Dietrich Enss

PRIM


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gab keine direkte U-Bahn-Verbindung vom NSA-Haus in Parkchester zur Westside in Manhattan. Sie konnte entweder in fünfzehn Minuten zur Simpson Street Station laufen und von dort mit der Linie 2 bis zur W 72nd Street Station fahren, oder auf einen Bus der Linien 136 oder 4 warten und zur U2 hinüberfahren. Obwohl es bereits ziemlich warm geworden war, entschied sie sich zu laufen. Das hatte auch den Vorteil, dass sie sich unterwegs ein Sandwich kaufen konnte.

      Von der W 72nd Street Station benötigte sie keine fünf Minuten für die drei Blocks auf dem Broadway bis zur 69. Straße. Das William Alexander Bligh Gebäude lag nur zwei Häuser hinter der Kreuzung mit der Columbus Avenue. DATA TODAY war auf dem Eingangsschild nicht vermerkt, lediglich TODAY in der charakteristischen Scripta Quadrata, die auch die Titelleiste der Druckausgabe der Zeitung zierte.

      An der Treppe, die zur Eingangstür über dem Souterrain führte, gab es einen Schräglift für Behinderte mit einer auffällig großen Lastfläche. Er wurde sicherlich auch für Lastentransporte benutzt, ging es Alice sofort durch den Kopf, auch wenn die Druckerei in Brooklyn lag. Schließlich brauchte TODAY schwere Geräte im Rechenzentrum, und die modernen Hochleistungskopierer und Kühlaggregate waren auch nicht gerade leicht.

      Die Frau am Empfangstisch trug ein Headset. Als Alice an den Tisch trat, telefonierte sie und deutete Alice an zu warten. Alice stellte die Rucksacktasche mit ihrem Notebook auf dem Boden ab und sah sich um. Drei Fahrstühle, einer davon offenbar für Lasten. Daneben eine geschlossene Tür mit einem Treppensymbol. Rechts vom Empfangstisch befand sich nach der Aufschrift der Zugang zum Rechenzentrum. Eine Stahltür für die Sicherheit, dachte Alice, relativierte den Gedanken dann aber, weil sicherlich auch der Brandschutz eine feuerfeste Tür verlangte.

      Die Empfangsdame beendete das Telefongespräch und wandte sich Alice zu. »Sie sind bestimmt Miss Norwood.«

      »Hallo, ja.«

      »Ich bin Catherine Saunders. Hallo! Sie werden erwartet. Hier ist Ihre Karte für den Fahrstuhl. Fahren Sie in den ersten Stock! Linker Fahrstuhl. Fragen Sie nach Ronald Limpes!«

      Alice musste sich daran erinnern, dass sie nur eine lästige Praktikantin war, die man nicht am Empfang abholt. Der Fahrstuhl bediente neben dem Hochparterre nur zwei Stockwerke, obwohl Alice von der Straße aus vier Stockwerke gezählt hatte. Auf dem Schild für den zweiten Stock stand Redaktion. Sie drückte den Knopf neben dem Schild DATA TODAY.

      Die Fahrstuhltür im ersten Stock öffnete sich direkt in das Großraumbüro von DATA TODAY. Alice ging zum nächstgelegenen Arbeitsplatz, an dem eine junge Frau anscheinend versonnen auf den Bildschirm vor sich blickte, und fragte, wo sie Ronald Limpes finden könnte. Die junge Frau schaute sich um. Offenbar konnte man den ganzen Raum überblicken, denn sie fragte niemand anderen und rief auch nicht nach Limpes.

      »Er ist im Moment nicht da. Gehen Sie doch bitte zu unserem Chef, Robert Talburn. Er ist da drüben im Glaskasten.« Sie wies mit der Hand auf Talburns Büro. Talburn saß dort mit Blickrichtung in den Raum hinter mehreren Bildschirmen. Alice konnte nicht sehen, ob er sie bemerkt hatte, während sie zum Glaskasten hinüberging.

      Sie wusste, dass sie mit ihrem Aussehen und ihrem bestimmten Auftreten bei ersten Begegnungen in aller Regel einen enormen Eindruck machte, jedenfalls bei Männern. Dass es hier auch so sein würde, hatte sie nicht erwartet, denn sie kam als Bittstellerin und wusste, dass keine große Begeisterung über ihr Kommen bei DATA TODAY vorhanden sein konnte. Vielleicht hing es auch damit zusammen, dass sie Bob Talburn ja bereits aus ihren Recherchen kannte, während er sich unter Ann-Louise Norwood wahrscheinlich ein bebrilltes Durchschnittsmädchen vorgestellt hatte, das Mathematik studierte, wenn er sich überhaupt darüber Gedanken gemacht hatte.

      Jedenfalls wusste Talburn offenbar nichts zu sagen und schaute sie lediglich an, als käme sie von einem anderen Stern. Sie stellte sich vor, nannte seinen Namen, als ob sie ihn schon lange kannte, erwähnte Ferrentil und dankte ihm dafür, dass sie bei DATA TODAY wertvolle Hinweise für ihre Arbeit bekommen würde. Trotz seines vor Verblüffung reglosen Gesichts konnte sie sehen, dass seine Grübchen in der Wirklichkeit noch anziehender wirkten als auf den Fotos, die sie gesehen hatte.

