Thomas de Bur

Bärenjäger


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sich über den feuchten Stellen gebildet und verbreitete eine unheimliche Stimmung. In der stärker werdenden Dunkelheit konnte man die Bäume und Büsche inzwischen nur ahnen. Dann bemerkte ich plötzlich ein schwaches Licht. Es schimmerte durch den Nebel, nicht weit von mir, zwischen einigen Büschen hervor. Ich band die Rentiere sofort an einem Baum fest. Ohne viel zu überlegen, schlich ich langsam und leise dem Licht entgegen. Ich wusste, dass hier gefährlicher Sumpf war, aber ich war mir sicher, dass mir nichts passieren konnte. Das Moos und die Flechten unter meinen Füssen wurden feuchter und der Boden gab unter meinem Gewicht immer mehr nach. Meine Schuhe verursachten ein warnendes, schmatzendes Geräusch beim Auftreten, doch ich ignorierte es. Nur noch ein paar Meter trennten mich von der Lichtquelle. Das Jammern war inzwischen leiser geworden. Es war kaum noch zu hören, doch es war noch da. Der Lichtschein schimmerte scheu aus der Mitte einer kleinen Ansammlung von Büschen. Wie eine milchig glühende Lichtglocke schwebte diese Erscheinung ganz nah vor mir. Ich machte einen großen Schritt darauf zu. Das war allerdings ein Fehler. Mein Fuß bekam keinen Untergrund zu fassen. Erst traf er auf Wasser, dann sank er hinab um den Boden zu finden. Aber in diesem Wasserloch gab es keinen Boden. Mein Fuß wurde sofort von matschigem Sumpf umschlossen und immer weiter hinunter gezogen. Ich fiel durch den fehlenden Halt nach vorne. Im Fallen nahm ich wahr, wie in dem Lichtschein etwas huschte. Mehrere Wesen wuselten hin und her. Aber das Licht erlosch, bevor mein Körper mit hoch erhobenen Armen in das Sumpfloch platschte. Meine Hände konnten gerade noch die Büsche erreichen, zwischen denen eben noch das Licht war. Sie krallen sich fest. Meine linke Hand erwischte einige Zweige eines Busches. Die Rechte krallte sich in die Erde unter den Büschen, doch ich erwischte als Halt nur einen kleinen Stein. Ich kämpfte um mein Leben. Ich wusste, dass ich kaum eine Chance hatte. Plötzlich erfüllte ein berstendes Krachen, gefolgt von einem lang gezogenen Quietschen den Sumpf. Dann schlug direkt neben mir ein abgestorbener Baum platschend und mit bollerndem Getöse auf. Sofort hielt ich mich fest. Das war die Rettung. Ich wuchtete meinen ganzen Körper auf den Stamm und robbte dem festen Boden entgegen. Als ich erschöpft bei den Rentieren ankam und schwer atmend auf dem Boden saß, bemerkte ich, dass meine rechte Hand immer noch zur Faust geballt war. Erde quetschte sich zwischen den Fingern hervor. Ich öffnete meine Hand. Zwischen der Erde lag noch der kleine Stein den ich gegriffen hatte. Ich wollte meine Hand gerade ausschütteln, als ich innehielt und mir den Stein genauer anschaute. Er war klein und glatt und sah aus wie eine Acht. Nein, es waren zwei kleine, runde Steine, die zusammen gewachsen waren. In einem der Steine war ein kleines Loch gebohrt. Mir gefiel er und ich nahm ihn meiner Frau als Geschenk mit.«

      Als Stellan an diesem Punkt der Geschichte angekommen war, griff Johan ungläubig in seine Hosentasche. Seine Hand umschloss den Stein, den ihm Lena geschenkt hatte, doch er sagte nichts. Stellans Vater hat nie herausgefunden, was das Jammern und das Licht bedeutet hatten. Auch konnte er nicht erklären, warum genau in dem Moment, als er in den Sumpf fiel, der abgestorbene Baum umkippte. Er war sich allerdings sicher, das kleine, helfende Sumpfwesen ihre Hände im Spiel hatten. Als Johan an diesem Abend seinen Rucksack nahm, um nach Hause zu gehen, sagte Stellan zu ihm: »Morgen Nachmittag fahre ich mit deinem Vater zum Bahnhof. Er hat sich angeboten, mich mit dem Auto zu fahren. Meine kleine Enkelin aus der Stadt kommt eine Weile zu mir. Es ist schon viele Jahre her, dass sie mich in meiner bescheidenen Hütte besucht hat. Normalerweise fahre ich einmal im Jahr zu ihnen, aber ihre Mutter, meine Tochter, muss für eine Operation ins Krankenhaus und deswegen kümmere ich mich in der Zeit um das Kind. Sie hat leider keinen Vater mehr. Willst du sie mit mir zusammen vom Zug abholen?« Johan war nicht so begeistert, es würden ihm ja ein Nachmittag mit Stellan im Wald und eine Geschichte verloren gehen. Als er trotzdem höflich zusagte, dachte er bei sich, dass er dafür sorgen musste, dass Lena sich ein bisschen um die kleine Enkelin kümmerte.

