um langfristige Lieferverträge und Schadenersatzklauseln.“ „Und um viel Geld,“ ergänzte ich.
Er sah mich missbilligend an. „Natürlich auch darum, um das Vermögen der Familie. So habe ich die Geschäftsführung übernommen, der Großvater war einverstanden, nur dein Vater nicht. Er war nicht in der Lage, seine eigene Situation realistisch einzuschätzen. Da mussten wir ihn ausschließen und seinen Anteil am Betriebsvermögen treuhänderisch übernehmen.“ Wieder machte er eine Pause, dann sagte er: „Ich hoffe, du verstehst, was wir tun mussten. Ist deine Frage damit beantwortet?“
Ich weiß nicht mehr, ob ich darauf geantwortet habe, von diesem Augenblick an verlässt mich die Erinnerung. Ich hatte endlich die Wahrheit erfahren – nein, nicht DIE Wahrheit, sondern seine. Aber was war dabei meine Wahrheit? Dass mein Vater betrogen worden ist, dass ich betrogen wurde? Hat es diesen Schlaganfall tatsächlich gegeben, hat es solche Ausfälle gegeben, oder hat mein Onkel nur diese Phase der Depression missbraucht, seine unverarbeitete Trauer ausgenutzt, und der Großvater war nicht fähig, dieses Manöver zu durchschauen? Es gibt so viele Wahrheiten. –
Du hättest sie hinterfragen können. Aber du hast gezögert, du hast nicht den nötigen Mut aufgebracht. Lässt dich deine Erinnerung deshalb im Stich? Oder hattest du Angst, dass auch deine Wahrheit nicht die einzig richtige war? Versteckst du dich hinter dem Vergessen, weil du die Antwort fürchtest? Am Schluss wird es nur noch die eine Wahrheit geben, dann ist dein Leben abgelaufen. Willst du solange warten?
KAPITEL 7
Jason war noch am Morgen des 24. Dezember nach Lenorenlund zurückgefahren. Der Onkel würde ihn wohl kaum für den Heiligen Abend in seine Familie einladen nach dem letzten Gespräch, und Jason hätte sich auch gescheut, das Haus seiner Kindheit zu betreten. Aber er scheute sich auch, den Vater noch einmal zu besuchen. Würde er wieder zurückgefallen sein in seine schweigsame Einsamkeit? Oder würde er nun für den Sohn gefährliche, weil unkontrollierte Pläne schmieden? Vor beidem fürchtete Jason sich gleichermaßen. Dann wollte er die Feiertage lieber im einsamen Internat verbringen. Dort traf er übrigens auf Dr. Scheer, der ebenso in der leeren Schule verblieben war und ihn spontan zu sich einlud.
Der Lehrer freute sich zu hören, dass die Idee, in der ehemals väterlichen Firma ein Praktikum zu absolvieren, von Erfolg gekrönt war, und diskutierte mit seinem Schüler ausführlich die Möglichkeiten, die sich für ihn daraus ergaben – für seine private Zukunft ebenso wie für eine Vorbereitung auf ein kommendes Studium. Und er suchte aus seiner umfangreichen Sammlung einige Fachbücher heraus, die Jason nun nützlich sein könnten. Jetzt also hatte auch der letzte Schüler dieses Jahrgangs – und der, der ihm seit langem von allen am nächsten stand – endlich eine Perspektive für die Zeit nach der Reifeprüfung, nach den langen Jahren in der Geborgenheit der Schulgemeinde. Für Dr. Scheer war das ein besonderes Weihnachtsgeschenk, obwohl er von diesem Brauchtum eigentlich wenig hielt.
Die beiden kommenden Monate waren erfüllt von der Spannung auf die bevorstehenden Prüfungen, die Klausuren waren geschrieben, und Dr. Scheer stellte erfreut fest, dass Jason Yolck in allen Fächern mit guten Leistungen aufwarten konnte. Für die naturwissenschaftliche mündliche Prüfung hatte er dem Schüler Themen aus dem medizinisch-pharmazeutischen Bereich vorgeschlagen, und alle in der Kommission waren begeistert darüber, wie der Abiturient sein Wissen zu klugen und oft weit ausgreifenden Antworten nutzte. Die Bestnote in diesem Fach war dann auch der Lohn. Und Dr. Scheer hoffte insgeheim, dass sie Jason einmal bei der Bewerbung um einen Studienplatz viele Türen öffnen könnte.
Die meisten Abiturienten waren nach den Tagen der Prüfung sofort abgereist, wollten die Zeit bis zur offiziellen Entlassungsfeier für Reisen oder auch schon für den anstehenden Wechsel an einen Studienort nutzen; Jason hatte keine Eile. Er hatte sich schon in den Wochen davor nach einer Unterkunft in der Nähe der Yolck Pharma KG umgesehen und ein möbliertes Zimmer gefunden, in einem Einfamilienhaus bei einer alleinstehenden älteren Dame, die ihn auf Anhieb sympathisch fand und auch bereit war, mit dem Bezug des Zimmers bis zum Beginn des Praktikums am 1. April 1995 zu warten. Der Onkel hatte ihm eröffnet, dass es zwar üblicherweise für Praktikanten keine Entlohnung gäbe, sondern nur eine Art Taschengeld, ihm aber die bisher ans Internat gezahlten Mittel weiterhin zur Verfügung stünden, und das war wesentlich mehr, als er für Miete und Verpflegung veranschlagt hatte. So war er zunächst einmal finanziell unabhängig.
