Inga Kozuruba

Rette uns, Elaine!


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hergefallen. Ob sie danach von Schuldgefühlen geplagt werden würden oder allesamt tot wären, würde sich niemals klären, weil es niemals dazu gekommen war. Dennoch sollte der Geruch stärker sein.

      Und das wurde er auch. Stärker und stärker. Langsam bekam Elaine es mit der Angst zu tun, weil sie bis auf den Geruch nichts bemerkte. Wo war das Gewebe, die Fesseln? Wo war die Wärme und die Feuchtigkeit um sie herum. Halt, da war sie. Es wurde nass. Aber es war zu kalt. Irgend etwas stimmte nicht mit ihrem Traum. Er war zwar so lebhaft wie noch nie, seit sie sich erinnern konnte. Aber er war falsch.

      Sie hatte immer noch die Augen geschlossen, fiel ihr auf. Darum konnte sie nichts sehen. Sie brauchte einige Augenblicke, bis sie es wagen konnte, sie zu öffnen und zu sehen. Irgendwie war ihr sehr mulmig zumute. Irgendetwas war schief gelaufen, auch wenn sie nicht wusste was. Es fühlte sich nicht so an, als wäre sie dort, wo ihre Freunde gefangen waren. Sie spürte einen kühlen, feuchten Windzug auf ihrem Gesicht. Er wehte Wassertropfen gegen ihre Haut. Regnete es etwa?

      Sie öffnete die Augen. Sie blinzelte mehrmals, bis sie begriff, was sie sah. Sie stand auf einer Straße in der Hauptstadt. Die Aussicht kannte sie. Diese Straße war das erste, das sie bei ihrer Ankunft in der Hauptstadt gesehen hatte, als sie aus der unterirdischen Station des Tornado nach oben kam. Plötzlich traf der Lärm des Verkehrs sie wie ein Hammer, zusammen mit einem neuen Windzug. Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus, zugleich atmete sie erleichtert aus. So real konnte kein Traum sein. Sie war wieder in der Hauptstadt.

      Nur sah sie anders aus als Elaine erwartet hatte. Sie wusste zwar nicht genau, was sie erwarten sollte, aber das verzerrte Spiegelbild der Stadt in der Tiefe ließ Ruinen und Leichen erwarten, aber keine intakte Stadt. Bis auf den wolkenverhangenen Himmel und die Kälte – es musste Herbst sein, keine Frage – bis auf die Jahreszeit also war die Stadt genau so, als wäre Elaine das erste Mal da. Langsam drehte sie sich um und sah nach hinten. Es gab noch etwas, das anders war. Der Eingang zur Station des Tornado war verschlossen. Ein Stahlgitter war davor, an manchen Stellen zwar angerostet, aber sicherlich stabil genug, um die Bürger der Stadt draußen zu halten. Mehrere Ketten wanden sich zwischen den Metallstäben, mit Vorhängeschlössern zusammengehalten.

      Ein Schild hing an der Absperrung. Elaine ging näher hin und las: „Auf Grund einer baulichen Maßnahme ist diese Station bis auf weiteres gesperrt.“ Darunter war ein Zahlencode angegeben, vermutlich irgend eine Form der Kennzeichnung durch die Behörde. Elaine sah sich erneut um. Ein Schild? So etwas hatte sie in der Hauptstadt noch nie gesehen. War sie hier richtig? War sie nicht aus Versehen in eine von den Geschichten geraten, die Corry ihr als Ablenkung gezeigt hatte? Elaine war sich nicht sicher. Wenn es doch nur jemanden hier gäbe, der sie erkennen würde!

      „Hey, Ellie! Was machst du denn hier?“, hörte sie eine jugendliche Stimme und ihr Herz machte einen Satz. Sie drehte sich um und sah Boo, der noch ein Stückchen älter geworden war, aber ansonsten der alte zu sein schien.

      Er grinste sie an: „Und warum trägst du dieses niedliche Pyjama mitten auf der Straße?“

      Elaines Augen weiteten sich und sie wurde rot. Sie hatte ganz vergessen, an angemessene Kleidung zu denken! Boo trug seine gewohnten schwarzen Sachen, nur diesmal hatte er Boots und seinen ausgefransten Mantel an.

      Sie lächelte verlegen: „Ich habe geschlafen, darum. Aber es ist nichts, was sich nicht korrigieren lässt.“ Sie dachte an die Lieblingskleidung, die sie im Herbst trug – Jeans, leichter Pullover, Lederjacke, Stiefel.

