Karl-Heinz "Kalle" Kowalski

Sein erster Fall


Скачать книгу

Wohnanlagen. Im Allgemeinen nichts Wildes, aber wenn man sie rief …

      Kalle kannte Bremthal gut, wenn ihm auch Eppstein mit seiner Burg besser gefiel; nicht nur, weil er dort lebte. Eppstein war einfach ein Ort, wo man noch so richtig die Seele baumeln lassen konnte, wie man so schön sagte. Nach der mitunter sehr stressigen Polizeiarbeit, war Kalle mehr als nur froh, wenn er in der malerischen Natur einmal so richtig abschalten konnte.

      „Was liegt denn genau an?“, wollte Kalle von seinem Partner wissen.

      „Ein Einbruchsdelikt und …“ Peter machte wieder einer seiner dramatischen Pausen, die Kalle ganz und gar nicht mochte. „… eine Vermisstenanzeige.“

      „Meinst du eine Entführung?“ Kalle hatte schon lange nicht mehr an einem solchen Fall gearbeitet. Wahrscheinlich war es pures Wunschdenken von ihm gewesen.

      „Nein.“ Peter schüttelte den Kopf. Entschlossen schritt er nun, da er offensichtlich von dem Gestank in der Wohnung die Nase voll hatte, zum Fenster und sperrte es sperrangelweit auf. Dann drehte er sich zu Kalle um und fuhr fort: „In ein und demselben Haus wurde im Erdgeschoss eingebrochen und zwei Stockwerke darüber wird die Rentnerin Lilli Weismüller vermisst. Beide Meldungen gingen gestern bei uns ein.“

      „Hmm, klingt ziemlich seltsam“, grübelte Kalle nachdenklich. „Zufall?“

      „Genau das sollen wir herausfinden, Kalle.“ Peter schritt auf Kalle zu und versuchte, nach dessen Sonnenbrille zu greifen, doch Kalle wehrte ihn ab.

      „Hey, was soll das?“, wollte Kowalski aufgebracht wissen und fuchtelte mit den Händen herum.

      „Leg’ die endlich ab! Man kann dir ja gar nicht in die Augen blicken!“ Er musterte sein Gegenüber mit einem misstrauischen Blick. Peter wusste ganz genau, was Kalle im Klo getrieben hatte. Darüber machte sich Kalle gar keine Illusionen.

      „Das ist ja auch Sinn und Zweck dieser Übung!“, entgegnete Kalle und sah ihn finster an. Niemand verging sich an seiner Brille und er nahm sie garantiert nicht ab.

      „Sei nicht albern.“ Peter deutete auf die Berge leerer Bierflaschen und den herumliegenden Müll. „Und räum’ bei dir mal ein bisschen auf. Du wirst sehen. In einer sauberen Wohnung lebt es sich gleich viel besser.“

      „Jawohl, Mama“, konterte Kalle lächelnd. „Also, lass uns gehen.“

      „Aber …“ Peter schlug sich seinen Einwand aus dem Kopf. Sie mussten nach Bremthal. Auf zum Einsatzort. Klaus Dernach würde ungehalten darauf reagieren, wenn sie am Nachmittag desselben Tages in ihrem Fall noch nicht vorangekommen waren. „Wir nehmen mein Auto.“

      „Deine Scheiß-Hasenkiste?“, polterte Kalle los und blieb mitten im Raum stehen. „Scheiße, nein! Wir nehmen meinen Benz!“

      „Hasenkiste?“, wiederholte Peter ungläubig.

      Kalle schritt an ihm vorbei zur Tür, wo er seinen schmutzigen, zerknitterten, schwarzen Mantel vom Boden aufklaubte und ihn anzog.

      „Niemand nennt meinen Hyundai i30 so! Er verrichtet seinen Dienst. Und das zuverlässig!“

      „Ganz genauso wie mein alter 450 SE!“, führte ihm Kalle vor Augen. Immer wieder kam es zu derselben Diskussion zwischen den beiden. Sie war jedoch nie ernst gemeint.

      Peter rang sich ein Lächeln ab. „Deine schwarze Gangster-Limo bringt uns noch mal in Teufels Küche.“

      „Quatsch! Der Benz hat Stil!“ Kalle ließ Peter aus der Wohnung hinaustreten. Dieser schüttelte nur den Kopf. Es war sinnlos mit Kalle zu diskutieren und das wusste er auch. Dieses Mal verschloss Kowalski sorgfältig die Türe seiner Wohnung. Man wusste ja nie, wer sich … Kalle schüttelte den Kopf. Wer wollte einen Haufen leerer Bierflaschen klauen, noch dazu in einer Wohnung, in der es roch, als sei dort ein Wildschwein verendet?

      Kapitel 2: Im Dunkeln

      Angst. Sie verspürte eine große Angst. Es war eine panische, unbändige Todesangst. Jede Sekunde konnte ihr Ende kommen und man ließ sie darüber im Ungewissen; ja, man spielte mit ihr.