Die verbleibende Zeit im Internat nutzte Jason, sich intensiv über die Produktion von Medikamenten und deren Grundstoffe zu informieren, um die Abläufe in der heimischen Fabrik möglichst rasch zu überschauen. In vielen Gesprächen mit seinem Tutor erweiterte er auch seine Kenntnisse in Chemie und Pharmazie. Die feierliche Entlassung der Abiturienten im März war da eher eine überflüssige Unterbrechung für ihn. Weder hatte er irgendjemand dazu eingeladen, noch war ihm nach einer fröhlichen Party zumute, die tanzenden Paare beim anschließenden Ball erinnerten ihn nur allzu sehr an die so bitter gescheiterte Beziehung zu Anita im vergangenen Sommer. Seitdem hatte er jeden Kontakt zu anderen Mädchen vermieden, und auch während des Festes ließ er sich nur ein einziges Mal zum Tanzen auffordern – es war die Gattin eines jüngeren Lehrers, die ihn schon länger mitleidig beobachtet hatte und der er den Tanz schlecht ausschlagen konnte.
Nur der Abschied von den Mitschülern in den beiden Gilden und in weiteren Arbeitsgemeinschaften, an denen er teilgenommen hatte und in denen er auch selbst als Ausbilder gewirkt hatte, fiel ihm schwer – waren dies doch die einzigen persönlichen Beziehungen gewesen, die er in all den Jahren seiner Schulzeit gehabt hatte. Und er spürte durchaus, dass die guten Wünsche vor allem der Jüngeren für ihr Vorbild von Herzen kamen.
Dann waren auch die Ostertage vorbei, zum letzten Mal steuerte er den vollgepackten Kleinwagen durch die Allee zur Straße und weiter zur Autobahn, um in jene Stadt zurückzukehren, in der er einmal fröhliche Kinderjahre verlebt hatte und die er danach meist gemieden hatte. Aber nun sollte sie ihm wieder ein Zuhause werden, für ein halbes Jahr zumindest. Und er nahm sich vor, diese Zeit zu nutzen – nicht nur mit Blick auf seine Ausbildung, sondern auch, um die alten Gassen zu durchstreifen, das Angebot der vielen kleinen Theater zu nutzen oder sich Vorträge anzuhören. Verglichen mit der Abgeschiedenheit von Lenorenlund tat sich ihm nun eine vielfältige und bunte Welt auf. Nein, er wollte kein Einsiedler sein in dieser lebhaften und zugleich traditionsverhafteten großen Stadt, auch wenn er all das allein erleben würde. Doch das schreckte ihn nicht, er brauchte keine Clique Gleichgesinnter, um Erfahrungen zu sammeln. Im Gegenteil, sie würde ihn eher hindern, seine eigenen Wege zu gehen.
Er hatte sich ein gebrauchtes Fahrrad gekauft, denn der Weg von seiner neuen Bleibe zum Werksgelände der Yolck Pharma war nur kurz, und auch die Medizinische Universität war so wesentlich besser zu erreichen als mit dem Wagen, denn er hat sich dort auch als Gasthörer eingeschrieben. Das Praktikum ließ sich gut an: Der Onkel hatte ihn nur kurz begrüßt und dann seinem Mentor überlassen, der mit ihm zunächst einen Rundgang durch das Werk machte, die Produktion erläuterte und auch die kleine Forschungsabteilung zeigte. „Eigentlich ist die Bezeichnung irreführend,“ sagte er mit einem Anflug von Bedauern, „was wir dort tun, ist ja nur eine gewisse Fortentwicklung unserer beiden Hauptprodukte und die ständige Qualitätskontrolle. Wirkliche Innovationen sind dabei nicht zu erwarten, dazu reicht weder die materielle noch die personelle Ausstattung.“ „Und eine Kooperation mit der Forschung in den Universitätsinstituten?“ fragte Jason zurück. „Wäre schon eine Möglichkeit, doch die Geschäftsführung ist da viel zu zögerlich. Entschuldigung, das geht jetzt nicht gegen Ihren Onkel,“ fügte er rasch hinzu. Jason lachte: „Keine Angst, ich petze nicht. Aber vielleicht kann ich es später einmal ansprechen, wenn sich eine Gelegenheit ergibt. Doch so eng sind unsere verwandtschaftlichen Beziehungen nicht.“
Damit hatte er sein Gegenüber gewonnen, und er merkte bald, dass mancher im Betrieb dessen Zukunft kritisch sah, zu rasch änderte sich die Lage auf dem Markt, und zu schmal war die Basis der Produktpalette. Nach einigen Wochen lernte er einen der beiden Laborleiter kennen, einen längst ergrauten Mann mit dicken Brillengläsern und in einem stets fleckigen weißen Kittel, der fast wie die Karikatur eines Forschers wirkte, aber hellwach war und gut informiert über die Produkte der Konkurrenz. Er hatte