Inga Kozuruba

Rette uns, Elaine!


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setzte sich langsam in Bewegung. Elaine konzentrierte sich. Der Aufzug fuhr ruhig nach oben. Komm schon, Mädchen, du bist schon so oft mit dem Aufzug gefahren, und der hat dich immer dort abgeliefert, wo du hin wolltest. Das heißt, einmal war es anders. Das eine Mal, als sie Sir Kalderick einen Besuch abgestattet hatten, um nach einem Hinweis über das Ziel ihrer Suche zu fragen. Corry hatte damals recht mit ihren Bedenken. Aber sie hatten keine andere Wahl, als sich der durchgeknallten Maschine zu überlassen, die sie einmal fast in den Himmel katapultiert, und das andere Mal fast in den Boden gerammt hätte, bevor sie ihre Gefangenen in die Freiheit entließ – viel zu viele Stockwerke von ihrem Ziel entfernt, aber wenigstens darüber.

      Das ruhige Geräusch der Maschine geriet ins Stocken. Boo setzte ein fieses, triumphierendes Grinsen auf. Elaine schloss die Augen und hielt die Luft an. So cool die Erinnerung im Nachhinein auch war, die Situation selbst war damals unangenehm gewesen – und dieser Ausdruck war eine Untertreibung. Und jetzt hatte sie keine Lust auf ein derartiges Rodeo. Sie wollte einfach nur oben ankommen, und als netten Nebeneffekt endlich das Problem mit Boo aus der Welt schaffen. Konzentriere dich! Willenskraft, Ellie!

      Das Licht in der Kabine flackerte kurz, dann ging es reibungslos weiter. Boo wirkte enttäuscht. Sie hörten das Ping, das ihre Ankunft ankündigte, dann gingen die Türen auf. Sie waren im siebten Stock. Elaine grinste Boo zu, und winkte ihm zu gehen. Er ließ ihr wiederum den Vortritt und schlenderte dann raus. Kaum hatte er seinen zweiten Fuß aus der Tür, schnappte sie zu und der Aufzug rauschte nach unten. Es wirkte so, als ob er wütend war.

      Elaine blieb stehen und sah zu Boo: „Na, was habe ich gesagt? Was habe ich gesagt?“

      Er rollte die Augen und grinste dann: „Fein, du hast gewonnen.“

      „Ja, das habe ich. Denk an die Abmachung.“

      Er hob feierlich die rechte Hand: „Okay, ich werde nicht mehr zudringlich sein. Es sei denn, du bittest mich darum.“ Er grinste wieder.

      Sie rollte die Augen: „Unverbesserlich.“

      Dann schnappte ihr Mund zu, und sie gab sich größte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie im Zusammenhang mit Boo ein Wort gesagt hatte, das bisher immer dem Grafen von Karpat vorbehalten war, an den sie aus einer unterschwelligen Angst nicht zu denken wagte. Wie es ihm wohl ergangen war?

      Boo schloss die Tür auf, als sie ihn fragte. Er winkte sie rein, folgte nach, schloss die Tür ab – und sie war von Dunkelheit umgeben. Nein, beinahe. Ein paar Teelichter gab es in diesem Gang. Und aus dem Spalt unter der Küchentür kam ebenfalls etwas vom diffusen Herbstlicht. Der klaustrophobische Gang, sie erinnerte sich wieder. Jedenfalls war es zu dunkel, um auch nur eine Zeile der auf die Wände geschriebenen Gedichte zu lesen. Und für einige Augenblicke war sie wieder von der feuchten, süßen, warmen, stickigen, klebrigen Dunkelheit aus ihrem Traum umgeben und etwas leckte über ihre Wange. Dann aber war die Empfindung verschwunden, als Boo die Tür zur Küche öffnete und sie sich in der Wohnung ihrer Freunde wiederfand. Und zugleich strömten ihr Fragen in den Kopf, die sie vorher nicht stellen konnte.

      „Also, Boo, was macht der Graf? Spielt er immer noch Krieg irgendwo oder hat es sich inzwischen alles erledigt? Wieso steht die Hauptstadt wieder? Wir haben gewonnen, oder? Hat man alles aufgebaut? Und was machen der Prinz und Malvina? War es ein Junge oder ein Mädchen?“, die Fragen sprudelten nur so aus Elaine.

      Boo grinste: „Halt, halt, halt. Nicht so schnell. Setzen wir uns erst mal hin.“ Also tat sie genau das, während Boo den Tee aufsetzte. Er wartete ans Fensterbrett gelehnt, und sie sah ihn erwartungsvoll an.

      „Also gut, wo fange ich an. Ja, richtig, wir haben gewonnen. Ist das nicht irre? Dabei hätte kaum jemand auf uns gesetzt. Sie haben die Stadt aufgebaut. Und – na ja, wir leben jetzt wie wir wollen. Die Agenten bewachen die Grenze, Kryss und Margot sind auch bei der Truppe, wobei das kaum noch wichtig ist. Die Tiefe wird Jahrhunderte brauchen, bis sie sich erholt. Die Behörde macht wieder ihren Job und weiter nichts. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann sind’s bei Malvina Zwillinge geworden.“ Boo zwinkerte ihr zu und sah nach dem Teekessel.

