Claus Beese

Die Kinder vom Deisterbahnhof


Скачать книгу

die maroden Holzschwellen gegen neue auszuwechseln. Ein kleiner Junge und seine Eisenbahn. Träumen von Lokomotiven und der weiten Ferne. Wohin mochten die Schienenstränge führen? Ob es schwierig war, so ein großes, Feuer spuckendes, schwarzes Ungetüm zu beherrschen?

      Unsere kleine Heule-Eule hatte sich an den Gitterstäben hochgezogen und wollte auch aus dem Fenster schauen. Was es da wohl so furchtbar Spannendes zu sehen gab? Und überhaupt, mochte sie gedacht haben, ihr Bruder hatte schon lange genug davorgestanden. Sie fing an zu drängeln und zu drücken, denn für zwei reichte der Platz nun einmal nicht. Wer selber Kinder hat, weiß wie schwierig es ist, einen träumenden Jungen zum Weg- oder Weitergehen zu bewegen. Beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. So ein Bengel ist fast nicht von der Stelle zu bewegen. Meine Schwester hatte damit kein nennenswertes Problem. Als sie feststellte, dass sie mir körperlich unterlegen war, griff sie zu härteren Bandagen. Sie schwankte um mich herum, beugte sich vor, und jagte mir alle Schneidezähne ihres frischen Milchzahngebisses in den Rücken. Tief bohrten sich die scharfen Zähne in mein Fleisch, der Schmerz riss mich aus all meinen Träumen und ließ mich laut schreien. Ich versuchte, das bissige Anhängsel abzuschütteln, hatte aber keinen Erfolg. Froh und dankbar registrierte ich, dass meine Mutter auch auf mein Alarmgeschrei reagierte. Ihr gelang es schließlich, das bissige Nesthäkchen aus meinem Rückenfleisch zu entfernen. Das kleine Aas stand mit vor der schmächtigen Brust verschränkten Armen und einem ›Das-haste-nun-davon‹-Blick unschuldig lächelnd in ihrem Bettchen, während mir die Bisswunde desinfiziert und verpflastert wurde. Seither habe ich meine Schwester nie wieder in meinem Rücken geduldet. Tritt sie hinter mich, so folgt ihr noch heute ein scheeler Blick. Aber sie weiß, dass sie nicht unbeobachtet ist und hält sich zurück.

      Kindertage

      Von Brunhilde Maria Cronauge

      Von der Schule schnell nach Haus,

      in die Ecke flog die Tonne.

      Hurtig essen und dann raus,

      egal ob Regen oder Sonne.

      Gummi-Twist, ein schlichtes Seil,

      selbstgebastelt Pfeil und Bogen.

      Seifenkisten, schnell wie ’n Pfeil,

      Handys gab’s nicht … ungelogen!

      Mobil war man mit Kinderroller,

      im Winter fuhr ’n wir auf Gleitschuh’n.

      Niemand nannte Vater: ›Oller‹

      und die Mutter: ›Geiles Huhn‹.

      Stets im Wandel ist die Zeit,

      so war’s schon immer auf der Welt.

      Zu vielem ist der Mensch bereit,

      wenn’s geht um Macht, um Ruhm und Geld.

      Erinnerung an Kindertage

      und Sehnen nach der Zeit zurück,

      in allen Zeiten, keine Frage,

      für viele ist ’s das größte Glück.

      Was man daraus macht

      Bereits als Kind war mir eines zu eigen: Arbeit fand ich faszinierend. Ich konnte stundenlang dasitzen und zusehen. Wo Menschen arbeiteten, blieb ich stehen und musste einfach zuschauen. Wenn auf dem Bahnsteig die Züge standen, dampfend und fauchend, beobachtete ich stets die Lokführer, die aus den riesigen, schwarzen Maschinen stiegen. Mit einer Ölkanne gingen sie um ihr eisernes Gefährt, um die Pleuellager der Schubgestänge zu schmieren. Auf dem Weg zu unserem Hühnerhock blieb ich oft an der Ladestraße stehen, dort, wo die Schütt-Güterwagen der Eisenbahn entladen wurden. Männer mit schwarzen Händen und Gesichtern füllten Eierkohlen aus den Waggons in Säcke ab, wogen sie und fuhren sie mit einer Sackkarre in den Hof einer Kohlenhandlung. Kantige Briketts wurden zu Stapeln von zwanzig Stück gepackt und zusammengebunden.