      Lilli Weismüller konnte sich nicht richtig bewegen. Ihre Hände und ihre Beine waren an den Lehnen und den Beinen eines Stuhls mit Handschellen festgemacht worden. Sie waren gerade groß genug, damit sie hineinpasste; herausgekommen wäre sie niemals.

      Lilli schluchzte, aber auch das musste sie im Stillen tun, da ihr Entführer ihr einen Knebel in den Mund gestopft hatte. Sie hätte die ganze Zeit über schreien können. Sie hatte doch nichts Falsches getan. Wer hatte sie nur entführt? Und aus welchem Grund? Geld allein konnte es nicht sein. Das hätte sie einem Einbrecher schon gegeben. Sie konnte sich keinen plausiblen Grund vorstellen, weshalb man sie hier ins Dunkel gebracht hatte. Ach, wie schlecht doch die Welt geworden war! Schon so oft hatte sie im Tatort solche irren Verbrecher gesehen, aber sie hätte nie gedacht, dass ausgerechnet sie auf so einen trifft. Niemals!

      Ihre Augen waren zwar nicht verbunden, sie erkannte aber trotzdem nichts im Dunkeln, wo sie auf einem Holzstuhl saß. Um sie herum war kein Geräusch zu hören und es war kühl. Zum Glück nicht so kühl, dass sie sich erkältete. Sie vermutete, dass sie in einer Art Kerker oder einer Gruft steckte. Die wenigen Geräusche, die sie verursachte, waren dumpf. Als man sie entführt hatte, hatte ein Mann mit einer Skimaske ihr eine Flasche vor die Nase gehalten oder ein Tuch, das mit Flüssigkeit aus einer kleinen Flasche getränkt worden war; und dann war ihr schwarz vor Augen geworden. So ganz konnte sie sich diese Szene nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Alles war verschwommen. Nebulös. Dieser unbekannte Mann wusste sehr genau, was er tat und wie er es tun musste. Sie konnte nicht ergründen, wer er war und was er von ihr wollte.

      Sie schluchzte wieder. Zu grausam waren die letzten Stunden ihres Lebens gewesen. In diesem Stuhl war sie aus ihrer Ohnmacht erwacht und hatte versucht, sich im Gesicht zu kratzen. Erst da hatte sie bemerkt, dass sie jemand auf diesen Stuhl gefesselt hatte. Nein, es waren keine Fesseln, sondern kalte Handschellen! Man hatte sie an den Stuhl gekettet wie einen Hund!

      Sie wollte schreien, aber es gelang ihr nicht. Lilli Weismüller spürte einen Knebel in ihrem Mund. Atmen konnte sie nur durch ihre Nase. Es war ein unangenehmes Gefühl, zu spüren, wie der Stoffballen ihren Mundraum ausfüllte. Außerdem stieg ihr noch ein penetranter Kunststoffgeruch in die Nase. Ihr unbekannter Entführer hatte den Knebel mit einem Klebeband festgeklebt, dass von einer zur anderen Backe führte. Es spannte ihre faltige Haut sehr. Lilli meinte auch schon ein kleines Taubheitsgefühl in ihrer rechten Backe zu spüren.

      „Das wird wehtun, wenn er es abreißt“, schoss es ihr durch den Kopf. Fürchtete der grausame Mann etwa, dass sie einen normalen Knebel von ihrem Mund abbekommen und dann nach Hilfe geschrien hätte?

      Als ihr ihre Gesamtlage klar geworden war, hatte sie Schnappatmung bekommen und wäre wohl beinahe erstickt, wenn sie sich nicht noch zusammengerissen hätte. Es war einfach unglaublich. Sie ließ traurig den Kopf hängen. Vergeblich hatte sie schon versucht, sich umzusehen, um vielleicht doch einen kleinen Lichtschein zu entdecken. Aber, nein. Ihr Entführer hatte sie in eine totale Finsternis gesperrt und zurückgelassen. Wahrscheinlich befand sie sich tief unter Tage, damit er mit ihr ungestört sein konnte. Weitab jeglicher Zivilisation. So dachte sie jedenfalls, da sie es nicht besser wusste. Aber warum dann der Knebel? Ihr Entführer wollte wohl auf Nummer sicher gehen.

      Sie hatte sich nur mit der Tatsache beruhigen können, dass ihr Entführer etwas Wichtiges von ihr wollte, ansonsten wäre sie wohl schon längst tot gewesen. Wenn es trotzdem bloß Geld war, dann wollte sie es ihm geben. So viel er wollte. Lilli hing sehr an ihrem Leben. Das war das einzige, was sie jetzt noch hatte. Ihr Mann war bereits mit 63 Jahren an einem Krebsleiden gestorben. Sie vermisste ihn seitdem sehr. Jede Sekunde.

      Plötzlich wurde sie in ihren Gedankengängen unterbrochen, als rumpelnd eine Tür, die sich hinter ihr befand, aufging und jemand, vermutlich der Mann, der sie entführt hatte, eintrat. Licht erhellte das Dunkel und sie nahm, zunächst undeutlich, dann, als sich ihre Sicht besserte, immer deutlicher wahr, dass sie in einem finsteren Verließ festsaß.