      „Tja, Corry und Irony sind jetzt Freelancer, wenn man es so sehen will. Die ziehen jetzt zusammen in der Weltgeschichte herum und lassen sich von Leuten anheuern, die Hilfe brauchen. Wobei“, er grinste, „mehr als ein Dach über dem Kopf und was zu essen verlangen sie nicht. Brauchen sie auch nicht. Leben von Luft und Liebe, oder fast, wenn du verstehst, was ich meine.“ Er grinste.

      „Na ja, Leo ist natürlich bei seiner Familie. Er hat das Humpty Dumpty in Gedenken an Hank wieder aufgebaut und führt die Kneipe jetzt, und Siren singt jetzt immer dort. Irgendwie cool. Tja, und ich hüte die Wohnung hier, für den Fall dass unser dynamisches Duo mal wieder kommt. Oder du. Wobei wir die Hoffnung fast schon aufgegeben hatten. Immerhin ging es uns verdammt gut in letzter Zeit. Und das ist jetzt schon eine Weile, das kann ich dir sagen.“

      Elaine nickte, und ließ sich von Boo den frischgebrühten Tee einschenken. „Boo, du hast noch jemanden vergessen.“

      Er nickte und war wieder ernst: „Ich hab’ ihn nicht vergessen, Ellie. Ich fürchte nur, in dieser Hinsicht gibt es kein Happy End. Er hat’s selbst gesagt, die Adligen sterben mit Vorliebe durch brutale Gewalt.“

      Elaine wurde blass und ließ beinahe ihren Tee fallen. Mit beiden zitternden Händen stellte sie langsam die Tasse ab. „Wie... wie ist es passiert?“

      „Ich war nicht dabei, ich hab’s nur gehört. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, selbst in den Kampf zu ziehen. Er wollte unbedingt als Anführer voranschreiten. Diejenigen, die diese Schlacht überlebt hatten – erstaunlich viele, aber er war nicht dabei – sagten, er hat deinen Namen gebrüllt, als er von diesen riesigen Biestern umzingelt wurde, zu denen jetzt auch Kryss gehört. Das war das letzte, das man von ihm gehört hatte.“

      Elaine bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und begann zu schluchzen. Selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie die Tränen nicht aufhalten können. Hatte sie ihm nicht gesagt, er sollte nach ihr rufen? Sie wäre gekommen. Sie wäre gekommen, egal was danach passiert wäre. Sie hätte ihn erst gar nicht verlassen sollen. Sie hatte doch gewusst, welche Art von Tod ihm irgendwann bevorstand. War ihr denn nicht klar, dass ein Krieg solcher Ausmaße die perfekte Gelegenheit für ein unbeschreiblich grausames Ende war? Sie hätte seinen Tod verhindern können, und wer weiß was noch? Vielleicht wäre die Hauptstadt jetzt wirklich ein Traumland? Sie hätte nicht gehen sollen.

      Eine Hand lag auf einmal auf ihrer Schulter, die tröstend sein sollte. Sie war es in gewissem Maße, aber es war nicht genug. Elaine hatte das Gefühl, sie würde niemals aufhören können zu weinen. Boo ging neben ihr in die Hocke und zog sie an sich. Er flüsterte irgend etwas auf sie ein, aber sie begriff den Sinn seiner Worte nicht. Nur sehr langsam versiegte der Tränenstrom. Wäre sie nicht schon von Kopf bis Fuß durchnässt gewesen, sie wäre es nun geworden. Aber schließlich konnte sie nicht mehr. Tränen gab es keine mehr, Elaine schluchzte dennoch weiter. Boo hielt sie immer noch im Arm, so lange, bis sie auch endlich zu zittern aufgehört hatte und nur noch dumpf vor sich hin starrte.

      „Ich hätte es verhindern können, Boo. Das und noch so vieles mehr.“

      Er drehte ihr Gesicht zu sich und sah in ihre Augen, und wäre sie nicht erschöpft gewesen, dann hätte sie bei diesem Blick erneut zu heulen angefangen. Sie wusste, dass er den Grafen als Vorbild genommen hatte, als er sich am Hofe unter die Leute gemischt hatte, um für Corry all das aufzuschnappen, was sie niemals bemerken sollte.

      Er sah sie beinahe mit dem Blick an, den sie von Alexey kannte: „Mach dir keine Vorwürfe, Ellie. Er wollte, dass du in Sicherheit bist. Er wollte das, obwohl er dich am liebsten niemals gehen lassen hätte. Er hätte dich am liebsten bei sich ans Bett gekettet, und Hunderte von Wachen aufgestellt, damit du dort bleiben würdest. Er war von dir besessen, aber er hat dich fortgeschickt. Damit du sicher bist. Damit du lebst. Du kannst nichts dafür. Keiner von uns kann das.“

      Sie wusste, dass er recht hatte, aber dennoch fühlte sie sich nicht besser. Zumindest nicht viel besser. Ihr gefiel die Richtung nicht, die ihre Gedanken nach seinem letzten Satz eingeschlagen hatten. Was war, wenn doch jemand von uns daran schuld war? Was ist, wenn es dieses vermaledeite