      Schließlich antwortete er ihr, unterbrach sich jedoch erleichtert, als Ronald Limpes den Glaskasten betrat. Talburn stellte sie einander vor, erklärte ihr, dass Limpes sein Stellvertreter sei und dass sie sich mit allen Fragen und Problemen an ihn wenden sollte. Bei diesen Worten schaute er Limpes an, als ob er ihn am liebsten verprügeln wollte. Er war offenbar froh, dass Limpes sie sogleich entführte.

      Er hat eigentlich nichts Professorales an sich, eher etwas von einem überforderten Grundschullehrer, der sich einmal neue Schuhe kaufen müsste, dachte Alice, als Limpes sie an einen zur Zeit nicht besetzten Arbeitsplatz etwa in der Mitte des Büros führte. Sie setzte sich auf den angebotenen Stuhl, und Limpes zog sich einen anderen Stuhl heran. Im Gegensatz zu Talburn sah Limpes sie nur zeitweise an, wenn er mit ihr sprach.

      »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nicht in Empfang genommen habe! Schließlich hatten Sie sich ja angekündigt, nicht wahr. Also, Bob Talburn hatte Sie angekündigt. Ohne Uhrzeit, da konnte ich nicht immer hier sein. Ich muss oft etwas außerhalb des Büros erledigen.«

      Alice nutzte eine kurze Pause, um ihn zu unterbrechen: »Das tut mir leid. Ich wusste nicht, wie lange ich vom Haus meiner Tante in der Bronx bis hierher brauchen würde, und ich bin erst heute Morgen aus Newport gekommen. Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Bereitschaft mir zu helfen, aber ich möchte Ihre Arbeit so wenig wie möglich stören.«

      Limpes schaltete den Bildschirm ein, an dessen obere rechte Ecke jemand einen Marienkäfer aus Karton geklebt hatte, gab ein Passwort ein und rief mit Hilfe einer Maus die Internetseite von DATA TODAY auf.

      »Dann sind Sie ja früh aufgestanden, nicht wahr. Hier auf der Internetseite können Sie sich erst einmal über uns informieren. Wir machen eigentlich nichts Besonderes, auch wenn wir einen ausgezeichneten Ruf in Fachkreisen haben. Sie müssen ja schon vor 5 Uhr aufgebrochen sein. Mit Fachkreise meine ich Leute, die Informationen über Personen suchen. Lebensläufe. In der Regel gerade gestorbene Personen. Für Nachrufe. Deshalb nennen wir unsere Datensammlung die Katakombe. Etwas respektlos gegenüber den noch Lebenden, nicht wahr? Wir bezeichnen sie hier manchmal als Zukunftsleichen. Auf Eis. Nur für den Fall, dass Sie das mal hören. In Krankenhäusern wird auch oft über Patienten gelästert. Suchen Sie eine Person? Das hätten Sie auch von Newport oder von ihrer Universität aus tun können. Den Käfer hat Sarah angebracht. Sie hat Urlaub. Stört er Sie? Sie können ihn wegnehmen. Das war vor 4 Uhr heute Morgen, schätze ich, nicht wahr?«

      Alice wusste nicht, worauf sie antworten sollte, und sie überlegte, ob sie überhaupt auf seine Fragen oder wirren Bemerkungen eingehen sollte. Sie entschied sich dagegen.

      »Danke, Mr. Limpes. Ich richte mich hier kurz ein, dann prüfe ich mal, wie weit ich mit dem normalen Internetzugang von DATA TODAY komme. Ich werde dann sicherlich meine Fragen besser präzisieren können, die ich Ihnen später vorlegen werde.« Bei diesen Worten holte sie ihr Notebook aus der Rucksacktasche, schob Sarahs Tastatur und Maus samt Unterlage etwas nach links und legte es rechts daneben auf den Tisch.

      Limpes war offensichtlich von ihrem entschlossenen Auftreten beeindruckt, jedenfalls so weit, dass er aufstand und mit den ungewöhnlich knappen Worten: »Okay, machen Sie das!« in Richtung seines Arbeitsplatzes fortging. Der war nur drei Tische von ihrem entfernt.

      Alice wunderte sich darüber, dass weder Talburn noch Limpes sie den anderen im Büro vorgestellt hatte. Wie in dem FBI-Bericht beschrieben, arbeiteten ungefähr dreißig Leute in dem Raum, etwa die Hälfte davon Frauen. Die Annäherungsversuche dieser Belegschaft beschränkten sich auf gelegentliche verstohlene Blicke, natürlich mehrheitlich von den Männern. Sie ignorierte diese Blicke und bemühte sich, nicht durch zu schnelles Einsteigen in die Welt von DATA TODAY aufzufallen. Wie eine Anfängerin klickte sie sich durch die ihr nur zu gut bekannte Internetpräsentation und die Bildschirmseiten, auf denen man Anfragen an DATA TODAY richten konnte. Mit ein paar geschickten Befehlen, die man auch als irrtümliche Eingaben hätte interpretieren können, stellte sie fest, dass ihre sämtlichen Ein- und Ausgaben registriert wurden. Das hatte sie erwartet, und sie stellte sich die Frage, ob das auch für alle anderen Terminals im Raum zutraf.