Ben Leo

Schattenhunger


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Geschluchzes und kamen nach draußen, doch Bajo sprang auf und eilte weiter. Nachdem er ein wenig die Orientierung gefunden hatte, wanderte er zu seinem Lieblingsplatz, dem Nest am Flussufer. Als er sich dort erschöpft fallen ließ, war er komplett am Ende. Nicht mal mehr zu weinen im Stande war er. Regungslos starrte Bajo auf das Wasser. Sein Leben lag in Scherben und er hatte keine Kraft mehr!

      1.3 Ein Entschluss

      Bajo war kurz eingenickt. Es war früher Nachmittag. Sonne, Wolken und Regen wechselten sich ab. Er hatte wild durcheinander geträumt, von den Ereignissen vom Abend davor und von denen bei seinem Vater, und er fühlte sich immer noch nicht besser. Da fiel ihm wieder der Mann ein, der ihm manchmal im Traum erschien. „Es ist Zeit aufzubrechen…“, erinnerte sich Bajo und versuchte, sich das Gesicht des Mannes vor Augen zu rufen. „Ja, es ist Zeit aufzubrechen und das werde ich jetzt tun!“, sagte Bajo mit lauter, fester Stimme und stand mit einem Ruck aufrecht am Ufer. Er erschrak vor sich selbst, es war, als hätte da ein anderer gesprochen. Doch seine Stimmung hatte gewechselt. Er dachte gar nicht groß nach und marschierte los. Auf dem Weg nach Hause kam er am Hauptkontor, seinem Lieblingslokal und einigen anderen Plätzen vorbei, die ihm etwas bedeuteten. Er hielt dort jeweils einen Moment inne und verabschiedete sich innerlich, kurz und ohne in großen Erinnerungen zu schwelgen. Als er zuhause ankam, war Tante Nele noch nicht zurück. Bajo nahm seinen Rucksack und packte nur die allernötigsten Klamotten und nur ein paar kleine persönliche Gegenstände ein. Schon vor Jahren hatte er begonnen, alle möglichen Dinge, die er gesammelt hatte oder die ihm mal was bedeuteten, auszusortieren. Da er immer gerne über die Märkte und in kleine Krims-Kram-Läden ging, hatte sich da so einiges angehäuft. Aber jetzt besaß er, bis auf die Handvoll Sachen, die er eingepackt hatte, nur noch Gegenstände, die man zum täglichen Leben eben benötigte. Er räumte sein kleines Baumhauszimmer auf und machte noch einmal sauber. Dann ging er herunter in die Küche, füllte seine Feldflasche mit frischem Wasser und schmierte sich zwei Stullen, die er sorgfältig in ein Wachstuch wickelte. Auch dies verstaute er noch in seinem Rucksack, welchen er griffbereit auf seine Veranda stellte. Wie gerufen kam in diesem Moment Tante Nele nach Hause.

      „Wo bist du denn gewesen?“, fragte sie. „Ich sollte dich doch von deinem Vater wieder abholen. Der war ganz schön wütend, weil du auf einmal einfach verschwunden warst.“ „Ich habe mich mal wieder mit ihm gestritten“, erklärte Bajo ganz ruhig, „aber mach dir keine Sorgen, alles wird gut!“ Während Tante Nele die Lebensmittel, die sie von ihrer Schwester mitgebracht hatte, verstaute, machte Bajo einen Muggefugg für sie beide fertig und da auch ein paar süße Kekse unter den Mitbringsel dabei waren, wurden diese gleich dazu verköstigt. Seine Tante erzählte von den aktuellsten Neuigkeiten und Bajo ließ sich von den Ereignissen, die ihn überwältigt hatten, nichts anmerken. Er sagte nicht viel und genoss, soweit er das konnte, dieses vielleicht letzte Kaffeetrinken. Tante Nele war guter Laune und verzog sich mit ihrem Pfeifchen zum Patiencen Legen. Bajo kletterte wieder hoch in sein Baumhaus, setzte sich in seinen Hängesitz und schaute über Kontoria hinweg in den Sonnenuntergang. Er fühlte sich, als wäre er nicht er selbst. Das Blut rauschte durch seine Adern. Er konnte nicht wie üblich über sein Leben grübeln und so schaute er einfach in die Ferne.

      Als die Sonne fast verschwunden war, ging er runter und machte das Abendessen. Bajo musste sich anstrengen, sich nichts über seinen bevorstehenden Weggang anmerken zu lassen. Er war froh, dass Tante Nele die meiste Zeit redete und an diesem Abend war er besonders lieb zu ihr. Stunden später, als Bajo ein leises Schnarchen aus Tante Neles Zimmer hörte, holte er einen Bogen Papier, Tintenfass und Feder und schlich wieder nach oben. Bajo dachte lange darüber nach, was er Tante Nele schreiben sollte. Sie zu verlassen, war für ihn das Allerschwerste. Er fühlte sich sehr mit ihr verbunden und versuchte stets, gut für sie zu sorgen. Bei dem Gedanken, sie wohl nie wieder zu sehen, flossen ihm die Tränen aus den Augen. Nachdem er sich allmählich wieder beruhigt hatte, beschloss Bajo, sich kurz zu fassen:

