J. B. Hagen

Jahrmarkt des Todes


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ganz andere Ziele verfolgten.

       Moritz streifte die Kapuze seiner Öljacke über und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Von dort aus wollte er mit der S-Bahn und dem Bus bis zum Hamburger Hafen fahren. Er hoffte, auf einem der Schiffe als Schiffsjunge unterzukommen. Das Ziel war ihm ganz egal. Es konnte überall nur besser als zu Hause sein. Doch das Schicksal hatte andere Pläne mit ihm.

       Am Hafen angekommen, musste er bald erkennen, dass er sich die Sache zu einfach vorgestellt hatte.

       »Na, du Milchbubi. Müsstest du nicht um diese Zeit bei Mama sein?«, fragte ein bärbeißiger Matrose, der gerade, ebenso wie mehrere andere, mit Einladen beschäftigt war.

       »Ich dachte, ich könnte euch vielleicht helfen. Ich sehe nur so zart aus, kann aber zupacken, wenn’s sein muss«, sagte Moritz entschlossen.

       »Bist von zu Hause durchgebrannt, was? Haben dich das Fernweh und die Sehnsucht nach fremden Ländern gepackt? Wie alt bist du denn, vierzehn?«

       »Nein, fünfzehn. Nächsten Monat werde ich sechzehn.«

       »Dann komm nach deinem Geburtstag wieder, und vergiss nicht die Einwilligung deiner Eltern. Ohne die wirst du beim Käpt’n kein Glück haben. Und auch sonst will ich dir nicht viel Hoffnung machen. Hier kommt alle Naselang so ein Grünschnabel her, aber heutzutage läuft das über die Reederei. Da kannst du ordnungsgemäß ein Praktikum oder eine Ausbildung machen.«

       »So lange will ich aber nicht warten. Nehmt mich doch gleich mit, bitte!«

       »Sag mal, hörst du schlecht oder hast es an den Ohren? Zieh Leine, und geh zurück zu Mama!«

       Moritz versuchte es noch bei drei anderen Schiffen, aber das Ergebnis war immer gleich. Das Einzige, was er erreichte, war ein Tipp eines Matrosen.

       »Versuchs doch mal im Seemannsheim. Da lungern immer irgendwelche Typen von dubiosen Kuttern herum. Aber sei vorsichtig, dass du an keinen Seelenverkäufer gerätst! Sonst kannst du leicht auf Nimmerwiedersehen abtauchen.«

       Moritz war ziemlich enttäuscht und fühlte sich nicht ernst genommen. Doch einen letzten Versuch wollte er wagen. Dazu fuhr er über vierzig Minuten zurück in die Innenstadt. In unmittelbarer Nähe der Hauptkirche St. Michaelis – allgemein nur Hamburger Michel genannt – lag das Seemannshostel der Deutschen Seemannsmission am Krayenkamp 5. Moritz war schon oft daran vorbeigegangen, hatte sich aber nie hineingetraut. Das musste der Matrose mit „Seemannsheim“ gemeint haben.

       Inzwischen war der Morgen angebrochen, doch die Sonne ließ sich nicht sehen. Der Himmel war grau verhangen, und es nieselte noch immer. Passend zu meiner Stimmung, dachte Moritz. Dennoch betrat er beherzt die Eingangshalle des roten Backsteingebäudes. Die verglaste Rückwand ließ etwas Licht auf das gelbliche Linoleum fallen, sodass es gleich freundlicher wirkte. Neben ein paar Sesseln gab es auch einen niedrigen Tisch. Doch die Gäste an der Rezeption sahen anders als erwartet aus. Es handelte sich nämlich nicht um Seeleute, sondern um ein älteres Ehepaar und eine Handvoll Jugendlicher. Auf der breiten Treppe nach oben sah man sogar einige Dunkelhäutige.

       Als Moritz etwas irritiert verharrte, betrat gerade ein älterer Mann mit einer Brötchentüte den Raum. Mit seinem wettergegerbten Gesicht und dem krausen Vollbart entsprach er mehr dem Typ des Seebärs.

       »Na, Jungchen, hast du dich verlaufen?«, fragte er freundlich.

