Michael Stuhr

DAS OPFER


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Man hat Alicia aus dem Spiel genommen? - Tut mir Leid, Lou, aber in meiner Sprache drückt man das anders aus. Stalking, Terror und Mord würden es da schon eher treffen. – Himmel! Was seid ihr denn für Leute? Auf was habe ich mich da bloß eingelassen.“

      Lou sitzt stumm hinter dem Lenkrad. Sie umfasst es so fest, dass die Knöchel ihrer Hand hell hervortreten. Da ist nichts mehr in ihrem Gesicht, was an eine Prinzessin erinnert. Alles mädchenhaft Weiche ist daraus verschwunden. Was ich sehe, ist die starre Maske einer Kriegerin, die bereit ist, den Kampf aufzunehmen. Auch den Kampf gegen mich, wenn es sein muss. „Ja, du hast Recht!“, nickt sie. „Es gibt Entführer und Mörder in meinem Volk. Bei euch Luftatmern ist so etwas natürlich völlig undenkbar. Du hast natürlich jedes Recht uns alle dafür zu verurteilen.“

      Es ist, als würde mir der Boden unter den Füßen weggerissen. Ich hasse mich für meine unbedachten Worte, kaum dass ich sie ausgesprochen habe. „Bitte, Lou, versteh doch ...“, fange ich an.

      „Jetzt nicht!“ Sie macht eine abwehrende Handbewegung. „Ich muss jetzt erstmal selbst nachdenken.“

      Ich taste unsicher nach dem Türöffner. „Entschuldige“, bringe ich leise hervor. „Ich wollte dich nicht verletzen.“

      „Geh jetzt!“, fordert Lou. „Ich rufe dich morgen an.“

      „Ja!“ Ich schaue auf meine Armbanduhr. Es wird Zeit. Zum Abschied lege ich Lou kurz die Hand auf die Schulter, aber ich merke, wie sie sich unter meiner Berührung versteift.

      Als ich aussteige, lasse ich die Tür so sanft wie möglich ins Schloss schwingen. Lou wirft mir noch einen kurzen, unendlich traurigen Blick zu und fährt an. – Ich bin total fertig! Ich wollte sie wirklich nicht verletzen, aber sie muss doch erkennen, dass auch ich unter einer fürchterlichen Anspannung stehe. Ich kann ihr im Moment auch nicht helfen, verdammt noch mal!

      Ich sehe dem Wagen nach, während ich mein Handy herauskrame. Wieder versuche ich Diego zu erreichen. Das Handy am Ohr stolpere ich die Stufen hinauf, aber es ist immer noch nur die Mailbox dran. Mist! Wo ist er? Wird er immer noch verhört?

      Mit dem Fahrstuhl fahre ich in den vierten Stock und eile zu unserem Zimmer. Vielleicht ist Biggy ja da. Vielleicht weiß sie ja etwas.

      Ungeduldig schließe ich den Raum auf und stürme hinein. Er ist leer.

      Mein Zimmer im I-House ist mir in den paar Tagen schon ein richtiges Zuhause geworden. Die Versuchung ist groß, mich unter die Bettdecke zu kuscheln und der feindlichen Welt da draußen einfach den Rücken zuzudrehen.

      Den Zimmerschlüssel immer noch in der Hand sinke ich auf die Bettkannte und starre zu Boden. Am liebsten würde ich mich einfach hinlegen und schlafen, schlafen, schlafen! Das kommt natürlich überhaupt nicht in Frage, aber einen sehnsüchtigen Blick gönne ich meiner kleinen Zuflucht schon, während ich mich aufraffe und Lous Bücher auspacke.

      Bald jedoch wird mir klar, dass ich viel zu unruhig bin, um mich auf die Bücher zu konzentrieren. Immer wieder muss ich daran denken, wie Lou sich eben versteift hat, als ich ihr die Hand auf die Schulter legen wollte. Wie traurig und angespannt sie mich angesehen hat, bevor sie losgefahren ist. Verdammt! Jetzt habe ich mich auch noch mit ihr verzankt. Das darf doch nicht wahr sein.

      Tränen der Wut schießen mir in die Augen. Ich habe Schuldgefühle wegen meiner blöden Äußerungen, aber was soll ich denn noch alles aushalten? Es geht einfach nicht mehr! Es reicht! Wie soll ich denn das alles kapieren, wenn mir jeder nur so halbe Sachen hinwirft, so wie Lou vorhin?

      Ich schaue auf meinen Wecker. Ob Diego wohl schon frei ist? Ich rufe ihn an, aber wieder meldet sich nur die Mailbox. Merde! Ich muss unbedingt mit ihm reden. Sicher war das alles nur ein dummes Missverständnis. Nein, er hat mich nicht gekauft, das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Auch mit Lou werde ich mich wieder vertragen. Bestimmt wird sie einsehen, dass ich es nicht böse gemeint habe und dass ich vor lauter Angst und Streß einfach durchgedreht bin.