      10

      Als Johan am nächsten Morgen erwachte, war es draußen windig und grau. Dicke Regenwolken zogen über den Waldhof hinweg und es goss wie aus Kübeln. Der Troll am Fenster pfiff ein trauriges Lied vor sich hin. Johan brummte so etwas wie: »Na toll, der Tag fängt ja gut an«, und schlurfte übellaunig zum Zähne putzen ins Bad. Am Frühstückstisch kaute er sichtlich genervt sein Brot. Als Lena Elfen gleich um den Tisch schwebte und fragte: »ob jeder Mensch, wenn er lieb ist, ein Engel werden dürfte«, antwortete er nur mit einem barschen: »Nein.« Johan wusste eigentlich nicht so recht, warum er schlechte Laune hatte. Er hätte glücklich sein müssen. Es war fast Sommer und nirgends waren Probleme. Die Zeiten mit Stellan fand er wunderschön. Er lernte jetzt ein Jäger zu werden. Doch irgendetwas lief nicht nach Plan. Er wusste nur nicht, was da quer schoss. Johans Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Ganz genau beobachtete er seine Umgebung und was um ihn herum geschah, aber der Tag wollte nicht besser werden. Die Stunden in der Schule zogen sich hin wie Kaugummi. Mit einem Schüler aus einer anderen Klasse begann er auf dem Pausenhof einen Streit. Eine Schlägerei wurde nur durch das beherzte Eingreifen von Johans Freunden abgewendet. Es war wirklich mühsam. Johan hoffte auf den Nachmittag. In der letzten Schulstunde blinzelte dann endlich die Sonne zwischen den Wolken hervor. Johan lächelte das erste Mal. Der Tag schien sich zu wenden. Als Johan nach Hause kam, backten Lena und seine Mutter Kuchen. »Wir machen Begrüßungskuchen für die Enkelin von Stellan«, rief Lena vergnügt, tunkte ihren Zeigefinger tief in die Schüssel mit Teig und leckte ihn mit wonnigem Gesicht ganz sauber. Johan seufzte und dachte: »So viel Aufhebens wegen dem kleinen Stadtkind.« Er zog sich in sein Zimmer zurück und legte sich auf sein Bett. Aber schon nach kurzer Ruhe scheuchten ihn Stimmen auf. Stellan war gekommen. Er unterhielt sich an der Tür mit Johans Vater und bedankte sich gerade für die freundliche Hilfe beim Abholen seiner Enkelin. Er glänzte wieder in seiner schönen Tracht. Johans Mutter rief ihm zu, dass Stellan mit seiner Enkelin zu Kaffee und Kuchen eingeladen wäre. Johan schlenderte gelangweilt im Wohnraum herum, bis die Zeit zum Aufbrechen kam. Johans Vater holte seinen Wagen aus der Garage. Er hatte einen alten, blauen Buckelvolvo. Johans Vater meinte immer, er braucht kein neues Auto, der Volvo würde ein ganzes Leben halten. Das hohe Alter sah man dem Wagen wirklich nicht an. Er war ordentlich geputzt und das viele Chrom glänzte. Der Volvo fuhr zwar nicht schnell, doch er hatte viel Platz. Johan fand, der Buckelvolvo sah witzig aus. Aus großen, runden Augen guckte er erstaunt in die Welt. Die elegant gewölbte Motorhaube und das bucklige, runde Dach hatte er für sich wohl Maß anfertigen lassen. Für Johan war der Wagen ein kauernder, großer Wichtel, der mit großen Augen in die Welt blickt und dabei seinen Po zum Himmel streckt. Der alte Wagen musste die Garage nicht oft verlassen. Wenn Johans Vater zum Holz fällen musste, wurde er immer abgeholt. Der Volvo fuhr nur zum Einkaufen in die Stadt. Mit laufendem Motor, hinter dem großen Lenkrad sitzend, wartete Johans Vater, dass Stellan und Johan einstiegen. Johan öffnete die Beifahrertür und wollte nach hinten auf den Sitz klettern, doch Stellan hielt ihn zurück. »Sitz du ruhig vorne. Ich gehe lieber nach hinten auf die Bank.« Lena und Johans Mutter standen vor dem Haus und verabschiedeten sie winkend. Die Fahrt zum Bahnhof in die Stadt dauerte nicht so lange, denn auf den Straßen war nicht viel Verkehr. Stellan schien sich allerdings unwohl zu fühlen. Als Johan sich einmal umdrehte, sah er, wie Stellan mit ängstlichen Augen die Straße vor ihnen musterte. Etwas später kam ihnen ein Lastwagen entgegen und als der Volvo beim aneinander vorbei rauschen etwas mit dem Po wackelte, vernahm Johan ein deutliches Schnauben von hinten. Auto fahren war Stellan anscheinend nicht geheuer. Am Bahnhof angekommen suchte Johans Vater einen bequemen Parkplatz und stellte den Wagen ab. Sie hatten noch zehn Minuten Zeit bis der Zug eintreffen würde. Es passte alles perfekt. »Ich werde hier am Auto warten«, entschied Johans Vater. Johan stieg aus und half Stellan aus dem Auto heraus zu krabbeln. Dann machten sie sich auf den Weg zum Bahnsteig. Der Bahnhof war nicht sehr groß. Er war überschaubar. Es gab nur zwei Bahnsteige. An dem einem hielten die Züge aus südlicher Richtung, an dem anderen die aus nördlicher. Im Bahnhof hielten sich nicht viele Menschen auf. Ein paar Kinder, ein paar Touristen und eine alte Frau mit einem kleinen Rauhaardackel, der laut kläffend um sie herum sprang. Die alte Frau musste die Leine immer von einer Hand in die Andere wechseln. Stellan stellte sich in die Nähe einer Anzeigetafel, fast an die Kante des Bahnsteiges und beobachtete die Schienen nach Süden. Johan stellte sich zu ihm und schaute dem Dackel zu. Plötzlich ertönte eine Ansage aus den Lautsprechern. Der Zug würde in ein paar Minuten eintreffen. Stellan ging zwei Schritte von der Bahnsteigkante zurück und stellte sich gerade mit etwas herausgestreckter Brust hin. Er sah in seiner blau-roten Tracht sehr feierlich aus. Dampfend rauschte der Zug in den Bahnhof hinein. Bremsen quietschten und Luft zischte.