bruderschaft da oben, aber diese Mönche pflegten ihren Glauben mehr für sich und waren hauptsächlich mit dem Brauen von Met und ihrem Kräutergarten beschäftigt, was natürlich auch den Herrschaften zugutekam.

      Ja, die Glaubensmänner, die einst neben dem König herrschten, besaßen keinen Einfluss mehr. Über Jahrhunderte stürzten sie das Land in unzählige Kriege gegen Andersgläubige und unterjochten das murrende Volk, während sie sich selbst, ohne Scham, ihren Genüssen hingaben. Ein mutiger Hauptmann und der Führer der Kaufmannsgilde setzten dem, von einem Tag zum anderen, ein Ende. Der damalige König und die so heiligen Männer des Glaubens endeten auf ihren selbsterschaffenen Schlachtbänken. Nur ein paar abgespaltete Sekten und Bruderschaften, die von je her den armen Menschen dienten, blieben ungeschoren und durften in ihren Klöstern weiterleben.

      „Na, viel hat sich eigentlich nicht verändert“, dachte sich Bajo, als er den Palasthügel hinaufsah. Er machte auf seinem Arbeitsweg immer gerne einen kleinen Abstecher zu einer Brücke, die über den großen Graben führte, der den Palasthügel umschloss und lehnte dort für eine kleine Pause am Geländer. „Das Volk muss schuften und ihr da oben macht es euch gemütlich“, sann er weiter. „Wenn ich mal so viel Gold habe, dann…“

      „Hey du Lümmel, versperr uns nicht den Weg!“, schrie ihn der Träger einer Sänfte an und schon wurde Bajo so dicht ans Geländer gedrückt, dass er beinahe ins Wasser fiel. „Ihr missgebildeten Kröten, ihr stinkenden Arschkriecher, ihr…“, fing Bajo an zu pöbeln, doch der strenge Blick der Brückenwache ließ ihn seinen Weg lieber wiederaufnehmen. „Ich hasse diese verdammte Stadt! Ich hasse die beschissenen Menschen! Ich hasse mein Leben!“, murmelte er wütend in sich hinein und bog in die ‚Große Straße des Handels‘ ab.

      Mit einem Schlag erhöhte sich die Geräuschkulisse um ein Vielfaches. Getrampel, Gewieher und Geschrei brausten auf. Ein Meer aus Transportkutschen, Handkarren und Lastenträgern tat sich auf. Ab und zu ein Zweispänner oder eine herrschaftliche Droschke, die sich auf dem gut gepflasterten Weg einordneten. Am Rand, etwas erhöht, gab es einen ebenfalls gut befestigten Pfad, auf dem nicht so ein Wirrwarr herrschte, aber anscheinend war doch für die meisten Eile geboten. Früher ließ sich Bajo von der Masse förmlich tragen, immer wieder fasziniert von dem riesigen Strom der Waren und Menschen. Mittlerweile war er jedoch froh, wenn dieser Abschnitt seines Weges vorbei war und er am großen Rondell durch die Pforten des Hauptkontors dem Ganzen entfliehen konnte.

      „Ich wünsche einen guten Morgen“, rief er dem Pförtner zu und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln. „Na, wohl wieder spät dran, was?“, entgegnete dieser und zwinkerte zurück. Bajo eilte weiter, zum Glück hatte er im ruhigeren hinteren Teil seine Räumlichkeiten. Von seinem Pult aus konnte er durchs Fenster auf die großen Hafenanlagen blicken. Der Fluss war an dieser Stelle am breitesten und über die Jahrhunderte hatte sich ein riesiger Binnenhafen entwickelt, wo Erze, Eisen, Kupfer und sogar Vieh aus dem Norden ankamen und alle möglichen Waren flussabwärts, Richtung Südosten bis zum Eronsee verschifft wurden. Große Konstrukte aus Holz und Seilwinden halfen beim Beladen, es war immer wieder imposant anzusehen, wie die Güter bewegt wurden.

