Eckhard Lange

Wie in einem Spiegel


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Tage nach Hause fahre. Ja, ich erinnere mich noch genau: Sie sagten 'nach Hause'. Es war so quälend, neben einem Mann zu sitzen, der mir nichts zu sagen hatte, der kaum nach mir fragte, nach meinem Leben hier, nach meinen Leistungen, meinem Wohlergehen. Es war deshalb auch mein letzter Besuch 'zu Hause.' Am ersten Feiertag kam dann Onkel Peer vorbei mit einem Präsentkorb für den Vater, um ihm ein frohes Fest zu wünschen. Für mich hatte er nichts dabei; er war wohl erstaunt, mich dort anzutreffen. Aber immerhin: Er hat mich ausgefragt nach Lenorenlund, sehr sachlich und eigentlich auch ganz freundlich, und doch hatte ich ständig das Gefühl, er wollte nur wissen, ob sich die Ausgaben für das Internat lohnen. Vielleicht war er auch bloß froh, mit jemand reden zu können, denn Vater war zu keinem Gespräch bereit. Seitdem bekam ich jedes Jahr zu Weihnachten ein Paket mit Süßigkeiten und einer Grußkarte, doch die war vorgedruckt und bloß unterschrieben. Ja, und zum Ende jedes Schuljahres einen Glückwunsch und einen Scheck. Ich glaube, er hat einfach vorausgesetzt, dass ich das Klassenziel auch erreicht habe.“

      Jason stockte. „Mehr war nicht, Herr Dr. Scheer,“ setzte er dann noch hinzu. Der hatte einen Augenblick den dringenden Wunsch, diesen Jungen dort einfach einmal in den Arm zu nehmen, ihm Zuneigung zu signalisieren, doch er unterließ es. Es wäre gegen das Reglement des Internats gewesen, und es wäre vielleicht auch nicht gut gewesen. So nickte er ihm nur zu, füllte noch einmal die Gläser. Plötzlich fühlte er sich sehr hilflos.

      „Sie meinen, ich sollte meinen Onkel kontaktieren?“ fragte Jason in die Stille hinein. „Ich weiß nicht, ob es irgendeinen Zweck haben wird,“ gab Dr. Scheer nachdenklich zur Antwort, „aber es wäre zumindest einen Versuch wert. Und vielleicht erfahren Sie dann auch Näheres über den Grund Ihres Stipendiums.“ „Ich werde mich nicht dafür bedanken,“ sagte Jason energisch. „Ich weiß, dass er das Vermögen des Vaters an sich gerissen hat. Und letztlich wäre das mein Erbe gewesen.“ Sein Tutor nickte: „Ich kann Sie verstehen, und ich denke, Sie haben damit auch recht. Aber in erster Linie geht es um Ihre Zukunft, um Ihre finanzielle Sicherheit für die Zeit nach dem Abitur. Alles andere mag später geschehen – wenn Sie mehr wissen über das, was damals vorgefallen ist. Und von Ihrem Vater werden Sie es kaum erfahren, fürchte ich.“

      Jason schob die Zettel hin und her, die er vor sich zu liegen hatte, dann nahm er einen zur Hand. „Yolck Pharma“ stand darauf, und darunter, mit einem Fragezeichen versehen: „Praktikum.“ Er reichte ihn seinem Lehrer und sah ihn fragend an. Dr. Scheer lächelte: „Keine schlechte Idee, Jason. Sie können Kontakt zu Ihrem Onkel aufnehmen, ohne sich etwas zu vergeben. Und er wird Ihnen einen solchen Wunsch kaum abschlagen können. Nebenbei lernen Sie das Werk kennen, und vielleicht gibt es dort ältere Mitarbeiter, die Ihren Vater noch gekannt haben, die etwas über die damaligen Umstände wissen, die zu diesem... Machtwechsel geführt haben. Vor allem aber: Ein Praktikum ist zeitlich befristet, es bindet Sie nicht, es lässt Ihnen alle Möglichkeiten offen – ein Studium, vielleicht sogar der Pharmazie, einen Eintritt in die Firma, wenn Sie das für richtig halten sollten, und...“ er zögerte einen Augenblick, aber dann sprach er es doch aus: „und möglicherweise sogar einen Rechtsstreit um Ihr Erbe, wenn das juristisch gesehen Erfolg haben könnte.“

      „An Pharmazie habe ich auch schon gedacht, oder an irgendeine Kombination von Medizin, Chemie und Informatik – es gibt da ja ganz neue Studiengänge. Aber, Sie haben recht, erst einmal muss ich geklärt haben – für mich selbst geklärt haben – welches Interesse ich an Yolck Pharma habe, und welchen Anspruch ich darauf haben könnte. Wie ich mich dann entscheide, das weiß ich allerdings nicht.“ „Das müssen Sie auch nicht wissen, jedenfalls jetzt noch nicht. Gehen Sie möglichst ohne Vorgaben an die Sache heran, Jason. Und ebenso ohne Vorurteile. Auch Ihr Onkel sollte seine Chance haben. Halten Sie Ihre Seele frei von Bitterkeit – Sie sehen an Ihrem Vater, dass das ein ganzes Leben vergiften kann. Und... es wäre schade um Ihr Leben, Jason.“ Nun streckte der Lehrer doch seine Hand aus und griff nach der des Jungen, der immer noch mit seinen Zetteln spielte. „Und wenn Sie jemand brauchen, um zu reden, Sie wissen, dass Ihr Tutor auch nach dem Abi für Sie da sein wird. Nicht nur, weil es guter Brauch ist an unserer Schule.“

      KAPITEL 4

       Du lebst ja immer noch, Jason Yolck! Ich sehe dich doch im Spiegel, deutlich sehe ich dich! Oder lebst du nur noch, weil deine Antwort noch immer aussteht, weil du immer noch nicht weißt, wofür dein Leben gut war?