      Er nickte und grinste: „Siehst gut aus. Willkommen zurück.“

      Elaine ging lächelnd zu ihm und umarmte ihn: „Ich habe dich vermisst.“

      Boo erstarrte für einen Augenblick, drückte sie dann fest an sich: „Ich dich auch, Süße.“

      Sie sah ihn fragend an – inzwischen war er ein wenig größer als sie – er grinste zurück: „Wollte nur sehen, wie du drauf reagierst. Mach dir keinen Kopf. Aber sag mal, wieso bist du hier?“

      Sie war froh, dass er die Frage stellte, und gleichzeitig beunruhigt. Es gab also kein Problem hier? War sie doch falsch? „Ich bin mir nicht sicher, Boo. Und vor allem... ich hatte die Hauptstadt anders in Erinnerung, als ich das letzte Mal ging. Wie viel Zeit ist denn vergangen?“

      Boo setzte sein markantes Grinsen auf, das zwar nicht mehr dasselbe war wie früher, als er noch jünger war, aber immer noch nach Boo aussah: „Eine Weile, schätze ich. Du weißt doch, hier ist die Zeit seltsam.“

      „Hm... wenn ihr mich nicht erwartet habt, wieso bist du dann hier?“

      Er grinste wieder: „Was für eine Frage – ich ging spazieren und hatte Glück, auf dich zu treffen.“

      Das klang einleuchtend. Er hatte sie schon bei ihrer ersten Ankunft gefunden. Wieso nicht auch jetzt. Er sprach inzwischen weiter: „Ich sehe, du bist etwas verwirrt. Ich denke, du kommst am besten mit zu mir, und dann klären wir alles gemütlich bei einem Tee. Oder bei etwas anderem, wenn’s dir lieber ist.“

      Er zwinkerte ihr zu und sie rollte die Augen. Sollte das eine Anspielung auf ihre letzten öffentlichen Begegnungen sein, in denen er nichts besseres zu tun hatte, als sie ins Bett zu bekommen? Er lachte als er ihren Gesichtsausdruck sah: „Keine Bange, Ellie, ich werde dich schon nicht auffressen. Aber vielleicht hast du einfach nur keine Lust auf Tee.“

      Jetzt lachte sie auch. Was auch immer in der Zwischenzeit passiert war, Boo schien wieder Vernunft angenommen haben. Er bot ihr mit einem entwaffnenden Lächeln den Arm an, sie machte schmunzelnd einen Knicks und hakte sich bei ihm ein. „Hey, jetzt hast du keine Probleme mehr, mit mir Schritt zu halten“, bemerkte er.

      Elaine nickte und war erleichtert. Auf die Verwirrung und die Schwierigkeiten ihres ersten Abenteuers konnte sie jetzt gut verzichten. Sie gruselte sich bei dem Gedanken, erneut Ivana oder Alexandre gegenüberstehen zu müssen. Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie die Agentin sie damals gewürgt hatte, um nicht aus Corrys Körper verbannt zu werden. Corry hatte ihnen nie gesagt, woran die Agentin gestorben war. Alexandre war nicht besser. Er hatte tatenlos zugesehen, während Ivana Sir Bason mit Drohungen und Gewalt befragt hatte, und war sogar begeistert von der Vorstellung, die sie geboten hatte. Ob die beiden an diesem Abend noch etwas miteinander hatten? Sie kamen viel zu spät zurück. Würden sie jetzt auch ein Paar sein? Mussten sie fast, wenn sie sich für Corry und Irony ausgeben wollten.

      „Erde an Ellie – du grübelst wieder!“, rief Boo aus, „und außerdem sind wir fast zu Hause!“

      Elaine blinzelte, und tatsächlich, sie standen vor dem Blockhaus Nummer 26 im Blauen Viertel. Sie sah, dass seine Haare ihm inzwischen durchnässt ins Gesicht hingen, und spürte, dass es ihr nicht anders ging. Er sah unverschämt gut aus in diesem Zustand. Und so wie er sie ansah, wusste er es ganz genau. Er hielt ihr die Tür auf, die noch immer kein Schloss hatte, und führte sie hinein.

      „Na, Lust auf eine abenteuerliche Fahrt mit dem Aufzug, oder nehmen wir den langweiligeren Weg über die Treppe?“

      Elaine musste tatsächlich für einen Augenblick nachdenken. Rauf ins siebte Stock zu laufen war für ihn mit seiner Ausdauer sicherlich kein Problem, aber auch sie als Läuferin sollte keine Mühe haben. Auf der anderen Seite sollte sie als Träumerin genug Kontrolle über einen Aufzug ausüben können, um ohne irgend welche Mätzchen nach oben zu kommen. Sie schmunzelte: „Lust auf eine Wette, Boo?“

      Seine Augen weiteten sich und er stotterte bei den ersten Worten: „W-wie ma-meinst d-du das, Ellie? Und worauf?“

      Sie grinste: „Darauf, dass ich uns im ersten Anlauf an unser Ziel bringe.“

      Jetzt grinste auch er: „Ha! Jetzt werd' mal nicht übermütig! Da mach’ ich mit! Ich bekomme einen Kuss von dir, wenn du’s nicht schaffst.“

      Elaine zog eine Augenbraue hoch: „Okay – einen Kuss. Und wenn ich richtig liege, dann hörst du endlich auf, mich mit deinem Pseudo-Geflirte zu nerven, okay?“

      Er grinste und reichte ihr die Hand: „Fein. Dann zeig, was du drauf hast.“

      Sie stiegen in den Aufzug, Elaine