      „Wieso ist die Schute mit dem Getreide nach Eron noch nicht fertig?“, schreckte ihn eine Stimme auf. Bajo war für die Abfertigung der Schiffe zuständig und pendelte den ganzen Tag zwischen Hafen und Kontor. Er kontrollierte die Beladung und machte dann die Papiere fertig. Dem Vorsteher ging es nie schnell genug und die Arbeiter jammerten ihm ewig die Ohren voll, wegen der harten Arbeit.

      „Ich bin schon unten!“, rief Bajo und rannte zur Treppe, um nicht noch mehr von den Vorhaltungen des Vorstehers zu hören. „Ewig zwischen den Fronten…“, grummelte er. „Ich könnte schon am Morgen kotzen…“.

      In seiner Mittagspause schlenderte Bajo zu einem Lokal gegenüber dem großen Rondell. Manchmal traf er dort Boreas, einen ehemaligen Angestellten des Hauptkontors, mit dem er sich ein wenig angefreundet hatte und der jetzt bei der ‚Mittenreicher Hundepost‘ arbeitete. Ja, Kontoria hatte eine Hundepost. Deren Hauptstandort war unweit des Rondells, es gab noch die Nord- Süd- und West-Station in Kontoria und natürlich waren Zweigstellen in ganz Großmittenreich verteilt. Sogar in zwei anderen Ländern befanden sich Stationen: eine in Ginochi und eine in Ligamon, im westlichen Concorsien und die Station von Mondaha im östlichen Malikien, welches der südliche Teil von Likien war.

      Die Posthunde waren besondere Tiere, ihre Ausbildung dauerte über ein Jahr und nach einer Prüfung wurden sie immer auf derselben Route eingesetzt. Es gab zwei spezielle Züchtungen: Der ‚Steppenrenner‘; schlank, schnell und ausdauernd, wurde für die schnelle leichte Post eingesetzt. Der ‚Wanderzottel‘ war ebenfalls unermüdlich, aber langsamer, doch dafür robuster, er konnte sogar zwei kleine Pakete transportieren. Den Hunden hatte man entsprechend ihrer Rasse die passenden Satteltaschen auf dem Rücken befestigt. Alle Hunde trugen eine Art Mäntelchen über, welches aus rotem Wachstuch gefertigt war. Darauf prangte links und rechts das Wappen der Mittenreicher Post. Während die eher gemächlichen Postkutschen, die auch Personen fuhren, die ‚normale Post‘ beförderten, brachten die Hunde die ‚eilige Post‘ von Station zu Station, wo die Briefe und kleinen Pakete dann vom jeweiligen Briefausträger weiter verteilt wurden. Jedermann im Land achtete und schätzte die Tiere sehr, denn jeder wusste, dass auch er vielleicht einmal über sie eine schnelle und wichtige Mitteilung erhalten konnte. Posthunde waren eben unantastbar!

      Neben der Hundepost gab es auch die ‚Königliche Falkenpost‘, diese war aber den Adelshäusern vorbehalten. Die ‚Blitzfalken‘ hatten ihre inländischen Routen zwischen dem Palast in Kontoria, der Kornburg, dem Schloss in Erzingen und der Festung in Thalaria. Es bestanden außerdem Verbindungen in die anderen Länder: nach Lundi in Marabia im Süden, zur Felsstadt Trihaven im äußersten Norden, nach Schichtstadt und dem Palast in Mondaha in Malikien im Osten und zum concorsischen Herrscherhaus in Ginochi im Westen. Und natürlich gab es noch etliche geheime Routen, über die man aber nicht sprach, oder von denen niemand etwas wusste.

      „Hallo Bajo“, rief Boreas von einem der vorderen Tische, „dass ich dich mal wieder treffe“, fügte er lächelnd hinzu. „Wie geht’s denn so, was macht der olle Schuppen?“ „Ach, immer die gleiche Mühle, du kennst es ja