Claus Beese

Die Kinder vom Deisterbahnhof


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ich heute nicht mehr. Nur noch, dass sie schön waren und mir ein leises Summen in der Magengegend verursachten. Der Herbst ging, der Winter kam, und ich träumte noch immer. Wenn der dreirädrige Lastkarren daher geknattert kam, ließ ich alles stehen und liegen und lief, so schnell mich meine kurzen Beine trugen, zum Bahnhof. Manchmal hatte ich Glück, und sie begleitete ihren Vater. Ihr schüchternes Lächeln war Verheißung, ihre Stimme Engelsgesang. Ich verfluchte das Unglück der späten Geburt, warum konnte ich nicht ein paar Jahre älter sein?

      »Ich gehe zur Zuckerfabrik, Schlitten fahren!«, gab meine größere Schwester bekannt. Sie durfte. Mutter hatte nichts dagegen, wusste sie doch, dass genügend andere Kinder dabei sein würden. Der einzige Hang, den man zum vergnüglichen Rodeln nutzen konnte, war ein Abhang in der Nähe der Fabrik. Nicht sehr hoch, doch wie war das noch? Es kam darauf an, was man aus der Sache machte. Schwesterlein beging den Fehler, zu erwähnen, dass auch die Tochter des Gemüsehändlers dort sein würde. Von da an gab ich keine Ruhe, bis es der Mutter zu nervig wurde. Sie entschied per »Ordre de Mutti«, dass ich mitzunehmen sei.

      Meine Schwester war schwer begeistert. Sie liebte es, mal wieder Kindermädchen spielen zu sollen. Missmutig stapfte sie durch den Schnee, während ich nebenherlief und den leeren Schlitten zog. Sie wusste um meine Gefühle für ihre Klassenkameradin und machte sich oft genug lustig darüber. Doch ich hatte gute Gründe für meine Hartnäckigkeit. Bei dem kalten Winterwetter fuhr nämlich der Gemüsehändler alleine seine Waren aus. Ich hatte das Objekt meiner Schwärmerei darum eine halbe Ewigkeit nicht gesehen. In dieser langen Zeit war etwas Gravierendes geschehen, was das Mädchen unbedingt erfahren musste. Immerhin war ich nun schon fast Fünf, und somit nicht mehr Vier. Das war ein Fakt, den man seiner Angebeteten doch vor Augen führen musste. Ich hatte, was männliche Reife anging, quasi einen Quantensprung gemacht. Ich fühlte mich so stark. Meine Kräfte wuchsen ins Unermessliche, als ich meiner Traumfrau gegenüberstand. Ganz Gentleman zeigte ich auf den Schlitten.

      »Ihr setzt euch drauf, und ich ziehe euch den Hang wieder hoch!«, versicherte ich großspurig. Ich ochste mich ab, dass der Schweiß nur so in meine Augen rann. Jetzt nur nicht schlapp machen! Weiter, zieh weiter. Hinter mir hörte ich die Stimme, die mir alles war, sagen: »Du, dein Bruder ist aber stark!«

      Sie hatte es bemerkt. Mich bemerkt. Sie bewunderte mich. Ich zog noch stärker, um den verdammten Rodel, der mir fast die Schulter ausrenkte, von der Stelle zu bewegen. Ich hätte es auch geschafft, sie den ganzen Hügel wieder hinaufzuziehen, wenn da nicht … Ich kam mit den Stiefeln auf die vereiste Piste, auf der die großen Jungen mit Gejohle im Stehen den Hang hinunterschlidderten. Es riss mir die Füße weg, und da ich mich wegen der Last in meinem Rücken weit nach vorn gebeugt hatte, knallte ich mit der Stirn auf das blanke Eis.

      Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Schlitten. Meine Angebetete hielt mich fest, damit ich nicht herunterfiel, während meine Schwester das Gefährt fluchend in Richtung Heimat zog. Ich wusste nicht, was mehr schmerzte. Hilflos vor den Augen meiner großen Liebe daniederzuliegen, oder die riesige Beule auf meiner Stirn, die sie mit einem Schneeball zu kühlen versuchte.

      »Brüder!«, schimpfte meine Schwester. Sie riss wütend an dem Schlittenseil. »Warum musste das passieren? Wir hätten alle so glücklich sein können, wenn Du auch ein Mädchen geworden wärest!«

      Beim Weihnachtspunsch

      Von Ruth Strasser

      Beim Rückblick auf die Kinderzeit,

      zieht‘s mich, vom Augenblick befreit,

      den Ariadnefaden in der Hand,

      in mein vergangenes Kinderseelenland.

      Er führt mich zu Omas verbotenem Zimmer,

      ich schau unter ihr Bett, so wie immer.

      Denn es naht wieder die Heilige Nacht,

      ob’s Christkind mir diesmal die Puppe gebracht?

      Noch heute, beim Gläschen Weihnachtspunsch,

      denke ich an meinen Kinderwunsch.

      Doch nie war im Päckchen die Puppe drin,

      ich geb’ sie frei, auch das ist der Weihnacht tieferer Sinn.

