Michael Stuhr

DAS OPFER


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bin, dass Biggy wirklich weg ist, stehe ich auf. Ein großer Zettel liegt auf ihrem Bett. In schwungvoller Handschrift steht dort in rot: Mach dir keine Sorgen Lana! Bin mit Hercule unterwegs! Komme erst spät abends wieder!

      Während ich diese Botschaft lese, spüre ich ein leises Ziehen in meiner Brust. Heute ist Sonntag! Mir wird klar, dass dies ein tolles Wochenende mit Diego hätte sein können. Und stattdessen ...

      Die alte Traurigkeit übermannt mich wieder. Gleichzeitig bin ich richtig neidisch auf Biggy und Hercule. Die beiden können ihr Zusammensein unbeschwert genießen. Werden Diego und ich das wohl auch irgendwann einmal können? Seit ich ihn kenne, gab es immer wieder irgendwelche Schwierigkeiten.

      Schnell hole ich mein Handy vom Schreibtisch und wähle Diegos Nummer. Wieder nur die Mailbox – Merde! Wütend werfe ich das Ding mit viel zu viel Schwung auf mein Bett.

      Erschrocken halte ich die Luft an: Das Handy hüpft unkontrolliert auf der Matratze herum und bleibt wippend an der Bettkante liegen. Schnell schnappe ich es mir und lege es auf den Schreibtisch. - Ich muss mich besser beherrschen! Man soll sein Glück im Handy-Kaputtmachen nicht überstrapazieren.

      Was für ein Mist! In der Zeit, seit wir uns kennen, war ich viel zu oft sauer auf Diego. Warum ist das so? Ganz klar: Es passieren immer wieder Dinge, die ich Diegos Volk anlastete und dann natürlich auch ihm.

      Verdammt! Ich will doch nur mit Diego glücklich sein! Ich liebe ihn, aber immer wenn ich mir gerade sicher bin, mit seiner Fremdartigkeit zurecht zu kommen, passiert etwas Neues, und ich renne wieder vor eine Wand.

      Genauso jetzt: Erst habe ich mir nur Gedanken über die blödsinnigen Anschuldigungen von Alicia gemacht. Nun frage ich mich, warum Diego immer noch festgehalten wird, und schon wieder schleicht sich dieses leise Misstrauen in meine Gedanken. Im nächsten Semester wollten wir beide uns eigentlich eine eigene Wohnung suchen. Wird das überhaupt möglich sein, mit ihm zusammen zu wohnen? Mit was werde ich dann noch alles konfrontiert?

      Mechanisch suche ich mir frische Klamotten aus dem Schrank und schlurfe niedergeschlagen zum Waschraum.

      Nach einer heißen Dusche geht es mir schon ein bisschen besser. Mein Magen macht sich knurrend bemerkbar und ich fahre hinunter in den Speisesaal zum Brunchbüffet. Netterweise haben die hier sonntags etwas länger auf.

      Es ist ein seltsames Gefühl, allein in dieser ehrwürdigen, holzgetäfelten Halle zu sitzen. Wieder einmal stelle ich fest, dass dieser Raum nach allem aussieht, nur nicht nach dem Speisesaal eines Studentenwohnheims. Ich würde mich nicht wundern, wenn jetzt irgendein Nordstaatengeneral mit seinem ganzen Gefolge hier hereinkäme. - War hier in der Gegend überhaupt Bürgerkrieg? Der fand doch eher im Osten statt. Na, egal! Träum nicht! Auf geht’s! Seufzend erhebe ich mich von meinem Stuhl.

      Schnell bringe ich mein Tablett zu einem der Metallregale. Im Vorbeigehen bleibt mein Blick an den Köstlichkeiten des Büffets hängen. Ich spüre noch immer, dass ich gestern einfach zu wenig gegessen habe. Mein Hungergefühl ist noch nicht besänftigt. Kurz entschlossen nehme ich mir ein neues Tablett, auf das ich mir Teller und Schüsseln mit Obst, Joghurt, kaltem Braten, Brot und Salat häufe. Ein großes Glas Fruchtsaft macht das Ganze komplett. Äußerst befriedigt über meine Beute jongliere ich das Tablett zum Aufzug. Die Frau hinter der Theke schaut mir belustigt nach, aber sie sagt nichts, also darf man das wohl. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass ich heute Mittag mein Zimmer nicht wegen Hungergefühlen verlassen muss. Das ist auch gut so.

      Heute kann ich mir keine Ausreden mehr leisten, um mich vor der Arbeit zu drücken, auch wenn sich immer wieder neue Fragen aufdrängen: Haben die Cops am Ende irgendwelche Beweise gegen Diego gefunden?

      Entschlossen schiebe ich diesen Gedanken beiseite. Es wird sich alles aufklären, so oder so. Ich glaube einfach nicht, dass Diego so etwas tut oder auch nur veranlasst!

      In meinem Zimmer angekommen, stelle ich das Tablett auf Biggys Schreibtisch. Lous Bücher baue ich auf meinem Schreibtisch auf und schalte das Notebook ein.

