Dietmar Kottisch

Der Totenflüsterer


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ein. Und ohne dass ich den Namen Jan oder Amsterdam aussprach, brach <Elli> sofort durch: > Zug nicht für Franzi.. Venlo <. Und da wusste ich, dass sämtliche Verdrängungen für mich gefährlich sein konnten. Ich erstarrte innerlich, ich war am Boden zerstört, weil ich es nicht fassen konnte. Ich wollte zu meinem Liebsten. Morgen früh um zehn Uhr sollte ich abfahren. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Es war aber eindeutig: meine Kontaktperson wollte, dass ich nicht in den Zug stieg! Ich war auch nicht in der Lage, Jan anzurufen. Was hätte ich ihm sagen sollen? Dass mich ein Geist gewarnt hat, in den Zug zu steigen? Er hätte mich ausgelacht. Über meine Tonbandstimmen haben wir nie gesprochen.“

      Franziska nahm einen Schluck Kaffee. Die anderen konnten schon ahnen, was passiert war, aber sie hörten mit Spannung zu. Solche Dinge sind im Laufe der Zeit nichts Außergewöhnliches mehr. Warnungen kommen manchmal von der anderen Seite.

      „Ich war wie gelähmt, saß am zweiten Juni in meinem Wohnzimmer, starrte auf das Telefon und hoffte, dass er nicht anrief, um mir eine gute Reise zu wünschen und sich freue, mich am Nachmittag in die Arme nehmen zu können. Mein Körper spielte verrückt. Magenschmerzen, Herzrasen, Zittern. Warum hat mich <Elli> gewarnt? Die Antwort war für mich eindeutig: ich sollte ihn aus irgendwelchen Gründen nicht treffen. Dann sah ich in meinen Gedanken: Unglück, der Mann taugt nichts, es sollte nicht sein, ich bin für einen anderen bestimmt, Vorbestimmung, Schicksal, Fatalismus, Kismet. Was man sich so alles einbildet. Ich wurde noch nervöser, als es zehn Uhr war. Ich hielt es in meiner Wohnung nicht mehr aus, also setzte ich mich ins Auto und fuhr in die Stadt, wollte mich ablenken, einkaufen, essen gehen, eine Freundin besuchen. Nur nicht an ihn und an die Bahnfahrt denken.

      Und dann sah ich gegen Mittag die Schlagzeile der Bild-Zeitung auf der Zeil:

      „Zugunglück bei Venlo. Der ICE 690 von Frankfurt nach Amsterdam sprang gegen 14 Uhr aus den Gleisen. Bisher wurden 10 Tote geborgen.“

      „ Mir wurde schwarz vor den Augen, und ich musste mich an einer Litfasssäule festhalten. Die Leute scharten sich um den Zeitungsstand. Ich fuhr sofort nach Hause, schaltete den Fernseher an und sah die Bilder am Unglücksort. Die vorderen Wagen lagen neben den Gleisen. Ich hatte einen Platz in der Mitte gebucht. Den ganzen Nachmittag war ich wie gelähmt. Gegen sechs Uhr abends rief meine Mutter an. Ich konnte an ihrer Stimme erkennen, wie ihr ein Stein vom Herzen geflogen ist, weil ich mich gemeldet habe. Sie hatte befürchtet, dass ich im Zug wäre. Ich sagte ihr, etwas wäre dazwischen gekommen.

      Erst am späten Abend war ich in der Lage, meinen Freund in Amsterdam anzurufen. Ob er von der Katastrophe gehört hatte? Ob er vielleicht dachte, ich wäre tot? Ob er sich nach meinem Namen erkundigt hat bei der Katastrophenleitung der Bahn? Ich zitterte am ganzen Körper, als ich das Freizeichen hörte. Und dann wurde abgenommen, und eine weibliche Stimme meldete sich: „ Hallo, wer ist da?“ Es war die Stimme einer älteren Frau, seine Mutter, vermutete ich. Ich stellte mich vor und bat sie, mir Jan zu geben, aber sie sagte nur, er sei im Krankenhaus; sie sagte mir nicht, weshalb. Ich rief nach ein paar Tagen nochmals an und erfuhr, dass Jan an einer Krankheit litt, die Immunschwäche zur Folge hatte.“

      Sie legte ihr Band ein. „Und jetzt diese zwei Stimmen. Die erste Warnung.“

      Im Raum hörten sie ein lautes Rauschen, untermalt von Brausetönen, dann eine schnelle schreiende Frauenstimme >Zug nicht bitte Venlo<. Einigen lief es kalt den Rücken herunter. Franziska spulte ein paar Zentimeter vor. „Jetzt die zweite Warnung. Dieselbe schreiende Frauenstimme im Gewirr des Rauschens und der Brausetöne <Zug nicht für Franzi…Venlo..>

      „Die schreit ja richtig. Die hat das alles kommen sehen,“ sagte Irmgard.

      Es war schon erstaunlich, vor welcher menschlichen Katastrophe Franziska bewahrt wurde.

