Michael Stuhr

DAS OPFER


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      PROLOG

      Eleanor stand am Strand und sah zu, wie das Schiff ihres Vaters davonsegelte. Langsam und majestätisch durchquerte es die enge Passage zwischen Roanoke Island und dem natürlichen Damm, der die Insel vor den Wellen des Atlantiks schützte.

      Gerade mal einen Monat war John White geblieben, aber sie, Eleanor, würde es jetzt ein Leben lang hier aushalten müssen. Ihr Vater hatte zwar versprochen, schon bald mit einem Versorgungsschiff aus England zurückzukehren, aber was half ihr das? Sie kam sich wie eine Verbannte vor: Ausgeschlossen vom Leben in London, wie sie es gewohnt war, verurteilt dazu, hier den Rest ihres Lebens unter primitivsten Bedingungen zu verbringen.

      Liebevoll drückte Eleanor ihre neugeborene Tochter an sich. Virginia schlief ruhig in ihren Armen. - Sie würde vielleicht niemals etwas Anderes kennenlernen, als dieses fremde Land. Eleanors verzweifelter Seufzer war fast schon ein Schluchzen. Sie hasste diese Insel.

      Ein feiner Nieselregen benetzte Eleanors Gesicht und mischte sich mit ihren Tränen. Sie zog den Schal über ihre Tochter, um sie vor der Nässe zu schützen und kam sich selbst gleichzeitig so schutzlos vor. - Wie hatte ihr Vater ihr das antun können? Wie konnte er sie hier einfach so allein zurücklassen? Wie gerne wäre sie mit ihm zurückgesegelt - nach England.

      Als die Bäume ihr den letzten Blick auf die Segel des Schiffs verwehrten, wandte Eleanor sich um. Mit langsamen Schritten ging sie vom Ufer zurück zu der kleinen Ansiedlung aus einfachen Hütten. - Die einsamste Kolonie Englands in der neuen Welt: Roanoke-Island! 90 Männer, 17 Frauen und 11 Kinder, das war die gesamte Einwohnerschaft dieser Siedlung. Und hier sollte auch sie jetzt leben. - Für immer!

      Der Anblick, den die halbfertigen Häuser boten, war einfach deprimierend. Vielleicht war der Boden ja wirklich fruchtbar, das mochte ja sein; aber alles wirkte so trostlos und verlassen, dass es sie nur traurig machte. Wie schön war es doch in London gewesen: Die breiten Straßen mit den prächtigen Kutschen darauf, der bunte Markt, das pulsierende Leben dort. Warum hatten ihr Vater und Ani ihr das angetan? Nur damit sie hier - mitten in der Wildnis - ihre Tochter, das erste englische Kind auf amerikanischem Boden zur Welt bringen konnte.

      Die Tränen strömten noch immer über ihr Gesicht, als sie das Haus erreichte, das von nun an und für alle Zeiten ihr Heim sein sollte. Hier hatte sie ihre Tochter geboren, und hier würde sie auch sterben, wenn nicht irgendwann ein Wunder geschah.

      Immerhin hatten sich ihr Vater und Ananias Dare, ihr Ehemann, bemüht, das Haus so solide wie möglich zu bauen. Wenigstens stabil war es, das musste sie zugeben. Stabiler jedenfalls als die provisorischen Holzhütten der anderen Siedler, die den Platz bei der kleinen Kirche säumten.

      Sogar eine Kochfrau, die ihr half, hatte ihr Vater angestellt: Maria, eine Portugiesin, die selbst schon einen elfjährigen Sohn hatte und der jungen Mutter in allen Fragen raten konnte. Dennoch gab es nichts, was Eleanor hier hielt. Selbst die Liebe zu Ananias war erloschen. Sie wollte einfach nur eins: zurück in ihr altes Zuhause, nach England, nach London.

      Als Eleanor den Schlafraum betrat, der nur durch einen Leinenvorhang vom Rest des Hauses abgetrennt war, fing die kleine Virginia an zu quengeln. Sie legte das Kind auf das Ehebett und streifte ihren Umhang ab. Schnell löste sie ihr Mieder und gab ihrer Tochter die Brust. Die Kleine saugte begierig schnaufend und schlief dann zufrieden ein. Über diesem wunderbaren Gefühl vergaß Eleanor ihren Kummer fast völlig.

      Dieses Kind war ein Wunder: erst war es in ihrem Bauch gewesen und nun war es hier, auf dieser Welt. Es saugte an ihrer Brust und war zufrieden damit. - Virginia, meine kleine Liebe!

      Eleanor lehnte sich zurück, kuschelte sich mit dem Kind in die Laken, und bald schon schlief sie mit der Kleinen an der Brust ein. Sie träumte sich weg von diesem öden Eiland, das so weit entfernt war von ihrer Heimat.