       „Liebste Tante Nele,

       es ist der Tag gekommen, an dem ich fortmuss. Frage nicht, warum, es ist einfach so. Ich möchte aber nicht gehen, ohne dir noch einmal zu sagen, wie sehr ich dich liebhabe. Und das werde ich tun, bis in alle Zeiten, das darfst du nie vergessen! Ich verzeihe dir die schlechten Dinge, die du mir angetan hast und bitte dich um Verzeihung für das, was ich dir angetan habe. Vor allem aber danke ich dir für die wundervolle Zeit, die wir zusammen verbracht haben! Ich wünsche dir alles Glück dieser Erde! Bitte sei nicht traurig und lebe dein Leben.

       Ich werde dich nie vergessen, dein Bajo“

      Er hatte kaum geschlafen und schaute in das erste Morgenlicht. Bajo wusste irgendwie, dass er Richtung Nord-Osten gehen musste… Er nahm eine Dusche, zog sich frische Klamotten an, griff seinen Rucksack und ging in die Küche. Dort schmierte er die Stullen für Tante Nele, die sie immer mit zur Arbeit nahm, und legte den Brief dazu. Anschließend machte er sich fertig, setzte den Rucksack auf und drehte sich, als er draußen war, noch einmal um. Tante Neles kleines Haus und sein Nest im Baum, was war das doch für ein schönes Zuhause! Doch bevor Bajo in Wehmut verfallen konnte, machte er eine tiefe Verbeugung und brach dann schnell auf.

      Bajo lief, entgegengesetzt zu seinem üblichen Arbeitsweg, zur Fähre von Helmershorst. Als hätte diese nur noch auf ihn gewartet, fuhr er mit dem ersten Boot über den Fluss. Er wanderte zur Biegung, wo er immer gerne Rast machte, und setzte sich auf die abgeknickte Buche. Der nasse kalte Nordwind war einem milden Südwestwind gewichen und die Sonne wurde nur kurz von schnell ziehenden Wolken unterbrochen. Bajo blickte zum Grauenwald. Schon vor einiger Zeit hatte er sich eine Stelle ausgesucht, wo er meinte, den besten Zugang in das Gehölz gefunden zu haben. Er war sehr aufgewühlt und fühlte sich sonderbar. „Nun ist es also soweit!“, rief er laut und begann, über die Wiese zum Waldrand zu gehen.

      1.4 Der Hetzer von Tarikahn

       Im Nordosten der Außenwelt

      „Wollen wir es weiter hinnehmen, dass diese Frevler die Erde beschmutzen? Wollen wir weiter zusehen, wie diese Memmen die Frauen sprechen lassen? Wollen wir es weiter erdulden, dass diese Hurensöhne den Namen Helimars beschmutzen? Sie tragen ja nicht einmal Tohbars! Sagt mir, wollen wir das weiter ertragen?“

      „NEEIINN“, schallte es über dem Lamut-Platz vor dem großen Tempel von Tarikahn. „Helimar ist unsere Macht!“, „Tod den Frevlern im Süden, Tod, Tod“, hielten die Sprechchöre an und die Tohbars wurden gen Himmel gehalten.

      Wieder einmal sprach ‚Gamor der Große‘ vor dem Volk, besser gesagt vor den Männern aus Talikien, denn Frauen nahmen am allgemeinen Leben kaum noch teil, die Gesetze der Helimarer hatten dies vor einigen Jahren so bestimmt. Genauso war es Vorschrift, dass ein Mann Tohbars tragen musste. Dies waren die verflochtenen Haare eines Schnauzbartes mit den Kotletten, wobei die Verbindung mit kostbarer Seide umwickelt wurde, und wer es sich leisten konnte, bestückte sie auch mit Gold und Edelsteinen. Je weiter die Tohbars herunterhingen, desto größer war das Ansehen. Denn je höher man die schmuckvollen Bärte gen Himmel strecken konnte, desto näher war man auch Helimar. So der Glaube…

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      Es ging gegen Abend und die Sonne tauchte den großen Palast mit seinen vielen wunderschönen Verzierungen in ein warmes Licht. Gamor hatte den Zeitpunkt seiner Rede nicht willkürlich gewählt. Die Abendstimmung verlieh seinem pompösen Auftritt vom Hauptbalkon aus, zusätzlichen Glanz. Rund um den Lamut-Platz standen weitere reich verzierte Gebäude. Zwischen den prächtigen Bauten der Stadtwache, der Handelsverwaltung und dem Badehaus reihten sich elegante Stadtpalais ein, die einst auch als Botschaften der westlichen und südlichen Reiche genutzt wurden. Auch wenn hier und dort die Farbe verblasste und der schöne Kalkputz bröckelte, so konnte man doch erahnen, wie diese Stadt einmal ausgesehen hatte, als sie noch in voller Blüte stand.

      „Diese elenden Verräter von Maliken, lange genug haben sie Helimar mit Füßen getreten! Machen wir endlich Schluss mit den Lästerern, wer uns nicht