       »Ne…nein«, stotterte Moritz. »Ich hoffte hier ein paar Matrosen oder andere Seeleute zu treffen.«

       »Tscha, da musst du nachmittags ab fünf wiederkommen. Erst dann öffnet die hauseigene Bar. Da treffen sich immer ein paar Seeleute, um Billard zu spielen oder einfach nur unter ihresgleichen zu sein. Was willst du denn von denen? Spannende Geschichten hören?«

       »Nein, einer soll mir helfen, auf einem Schiff unterzukommen.«

       »Da wirst du wenig Glück haben. Die meisten von ihnen sind selbst auf Jobsuche. Die Mitarbeiter hier im Haus unterstützen sie dabei. Hilfe gibt es auch bei behördlichen Briefwechseln und durch psychosoziale Gespräche.«

       »Was machen denn die ganzen Fremden hier? Das sind doch keine Seeleute.«

       »Inzwischen übernachten hier Touristen und Jugendgruppen. Nur der vierte Stock dient als reine Seemannsherberge vor allem für Dauergäste. Manche wohnen schon mehr als zehn Jahre dort. Ich gehöre auch dazu. Wenn du willst, zeige ich dir mein Zimmer.«

       »Ja, gern. Ich habe ohnehin nichts Besseres vor.«

       Sie fuhren mit dem Fahrstuhl aus dem Jahr 1952 in den vierten Stock. Oben sah es aus, als wäre die Zeit stehen geblieben. Im Gegensatz zu den unteren Etagen, wo weiße, unmöblierte Flure zu modern eingerichteten Zimmern führten, gab es hier eine große Eckbank aus Holz. Den massiven Tisch davor zierte eine Blümchendecke mit kleinen Gartenzwergen darauf. Durch die Dachfenster konnte man auf den Michel blicken.

       Am Tisch saßen ausnahmslos ältere Herren verschiedener Nationen, die aus Henkeltassen oder Plastikbechern ihren Kaffee tranken und Moritz kurz zunickten.

       »Von denen ist ja keiner jünger als fünfzig«, meinte Moritz, als sie auf dem Weg ins Zimmer waren.

       »Tscha, das sind alles ausländische Seeleute, die bei einer deutschen Reederei angeheuert hatten. Sie müssen weiter in Deutschland leben, damit ihre Rentenansprüche nicht verfallen. Einige leben auch noch im Rentenalter hier, weil sie gesundheitlich besser versorgt werden als in ihrer Heimat oder ihre Großfamilie zu Hause unterstützen. Dafür müssen sie auch als Rentner noch mit Gelegenheitsjobs etwas dazuverdienen. Es ist die Rede davon, das sei hier zu einem unfreiwilligen Altersheim geworden, deshalb sollen auch keine neuen Senioren mehr zugelassen werden.«

       Moritz ließ sich sein Entsetzen über das winzige Zimmer nicht anmerken, konnte sich aber eine Bemerkung nicht verkneifen.

       »Viel Platz hast du ja nicht gerade hier …«

       »Dafür zahlt man auch nur 11 Euro die Nacht, und für die Dauergäste gibt es einen Pauschalpreis von rund 250 Euro im Monat. Soll ich uns einen Kaffee machen. Du siehst aus, als könntest du einen gebrauchen. Allerdings nur Pulverkaffee.«

       »Egal, ich bin nicht anspruchsvoll.«

       Der alte Mann brühte mithilfe eines Wasserkochers zwei Tassen Kaffee auf und reichte eine davon Moritz.

       »Ich bin übrigens Holger. Und wie heißt du?«

       »Moritz.«

       »Aha, und wie geht es Max? Haha.«

       »Der Witz hat einen Bart. Damit hat man mich schon in der Schule aufgezogen.«

       »Entschuldige. Aber auf See herrscht mitunter ein rauer Ton. Da musst du dir ein dickes Fell anschaffen. Also, Moritz, jetzt erzähl mal, warum du von zu Hause weg willst.«

       »Weil mich da alles ankotzt. Meine versoffenen Eltern und das ganze Milieu. Auch die Perspektivlosigkeit