      Maßnahmen

      Was war geschehen? Warum war meine Mutter nur so ungeheuer sauer? War ich schuld? Lag es an mir? War ich so ungezogen gewesen? Ich wusste es nicht, fühlte mich aber unendlich schuldig. Doch konnte sie mir für etwas böse sein, das die Erwachsenen doch ständig, und noch dazu mit ihrer stillen, wenn auch zähneknirschenden Duldung taten? Mit einem lauten Knall war die Haustür an der Seite des Bahnhofs zugeflogen, nachdem sie mich geschnappt und in den Flur gezogen hatte.

      »Das Telefon!«, rief sie und stürmte hinter die Theke. »Es ist genug. Jetzt wird etwas unternommen!«

      Ich sehe noch heute die großen, verständnislosen Augen meines Vaters, dem angesichts dieses Temperamentsausbruches seiner Frau, beim Zapfen das Bier in einer Schaumfontäne aus dem Glas schwappte.

      Doch der Reihe nach. Um Ihnen klarzumachen, worum es ging, muss ich ein wenig ausholen. Der Krieg war noch nicht lange vorbei und der Bahnvorstand in Hannover damit beschäftigt, in erster Linie alle beschädigten Gleisanlagen oder Bahnhöfe und Einrichtungen zu reparieren. Ein Bahnhof, der wenige oder gar keine Schäden aufwies, technisch intakt war, stand also in der Prioritätenliste ganz unten. Unser Kleinstadt-Bahnhof in Bennigsen gehörte dazu. Der Zahn der Zeit nagte natürlich auch an ihm, und es gab so bestimmte Dinge, die man gewohnt war hinzunehmen. Zum Beispiel, dass es in unserer Gaststätte keine Toiletten gab. Unsere Gäste mussten auf die Aborte der Bundesbahn gehen, wenn sie mussten. Eine weitere Möglichkeit bestand darin ein öffentliches Urinal zu benutzen, das als kleines Häuschen an einer Hausecke zur Straße hin angebaut war. In beiden Fällen mussten sie die Schankstube verlassen. Ihr Weg führte durch die Bahnhofshalle zu den öffentlichen Einrichtungen dieser Art. Man konnte den Weg gar nicht verfehlen, man musste nur immer der Nase nachgehen. Sie führte den Bedürftigen, oder sollte man eher sagen, den Notdürftigen an den grauenvollen Ort des Geschehens.

      Die Öffentlichen gehörten gleichzeitig zu den Unbeschreiblichen. Ich bitte den geneigten Leser, mir weitere Ausführungen zu erlassen, das Thema beginnt, unappetitlich zu werden. Hatte ich schon erwähnt, dass es natürlich auch für den Wirt ein wenig unübersichtlich war? Er wusste nie, ob sein Gast einfach nur einer Zwangslage folgte, oder schon gegangen war, ohne die Zeche zu zahlen. Manchmal passierte beides gleichzeitig, denn es kam schon vor, dass die angeheiterten Zecher, nachdem sie sich erleichtert hatten, den Weg in die Gaststube nicht mehr fanden und einfach nach Hause torkelten. Bei ihrem nächsten Besuch gab es dann unausweichlich Diskussionen um den offenen Deckel, der noch vom letzten Mal zu begleichen war. Die wenigsten hatten eine klare Erinnerung daran, ob sie beim Verlassen des Schankraumes bezahlt hatten, einige konnten sich nicht einmal daran erinnern, den Abend dort verbracht zu haben. Es hatte sich so eingebürgert, dass mein Vater seinen Stammgästen mit einem Augenzwinkern erlaubte, den Weg hinter die Theke durch unsere Küche und hinaus aus dem Seiteneingang zu nehmen. Doch anstatt die paar Meter zu dem öffentlichen Häuschen zu gehen, standen die Herren der Schöpfung an der Hauswand und pullerten, unter Stoßseufzern der Erleichterung, zwischen den Bäumen ihre volle Blase leer. Ich fand das immer interessant, weil die Onkels dabei alle so komische Gesichter schnitten. War ich anlässlich eines solchen Ereignisses in der Nähe, so stellte ich mich auf die oberste Treppenstufe und schaute unseren Gästen dabei zu. Wo eine Arbeit verrichtet wurde, da …, ach so, das hatten wir schon.

      An diesem denkwürdigen Tag passierte etwas, das meine Mutter völlig aus der Fassung brachte. Zufällig kam sie die Treppe zur Wohnung herunter, sah die offene Haustür und warf einen Blick durch den Türspalt. Sie sah gleich drei ihrer Gäste wieder einmal an der Hauswand stehen, woran sie sich, wenn auch schweren Herzens gewöhnt hatte. Allerdings sah sie auch ihren Filius, der auf der obersten Treppenstufe stand, und in hohem Bogen mitpinkelte. Sie brachte nicht wirklich Verständnis für die Freude eines kleinen Jungen auf, der gerade feststellte, dass er von da oben am weitesten pinkeln konnte. Viel weiter, als die Onkels da unten,