      Die Bücher sind klasse und ich komme gut voran. Bald habe ich schon zahlreiche Beispiele der Unterwasserarchäologie gesammelt und stichwortartige Beschreibungen dazu formuliert. Natürlich ist das noch längst kein fertiger Text, aber immerhin ergibt sich aus dem Ganzen schon eine gute Gliederung.

      Auch das Bildmaterial ist beachtlich. Das sind schon ganz besondere und bestimmt auch sehr teure Bücher, die Lou mir da gegeben hat. So etwas gibt es hier in der Bibliothek gar nicht. Einiges davon werde ich einscannen und auf meinen Stick ziehen. Das wird eine tolle Power Point Präsentation ergeben. Seufzend lehne ich mich zurück. Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit mir.

      Die Luft des späten Nachmittags ist mild und ein leichter Wind spielt mit den Vorhängen am offenen Fenster. Ich schaue hinaus in den schönen kalifornischen Spätnachmittag mit seinem goldenen Licht, atme tief ein und bin stolz darauf, dass mein Kopf trotz all der Anspannung doch noch recht gut funktioniert.

      Mitten in meinem Hochgefühl fällt mein Blick auf einen schmalen Band, der noch unberührt auf dem Schreibtisch liegt. Es scheint ein reiner Bildband zu sein. Ich habe ihn mir gewissermaßen als Belohnung bis zum Schluss aufgehoben.

      Neugierig beuge ich mich vor und ziehe das Buch zu mir heran. Planlos blättere ich darin herum. Wunderbar fotografierte Unterwassermotive mit Textzeilen darunter in einer Schrift, die altertümlich wirkt. Nein –nicht nur altertümlich, sie ist überhaupt nicht zu entziffern. Was ist das für eine Schrift? In was für einer Sprache ist dieses Buch gedruckt?

      Ich betrachte den Band genauer und stoße auf Bilder, die mich verwirren: Was wird denn da gezeigt? Ich sehe nackte Leute unter Wasser, die vor Höhlen herumschwimmen. Männer und Frauen mit strengen Gesichtern, langen, dunklen, wild schwebenden Haaren und kraftvollen Körpern. Sie wirken feierlich und ernst. Aber das Ganze hat absolut nichts mit Unterwasserarchäologie zu tun.

      Auf einem Bild erkenne ich eine Gestalt, die liegend in eine Höhle geschoben wird. Ich betrachte das Bild genauer. Irgendwie erinnert mich das Ganze plötzlich an Caetan und an Hamilton. Ist das etwa - ich atme tief ein - eine Darksiderbestattung?

      Gespannt blättere ich weiter und sehe die Textzeilen zu den verschiedenen Bildern. Ich würde sie so gern lesen können. Was ist das für ein Buch?

      Auch der Einband ist ungewöhnlich: Er zeigt einen bronzefarbenen Dreizack, der kunstvoll mit Schlangen und irgendwelchen Schriftzeichen verziert ist. Die Spitzen, die mit Widerhaken versehen sind, schimmern in einem unwirklich goldenen Licht.

      Der Hintergrund des Bildes ist dunkelblau bis grünlich. Es sieht so aus, als würde der Dreizack über eine Menge gehalten. Man erkennt zahlreiche, im diffusen Licht weiß-bläulich schimmernde Gesichter. Ihre hell schillernden Augen blicken zu den leuchtenden Spitzen des Dreizacks auf.

      Das ganze Bild wirkt irgendwie mystisch – ja fast schon satanisch. Ziemlich unheimlich! Mich schaudert, als ich den Band erneut aufschlage. Dieses Buch muss ich mir genauer anschauen.

      Plötzlich klingelt mein Handy. Das ist Diego! Er ist endlich frei! Mit der rechten Hand schmeiße ich das Buch zur Seite, während meine Linke zielgenau nach vorne schießt, das Handy schnappt und den Empfang sofort aktiviert. „Diego!“ rufe ich atemlos.

      „Lana, endlich!“, dringt Diegos sanfte Stimme an mein Ohr und in mein Herz.

      In meiner Erregung bin ich aufgesprungen, doch nun lasse ich mich wieder auf den Schreibtischstuhl sinken. Mir wird ganz weich zumute. „Diego!“ flüstere ich. „Endlich!“ Ich springe wieder auf und beginne aufgeregt im Zimmer herumzulaufen. „Wie geht es dir? Können wir uns sehen? Warum haben sie dich so lange festgehalten?“

      „Ich komme zu dir, okay?“ antwortet Diego. „Jetzt sofort.“

      Ich höre, dass er lächelt und ich muss auch lächeln. „Ja“, flüstere ich und eine zärtliche, warme Welle zieht durch meinen Körper. „Jetzt sofort!“

      „Dann bis gleich.“

      Das Gespräch ist beendet, aber ich presse das Handy trotzdem noch an mein Ohr. Der Spiegel über dem Waschbecken zeigt mir eine ziemlich