      Ja, so werde ich es machen! Ich spüre ein Lächeln auf meinem Gesicht. Diego und Lou sind mir die liebsten Menschen hier. Ich muss kichern, nein schlimmer, ich muss laut lachen. „Das sind mir die liebsten Menschen hier“ murmele ich und pruste los. – Zwei Darksider. - Die liebsten Menschen! Guter Witz, Lana!

      Ich gehe zum Fenster und öffne es. Die Luft tut mir gut und das Gefühl der Enge verschwindet. Plötzlich schiebt sich eine Wolke vor die Sonne. Wie benommen stütze ich mich an der Fensterbank ab. Ich sehe Studenten die auf Bänken sitzen und sich unterhalten, ich sehe Fahrradfahrer auf den Campuswegen radeln. Ich sehe einen Vogel, der piepsend zum Ast einer Kiefer fliegt. Das alles nehme ich wie in Zeitlupe wahr. Benommen schließe ich die Augen und öffne sie langsam wieder. Ich höre alle Geräusche wie durch Watte, denn das Bild von Alicias verbranntem Körper taucht vor meinem inneren Auge auf. Wie neonfarbene Lettern einer Leuchtreklame in der Nacht blitzt wieder die Frage in meinem Hirn auf: Wer hat Alicia auf so grausame Art und Weise umbringen lassen? Ist es wirklich mein Feind Adriano gewesen? Und wenn nicht: Wer hatte sonst noch ein Interesse an ihrem Tod? – Diego? - Lou?

      Ich habe Angst – Angst um mich und um Diego, Angst um unsere Liebe. Eigentlich weiß ich doch, dass er Alicia nichts getan hat, aber gleichzeitig spüre ich wieder dieses Misstrauen. – Wie kann das sein? Traue ich ihm das wirklich zu? Einen Menschen kaltblütig ermorden zu lassen? Nein! Niemals!

      Ein würgendes Gefühl schiebt sich vom Magen her zu meiner Kehle hoch. Ich darf nicht weiter darüber nachdenken. Ich werde keine Antworten finden, aber wie macht man das – aufhören zu denken?

      Erschöpft setze ich mich auf das Bett und streife die Schuhe ab. Ich kuschele mich in meine Decken und ziehe sie mir über den Kopf, so wie ich es eben schon gerne gemacht hätte. Ich bin geistig völlig ausgelaugt.

      Es geht nicht mehr – ich kann nicht mehr! Ich muss einfach erstmal schlafen, um all das zu verarbeiten, was ich erlebt habe. Vielleicht hilft das ja, versuche ich mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Auf dem Schreibtisch wartet so viel Arbeit auf mich. „Erstmal schlafen“, murmele ich, „dann wird alles gut.“

      07 NETZ UND HAKEN

      Adriano del Toro saß im Büro der Taurus Schiffsausrüstung, die er vor wenigen Monaten bei Atlantic City gegründet hatte. Die brandneue Filiale stand nahe der größten Marina der Stadt und war von einem örtlichen Bauunternehmer innerhalb weniger Wochen hoch gezogen worden. An Eleganz schlug die völlig mit schwarzem Glas verkleidete Halle alle Gebäude rundum. Auf den ersten Blick musste es jedem klar sein, dass hier keine Billigartikel angeboten wurden, sondern dass man sich hier ohne ein gut bestücktes Bankkonto besser gar nicht erst blicken ließ.

      Im Moment war Adriano allerdings nicht damit beschäftigt, irgendwelchen Multimillionären irrwitzig teures Yachtzubehör aufzuschwatzen. In seiner Eigenschaft als Geheimdienstchef König Sochons telefonierte er mit seinem Führungsagenten in der Bay-Area.

      Finlay am anderen Ende der Leitung wusste, dass sein Chef mit der Entwicklung der Dinge nicht zufrieden sein konnte. Im Moment lief das Gespräch aber noch in einigermaßen normalen Bahnen.

      „Was ist mit dem Mann, der die Überwachung im Greek gemacht hat?“, wollte Adriano wissen.

      „Es war eine Frau“, korrigierte Finlay. „Eine Luftatmerin. Peters, mein Troubleshooter, hat sich um sie gekümmert. Sie macht jetzt Vertretung für diese Alicia. Larence wird schon dafür sorgen, dass nicht herauskommt, dass da ein Tausch stattgefunden hat.“ Finlay lachte hässlich auf. „Peters wird sich übrigens auch um diesen Hacker kümmern. Der plaudert nichts mehr aus, das ist sicher. Ich meine, wir sind doch ein gutes Team hier, oder? Im Endeffekt passte doch eigentlich alles ganz gut zusammen, nicht?“

      Da war schon mehr als nur ein Anflug von Verzweiflung zu spüren, aber Adriano ging nicht darauf ein. Am Telefon den Namen des Detectives zu nennen, der in der Bay-Area die Interessen der Darksider schützte, war nicht gerade geschickt gewesen. Finlay verlor langsam die Kontrolle über sich und sein Revier. Man würde etwas unternehmen müssen.

      Adriano war kein Freund