      Als sie wieder erwachte, hörte Eleanor Gesang. Eine seltsame Melodie, in der Sehnsucht und Verheißung mitschwangen. Sie lauschte mit geschlossenen Augen und gab sich den Tönen hin. Es war wie ein Rausch. Der Gesang schwoll an. Was war das? Sie fühlte sich, als werde sie gerufen, als habe ein Sog sie ergriffen. Was konnte das sein?

      Eilig raffte Eleanor sich auf, schnürte flink ihr Mieder und nahm die kleine Virginia auf den Arm. Die grunzte leise im Schlaf und schmiegte sich an sie.

      An der Haustür stand Ananias und sah sie verwirrt an. Er presste die Hand auf den Türknauf und wirkte seltsam angespannt.

      „Was ist das für ein Gesang, Ani?“

      Er schien sehr nervös. „Ich weiß es nicht.“ Er blickte aus dem Fenster. „Es ist komisch, ich weiß nicht, wo der Gesang her kommt. – Aber er ist sehr schön! – Oder?“ Wieder blickte er sie an und wirkte so unsicher, dass es ihr Angst machte.

      Eleanor drückte ihre Tochter noch fester an sich und spürte, dass sie ein leichtes Zittern überlief. Gleichzeitig löste die Melodie in ihr so wunderbare Gefühle aus, dass sie ihr folgen wollte, ja folgen musste.

      „Lass uns rausgehen und nachschauen“, schlug sie vor, denn das war genau das, was sie wollte. Dieser Gesang war so herzergreifend, so verlockend und schön.

      Ani sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen zweifelnd an. „Ich weiß nicht“, sagte er, „es kommt mir irgendwie merkwürdig vor.“

      „Vielleicht sind es ja die Indianer, die irgendein Fest veranstalten“, warf Eleanor ein. Sie wollte diesem Gesang unbedingt folgen. Er war so schön. Er versprach so viel. Sie sah ihren Mann auffordernd an, das schlafende Kind an die Brust gepresst.

      Ani gab sich einen Ruck, öffnete die Tür und ließ die beiden hinaus. Auch er wurde gezogen von dem Rausch der Stimmen, die ihn umgaben, ja geradezu durchdrangen. Wo kam dieser Gesang her? Er wusste es nicht, aber es war auch egal. Er fühlte sich so glücklich, wie schon lange nicht mehr. Jede Vorsicht außer Acht lassend folgte er lächelnd seiner Frau, die, die kleine Virginia eng an sich gedrückt, vorauseilte.

      In der Küche hielt Maria Lopez sich an dem hölzernen Tisch fest und beobachtete entsetzt, wie die beiden mit dem kleinen Kind zum Strand hinunter gingen.

      Die Köchin war eine gläubige Katholikin, aber auch sie konnte der lockenden Melodie kaum noch widerstehen. Sie spürte, sie musste den anderen folgen, aber sie ahnte auch, dass dieser Gesang unrein war. Die Fischer in ihrer portugiesischen Heimat hatten manchmal spät in der Nacht mit gedämpften Stimmen davon gesprochen.

      „Ma Donna mia, sie kommen vom Meer und wollen uns holen“, flüsterte Maria und bekreuzigte sich mit geschlossenen Augen. Das Messer, mit dem sie gerade das Fleisch zerteilt hatte, rutschte aus ihrer Hand. Mit einem dumpfen Laut fiel es zu Boden. Maria achtete nicht darauf. Eilig verließ sie das Haus, um Pedro, ihren Sohn, zu suchen, aber schon nach wenigen Schritten vergaß sie ihr Vorhaben. Die lockende Melodie hatte sie jetzt völlig ergriffen. Wie betäubt folgte sie den anderen hinunter zum Strand.

      Zur gleichen Zeit schreckte Pedro aus dem Schlaf auf. Er hatte einen merkwürdigen Traum gehabt: Da waren Schatten über ihm gewesen, die nach ihm gegriffen hatten. Es waren die Schatten von wunderschönen Frauen, fast so schön, wie die Herrin seiner Mutter.

      Pedro liebte Eleanor Dare. Sie war immer freundlich zu ihm gewesen und hatte ihm sogar auf der langen Überfahrt von England das Schreiben beigebracht. Die gemeinsamen Übungsstunden in der kleinen Kabine hatte Pedro genossen. Der Duft und die Nähe dieser schönen Frau hatten seine Phantasie beflügelt und seinen Eifer verdoppelt.

      Leider hatte dieser Unterricht hier aufgehört, denn sie hatte ihre kleine Tochter bekommen und keine Zeit mehr für ihn gehabt. Aber immer wenn sie ihn sah, strich sie ihm über die Haare und lächelte ihm zu.

      Pedro fand, dass sie die schönste Frau auf der ganzen Welt war. Aber diese Frauen in seinem Traum waren auch wunderschön gewesen. Die offenen dunklen Haare hatten um ihre hellen Körper und um ihre lieblichen Gesichter geweht. Zugelächelt hatten sie ihm, und ihn bei seinem Namen gerufen: „Pedro! - Pedro! - Komm, lass uns spielen Pedro!“

      Auf einmal