Mond anheulten und wilde Jagden als angenehmen Zeitvertreib betrieben. In der Monarchie gab es bei den Menschen im Westen Könige und Fürsten, die ihre Untergebenen mit Pacht, Steuern und willkürlichen Zwangsversteigerungen das Leben unerträglich machten – gab man hier einem Werwolf die Gelegenheit zur Jagd, war er schon zufrieden. Baron Glofort im Süden, beispielsweise, konnte mit Gold nichts anfangen und ließ sich von seinen Untergebenen in Hasen auszahlen. Doch über Lyren erzählte man sich etwas anderes: „Seine Lordschaft wird nicht erbaut sein, dass Ihr seinen Platz einnehmt. Er soll ungehobelt und brutal sein, wenn Ihr mir die Bemerkung gestattet.“
„Ist hiermit stattgegeben“, meinte Claudile und bewegte ihre Hand frei nach der Etikette, wie es sich einer Dame am Hofe gebührte. „Mir scheint, dass es dem Lord an Manieren mangelt“, bemerkte sie spitz gekünstelt. „Welch Affront!“
Francesco konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Ihr sollt es auch nicht übertreiben. Ein bisschen hiervon, ein bisschen davon. Versteht ihr?“
Sie nickte knapp.
An den Fenstern zog die Landschaft dahin. Das Rumpeln und Krachen der Räder mischte sich mit dem gelegentlichen Wiehern der Pferde. „Eine Lady muss lange Zeit still und duldsam sein können. Sie ist die Repräsentantin des Hauses, wenn der Herr nicht Zuhause ist. Sie hütet die Kinder, übt sich in Geduld um dann ihrem Gemahl zu Diensten zu sein.“
Eine Bremse flog durchs Fenster, begutachtete die potenzielle Opfer und entschied sich für das Falsche. Behutsam landete sie auf ihren Nacken.
„Sie näht die Kleidung, stopft die Socken, wäscht die Wäsche und organsiert die gesellschaftlichen Pflichten, die da wären...?“ Francesco sah sie über das Buch kritisch an. Er konnte förmlich spüren, wie ihre innere Unruhe wuchs.
„Die Geburtstage merken, natürlich die örtlichen Gegebenheiten wie Feste…“ Claudile verscheuchte das Insekt kurz und bemühte sich um Kontrolle. „Die Lakaien müssen stehts an ihre Pflichten erinnert werden. Müßiggang ist der Zerfall eines jeden Haushalts. Bestrafungen fallen in das Amt des Gatten…“ Für einen Moment hielt sie inne, als wäre ihr ein neuer Gedanke gekommen. „Wen soll ich heiraten? Will ich das überhaupt!?“
„Einen stattlichen Werwolf, möchte ich meinen.“ Francesco lächelte belustigt, als er ihre großen Augen sah. „Die Alemonts sind eine hochgeachtete Familie und eine lohnende Partie, möchte ich anmerken. Euer Vater hat schließlich die Khane der Reiche verbunden. Euch zur Frau zu nehmen, bedeutet, dem Thron einen gewaltigen Schritt nahe zu sein. Eure Mutter und eure Brüder wählen den Richtigen aus…“
Das Insekt stach.
Claudile wand sich, fauchte wie wild und schlüpfte schnell aus dem Kleid, bevor es zu einer Katastrophe kommen konnte. Francesco kannte diesen Ausbruch zur Genüge, drückte sich, soweit es ging, in die hinterste Ecke und verschloss die Augen, während die Natur ihr Recht einforderte.
Unsichtbare Kräfte formten Fleisch und Muskeln neu, während Sehnen sich wie Drahtseile wie ein Mantel um die Verwandelte legte. Sie waren die Quelle ihrer Macht und auch der Grund für ihre Unverwundbarkeit. Manches Schwert hatte sich schon an Werwolfshaut etliche Scharten zugezogen. Horn wuchs rasend schnell über ihre Finger- und Fußnägel, formten sie neu, während sich Fell um das rote Haar herumbildete. Sekunden nur – dann sprang ein Blitz aus Muskeln und Kraft aus der Kutsche.
„Eure Ladyschaft“, sagte Francesco gedehnt und schlug das Buch zu, während draußen die Pferde wild vor Angst zu wiehern anfingen. Äste brachen, irgendwo gellte ein Tier panisch auf. Francesco konnte es ihm nicht verdenken.
Die Kutsche war zum Halten gekommen. Der ehemalige Soldat stieg aus und begutachtete die Landschaft um sich herum. Mehrmals streckte er sich, während es um ihn herum im Geäst hier und da knackte.
Der Kutscher drehte sich verärgert zur Seite. „Schon wieder, was? In dem Tempo kommen wir nie an.“
„Schon wieder, ja“, bemerkte Francesco lächelnd. „Geben wir Ihrer Ladyschaft etwas Zeit.“ Er schlug die Tür hinter sich zu und setzte sich auf den Kutschbock.