      „Nicht jede Stimme gehört zu unseren Verwandten, wie ihr wisst. Es kommen Stimmen herein, die uns was sagen wollen. Ich habe manchmal den Eindruck, als würden die da drüben Schlange stehen, um uns was mitzuteilen.“

      Paul stellte seine Teetasse zur Seite und holte ein anderes Band aus der Aktentasche. „Ich habe hier ein Beispiel einer kleinen Präkognition. Aufgenommen am siebten August um siebzehn Uhr zehn. Ich sitze an meinem Schreibtisch und mache Einspielungen. Plötzlich ruft meine kleine vierjährige Nichte Sybille laut meinen Namen und rennt von der Küche weg in mein Arbeitszimmer. Ich schalte deswegen das Band ab und unterbreche meine Einspielungen. Die Kleine wollte nur einmal nach mir sehen. Nachdem sie wieder draußen war, spule ich das Band zurück – und höre. Und staune. Eine Frauenstimme, Esther, sagt sofort am Anfang meiner Aufnahme ganz deutlich: „Sybill ruft dich!“ Und dann höre ich sie, wie sie „Pauuuul“ ruft und höre ihre Schritte.“

      „Das heißt, dass diese Esther ihre Aussage gemacht hat, bevor deine Nichte in Aktion trat! Diese Esther wusste, dass deine Nichte dich gleich rufen wird.“

      „Ja. Und jetzt hört euch das an.“ Paul drückte auf den Startknopf, die beiden Spulen drehten sich, und dann kam Pauls Ansage und dann jene Stimme dieser Esther: „Sybill ruft dich!“ Und dann hört man die kleinen tapsenden Schritte und eine rufende Kinderstimme: „Pauuuul!“.

      Für ein paar Minuten war es wieder still im Raum, jeder dachte über diese so genannte Präkognition nach.

      „Wir mit unserem Zeitgefühl interpretieren dies so, aber wir haben auch schon festgestellt, dass es da „drüben“ ein anderes Zeitgefühl gibt. Vielleicht ist es ein Zustand zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ein erhöhter Standpunkt sozusagen.“

      Jochen, der Arzt meldete sich zu Wort.

      „Es ist verdammt erschütternd, wenn ich als Arzt von der Polizei gerufen werde, um die Leiche eines siebzehnjährigen Mädchens zu untersuchen, das bestialisch ermordet wurde; und ich andererseits nach drei Tagen ihre Stimme auf Tonband höre.“

      Er machte eine Pause, sah in die Gesichter der Freunde und fuhr fort. „Im Sommer vor drei Jahren wurde Susanne, ein Mädchen aus unserer Nachbarschaft und auch noch meine Patientin, von einem psychopathischen Killer mit achtzehn Messerstichen ermordet, sie wurde mehrfach vergewaltigt und so weiter und so weiter, mehr Details will ich nicht mehr nennen. Ich wurde zur Fundstelle gerufen und musste sie untersuchen. Ihr könnt euch vorstellen, welches Grauen mich überkam, als ich sie so im Wald liegen sah und sie als Susanne Dembrecht erkannte. Von ihren Freunden wurde sie Susi gerufen. Ich konnte die nächsten zwei Tage weder essen noch schlafen. Am dritten Tag aber habe ich mein Tonbandgerät eingeschaltet und bat um Kontakt mit Susanne. Mir lief es kalt den Rücken herunter, als ich ihre süße, etwas langsame Stimme hörte: <hier Susi> . Ich fragte, wie es ihr geht und ob sie mir den Namen ihres Mörders nennen kann. >Susi geht gut hier< und nach ein paar Sekunden dann…<Goddi….>.

      Gotthard Dimmer, also dieser Goddi war ein Polizei bekannter Spanner, der im Verdacht stand, mehrere junge Mädchen vergewaltigt zu haben, dem man es aber nicht nachweisen konnte. Ich habe lange überlegt, ob ich dem Kommissar meine Einspielung mitteilen sollte oder nicht. Ich habe es nicht getan, ich hatte nicht den Mut. Nach vier Wochen aber wurde dieser Gotthard Dimmer festgenommen und später als Mörder verurteilt.“

      „Ich kann mich so schwach an den Fall erinnern…,“ sagte Dieter Schelling, „..wieder ein Beweis für die Faktizität der Stimmen…“

      „Das muss man sich nur mal vorstellen. Liegt der tote Körper da ...und ein paar Tage später dann ihre lebendige Stimme,“ wiederholte sich Jochen.

      Gegen halb elf brachen sie auf, jeder fuhr mit einer neuen kleinen Erkenntnis und neuem Wissen wieder nach Hause.

      Fünfundvierzig Minuten später war er in Nidderau. Klara schlief schon. Er ging leise in sein Büro, machte eine Flasche Rotwein auf und trank ein Glas. Dann legte er ein Kassette ein und während er genüsslich den Wein trank, hörte er sich Carl Orff`s Carmina Burana an.

      In der Zwischenzeit hatten sich viele Interessenvereine manifestiert. Überall auf der Welt versammelten sich Menschen, die ebenfalls die Wiederholung der damaligen Sendung über Jürgenson in Schweden gesehen hatten. Sie experimentierten und diskutierten über dieses Phänomen. In Düsseldorf war der größte Verein für dieses Tonbandstimmenphänomen.