       Ja, es ist wahr, ich lebe noch; und manchmal ist es schlimmer zu leben als tot zu sein. Denn ich muss meine Erinnerungen ertragen, ich muss das alles noch einmal leben, ohne es doch ändern zu können. Und ich muss ehrlich sein dabei. Da gilt keine Ausrede mehr – nichts lässt sich beschönigen, nichts lässt sich übermalen. Was grau ist, das bleibt auch grau, und wenn du einen ganzen Regenbogen darüber legst. Wo das rote Blut geflossen ist, da bleibt das Rot, unauslöschbar, da schreit es Tag für Tag, wie einst Abels Blut zum Himmel schrie. Ich lebe noch, sagst du? Oder ist das schon die Hölle – das ewige Erinnern, wo doch der Tod Vergessen bringen soll?

       Lass dieses Klagen! Du weißt, dass du dich erinnern musst. Schau mich – schau dich an, genau, noch genauer! Ich bin deine Erinnerung, deine Vergangenheit. Was hast du zu sagen? –

       Ist dir bewusst, Jason, Spiegelbild, dass sie dich alle immer nur ausgenutzt haben? -

       Du willst deine Schuld auf andere abwälzen! Nimm endlich die Verantwortung auf dich und trage sie, denn du trägst sie für dein Leben. Ganz allein du!

       Sie haben mich alle immer nur ausgenutzt, das ist und bleibt die Wahrheit. Onkel Peer, dieser schleimige Coldenius, Kristian Ohnne, alle. Und die Frauen. Ja, die besonders. –

       Du stilisierst dich zum Opfer, Jason Yolck, zum unschuldigen Opfer. –

       Nein, nicht unschuldig. Ich habe es ja zugelassen. Ich habe stets gedacht, ich sei ihnen überlegen, kenne ihre Tricks, ihre geheimen Absichten. Und ich habe geglaubt, ich hätte die besseren Tricks. Aber ich blieb der Ausgenutzte, der Missbrauchte, der Betrogene. Das fing doch schon in Lenorenlund an – mit Anita, dieser kleinen Hure. -

       Ich denke, du hast sie geliebt, Jason Yolck? –

       Das ist es ja! Liebe gegen Missbrauch, Vertrauen gegen Betrug, Hingabe gegen Ausbeutung. So war es immer. –

       Und du hast nicht ebenso versucht, andere zu täuschen – zu deinem Vorteil, für deine Ziele? Und du willst nun alle Schuld auf andere schieben?

       Hör zu, du verfluchtes zweites Ich in diesem ebenso verfluchten Spiegel! Ich will dir in Erinnerung rufen, was du doch wissen müsstest. Ich will dir die Wahrheit sagen, weil es doch jetzt nur noch um die Wahrheit geht angesichts des Todes, der dich – mich –unwiderruflich erwartet; angesichts des Gerichtes und der Verurteilung. Du erinnerst dich an Anita, nicht wahr? Nur allzu gut erinnerst du dich; du kannst ihr Bild nicht auslöschen, und mit dem Bild deine Schmach, diese Enttäuschung, diesen bitteren Schmerz in deiner Seele, der dich unfähig gemacht hat für die Liebe, ein für alle Mal, trotz allen Begehrens, trotz all der Stunden der wilden Lust, die du dir selbst angetan hast, nur um zu vergessen. Aber du kannst nicht vergessen, Jason Yolck! Du musst dich erinnern, du musst diese Wunde immer wieder bluten lassen. Denn es war dein Herzblut, wie man so sagt, das damals geflossen ist – in jenen Sommertagen in Lenorenlund. Schau dir deinen Lebensfilm an! Du musst es noch einmal erleben, obwohl du es schon so oft erlebt hast in deinen Träumen, die du so gerne vergessen wolltest.

       Ja, ich sehe es. Ich sehe mich. Damals, in diesem kargen Speiseraum, inmitten all meiner Mitschüler. Aber vor allem sehe ich sie in ihrem weißen Kittel mit der Haube auf dem blonden Haar, das sich darunter verbergen sollte und das doch immer wieder hervorbrach. Anita! Zierlich, fast zerbrechlich, aber mit einem ungeheuer stolzen Blick. Eigentlich gehörte sie in die Küche, zu der wir keinen Zutritt hatten, doch an jenem Tag musste sie draußen aushelfen, Seite an Seite mit den älteren Frauen, die das Essen ausgaben, mütterliche Typen, bewusst ausgewählt, um in dieser Gemeinschaft heranwachsender Knaben bestehen zu können. Doch nun – Anita! Ich war nicht der einzige, der ihre schlanke Gestalt