Der Kutscher reichte einen Flachmann. „Unter uns: ich hasse sie alle.“
„Nicht so laut.“
„Die Werwölfe sind unnatürlich“, begann er leise. „Einer von ihnen hat meinen Vetter gefressen.“
Erinnerungsbilder huschten an Francescos inneren Auge vorbei. Vor allem Mahlzeiten aus der Zeit, als er ihr noch nicht gesagt hatte: das gehört sich nicht.
„Deshalb kann ich sie nicht ausstehen“, meinte der Kutscher und gab mit den Zügeln das Zeichen weiter zufahren. „Es heißt zwar, einen Wolf könnte man zähmen, aber ich finde, ein Wolf bleibt ein Wolf. Man darf ihnen nicht trauen. Die Bosheit liegt in ihrer Natur, stimmt´s? Sie können praktisch jederzeit zu einem wilden Tier werden.“ Dem Kutscher fröstelte es. „Es heißt, im Süden leben Menschen und Vampire in einer Republik. Seid Ihr schon einem Vampir begegnet? Können nicht so schlimm sein, finde ich.“
Anders als in Norfesta lebten in der Ersten Republik tief im Süden Vampire und Menschen zusammen – zumindest auf dem Papier. Es existierte nachweislich eine Aristokratische Republik, die von einem geschlossenen Kreis von Patrizierfamilien bestimmt wurde. Unter der Führung der Großen Gilden wurde seit zweihundert Jahren eine Erbmonarchie erfolgreich verhindert. Der letzte König war Brunoq Gediman III., der genau vor 213 Jahren in die Verbannung ging. In der Silent Ages, die fast 130 Jahre anhielt, hielt sich die Erste Republik aus den Machtkämpfen zwischen den Königen des Nordens und des Ostens heraus und baute ihr Machtzentrum weiter aus. Heute war sie eine reiche See- und Wirtschaftsmacht, die im Südosten mit der Grauen Schar und einem losen Piratenbund zu kämpfen hatte.
„Man sucht sich seine Herren nicht aus“, bemerkte Francesco und gab den Flachmann wieder zurück. „Ich stamme aus Lornti de la Vogh, das liegt nördlich an der Hauptstadt. Dort bin ich mal einem Vampir begegnet.“
„Wie war es?“ Interessiert rückte der Kutscher näher.
„Sie sind… alt. Die meisten von ihnen. Die jungen bewegen sich wie Elfen…“ Er dachte an das eine Mal zurück, als seine Familie Besuch von einem sehr alten und mächtigen Vampir bekommen hatte. Jener Baron, der über die Ländereien wachte und eines Abends an der Schwelle stand. Hochaufgerichtet, fein gekleidet und dünn. Aber von einer Aura umgeben, die Francesco bis heute nachdenklich stimmte: Seht meine Herrlichkeit! Ich schenke euch Leben oder Tod. Meine Berührungen sind wie kühles Wasser, meine Worte verwandeln jedes Bauernlied in eine Oper, ich bin dem Himmel und der Hölle näher als die Erdgebundenen! Er schluckte trocken. „Unser Meister verlangte jedes Jahr einen Blutzoll. Ich hatte eine Schwester, und…“ Er unterbrach sich und schaute den Kutscher von der Seite aus an. „Man kann Werwölfe nicht mit Vampiren vergleichen. Die Welt ist, wie sie ist.“
„Elfen kann ich auch nicht leiden.“
„Gibt auch nicht mehr viele von ihnen.“ Er griff in seinen alten Soldatenmantel und holte Pfeife und Tabaksbeutel hervor. Er begann, sie umständlich zu stopfen. „Aber etwas Gutes haben sie ja.“
„So? Und was?“
„Schaut euch um.“ Francesco entzündete seine Pfeife und schmauchte große Kringel, bevor er fortfuhr. „Norfesta hat keine Banditen mehr.“
Beide beobachteten, wie weit vor ihnen ein Grizzly aus dem Unterholz brach und kurz in ihre Richtung schaute, bis er sich beeilte fortzukommen.
„Die Kleine ist ja nett und so“, gurgelte der Kutscher, indem er sprach und gleichzeitig sich den letzten Rest seines Alkohols einverleibte. Er hustete kurz, dann fuhr er fort: „Claudile soll kein echter Werwolf sein, sagt man sich. Hat nur Flausen im Kopf. Sucht ständig die Nähe von Menschen. Ist vielleicht ein Seitensprung, so sagt man. Hatte wohl ein rothaariger Bauer ein Treffen mit der Königin…“
„An deiner Stelle wäre ich vorsichtig“, mahnte Francesco und sah ihn übertrieben scharf an. „Claudile ist scharfsinnig. Sie hat Feuer. Aber sie ist definitiv die Tochter vom Großen Khan der Wölfe. Glaub nicht alles, was