      Mindestens genauso spannend war es, wenn unser Bierlieferant kam. Die Sprudelkisten, die vom Lastwagen abgeladen wurden, waren dabei weniger aufregend, wenngleich die Flaschen auch in den Holzkisten herrlich klirrten. Dort, wo die Kraft eines echten Kerls gebraucht wurde, begann die Faszination. Mit Hau-Ruck wurden die Bierfässer umgelegt und an den Rand der Ladefläche gerollt. Ein dickes Leder-kissen diente als Puffer, wenn sie von den starken Männern auf den Boden herab gewuchtet wurden. Bis zum Fenster des Bierkellers wurden sie gerollt und in dessen Schacht auf ein zweites Kissen geworfen. Die leeren Fässer, manche noch aus richtigem Holz und so schwer, dass ich sie nicht bewegen konnte, verließen auf demselben Weg das Haus. Ich bewunderte die Brauereifahrer. So ungemein stark wollte ich auch einmal werden.

      Es kam ein Tag, der uns Kindern in die Seele fuhr wie ein Blitz. Niemand hatte uns vorgewarnt. Alles geschah für uns urplötzlich, wir hatten keine Zeit gehabt, uns auf das Unfassbare einzustellen. Vor unserem Lieblings-Spielplatz, dem Garten unserer Arztnachbarn, hielt ein Lastwagen, aus dem Männer mit Sägen und Äxten ausstiegen. Sie verschwanden im Garten und begannen ihr zerstörerisches Werk. Unsere Geheimgänge durch die Sträucher und Büsche wurden aufgebrochen, das Astwerk über unseren Höhlen beseitigt. Einige morsche Bäume wurden gelegt und manch gesunder Baum fiel ebenfalls der Säge zum Opfer, nur weil er alt war. Kahl und nackt lag das Gelände am Nachmittag da. Haufen abgesägter Äste und Stapel zersägter Baumstämme zeugten davon, dass hier ganze Arbeit geleistet worden war.

      Das war nicht mehr unser Spielplatz. Hier konnte sich niemand mehr wohl fühlen. Nicht einmal mehr zum Versteck spielen taugten die kümmerlichen Gebüschreste. Mit Tränen in den Augen standen wir vor den Überresten unserer bislang intakten Kinderwelt. Was hatte man uns angetan?

      Na gut, der Reisighaufen direkt unter dem Apfelbaum sah durchaus brauchbar aus. Flink wie die Affen turnten wir am Stamm empor bis hoch in seine Krone. Mit einem übermütigen Jauchzen ließen wir uns fallen und landeten in dem herrlich federnden Geäst der gefällten Bäume. Deren Stammholz lag etwas abseits, man konnte herrlich darauf balancieren. Auf den dicken Stämmen fühlte man sich wie auf einem Pferderücken, und wenn man die Augen schloss, meinte man zu spüren, wie der Zossen mit einem dahin-galoppierte, über Stock und über Steine. Als Rothaut vom Rücken eines edlen Hengstes aus mit Pfeil und Bogen gegen die Übermacht der weißen Siedler anzukämpfen, das war wirklich großartig. Lediglich die Möglichkeit, Gefangene an einen Baum zu binden, war nicht mehr in dem Maße gegeben, wie vor dem Einsatz der Gartenarbeiter. Es würde lange dauern, bis wieder genügend Bäume nachgewachsen waren, um unsere Gefangenen an einen Marterpfahl binden zu können.

      Einige Stämme waren in scheitlange Stücke zersägt worden. Wenn sie getrocknet waren, würde man sie mit einer Axt in Brennholz zerhacken. Aber bis dahin dienten sie einem anderen Zweck. Hatte ich auch nicht die Kraft, ein Bierfass zu bewegen, so konnte ich doch schon diese Holzkloben in Fassform durch den Garten rollen. Die gestapelten Baumstämme waren keine Pferde mehr, aus ihnen wurde mein Bier-Lastwagen, auf den ich die ›Fässer‹ lud und sie in der ganzen Umgebung auslieferte. Mit lautem »Brrrrmmmm, Brrrrrrmmmmm« fuhr ich meinen Laster von Wirtschaft zu Wirtschaft und lud mein Bier ab. Ich war ein starker Kerl im besten Mannesalter von vier Jahren. Was machte es da schon, wenn ich abends vor Muskelkater kaum einschlafen konnte? Ich hatte gelernt, dass es nicht auf die Katastrophe ankam, sondern darauf, was man aus ihr machte.

      Liebe schmerzt

      Meine erste große Liebe begegnete mir im zarten Alter von vier Jahren. Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß, aber sie war ein paar Jahre älter als ich und ging mit meiner größeren Schwester in eine Klasse der Dorfschule. Ich hatte sie zum ersten Mal gesehen, als sie mit ihrem Vater, einem Gemüsehändler von außerhalb des Dorfes, bei uns Grünzeug für die Küche anlieferte. Die beiden kamen mit ihrem Tempo-Dreirad, einem Kleinlastwagen auf drei Rädern angeknattert. Das blonde Mädchen packte die Waren, die meine Mutter von der Ladefläche des LKWs aussuchte, in einen Korb, während ihr Vater mal eben ganz schnell zum Wirt hineinging, um eine Lüttje Lage (ein kleines Bier und ein Glas Korn) gegen den argen Durst zu sich zu nehmen.

      Es war