Thomas de Bur

Bärenjäger


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sie es verloren hatten. Stellans Kenntnisse über das Verhalten der Vielfraße halfen ihnen jedoch. Als ob er im Voraus wusste, was das Tier als nächstes machen würde, leitete er Johan in respektvollem Abstand hinter dem Raubtier her. Nach einer Weile erkannten sie, dass der Vielfraß ein Ziel entdeckt hatte. Es war eine Elchkuh mit ihrem Kalb. Ab jetzt duckte sich der pelzige Jäger angespannt ins schützende Gras. Wie in Zeitlupe und völlig lautlos wurden die kräftigen Beine mit den langen Krallen einen Schritt nach dem Anderen auf den Boden gesetzt. Nichts verriet die Gefahr, die den Elchen drohte. Der Vielfraß kam ihnen immer näher. Die Elchkuh blickte sich zwar ab und zu um, bemerkte aber nichts. Sie kaute genüsslich die Blätter einer Birke. Das kleine Kalb reichte an die Blätter noch nicht heran und suchte deshalb auf dem Boden nach besonders saftigen Grasbüscheln. Dabei sprang es nach einer kurzen Knabberpause wie ein Böckchen um die Mutter herum, nur um sich dann intensiv einer anderen grünen Stelle zu widmen. Plötzlich flatterte es in einem Baum in der Nähe und man hörte ein raues, kreischendes Rätschen. Ein Eichelhäher war den Elchen zur Hilfe geeilt. Er hatte den Vielfraß entdeckt und wollte die Elche warnen. Die Elchkuh unterbrach sofort das Fressen und kontrollierte mit wachsamem Blick die Umgebung. Man konnte sehen, dass ihre Muskeln zuckten. Sie machte einen kleinen Schritt zur Seite. Plötzlich bäumte sie sich auf und ergriff die Flucht. In diesem Moment explodierte die Spannung des Vielfraßes und er katapultierte sich in Richtung der unerfahrenen Beute. Das Kälbchen hatte allerdings schon reagiert und hetzte hinter der Mutter her. Der Vielfraß entließ sein Ziel aber nicht aus seinem Visier und pflügte, wie ein brauner, pelziger Eisbrecher, durch die Büsche. »Los«, rief Stellan, »hinterher«, und gab Johan einen Klaps auf den Rücken. Johan hastete los und düste der Pelzkugel nach. Stellan blieb zurück und beobachtete das Schauspiel langsam folgend aus der Ferne. Johan rannte so schnell er konnte. Er würde die Tiere niemals einholen können, sie waren schneller als er, doch er blieb dran. Im Laufen sah er, dass das Raubtier das Kälbchen fast eingeholt hatte. Nur noch ein paar Meter fehlten und er würde seine Beute erwischen. Im vollen Lauf setzte der Vielfraß plötzlich zum Sprung an. Wie ein tödliches Geschoss pfiff er durch die Luft und landete fauchend auf dem Rücken des kleinen Kälbchens. Das Schicksal hatte entschieden. Johan blieb atemlos stehen und starrte gebannt auf den Schauplatz des ungleichen Kampfes. Mit seinen spitzen, mörderischen Zähnen biss der Räuber kräftig in den Nacken des hilflosen Tieres. Die Füße knickten dem Elchkalb weg und es polterte mitsamt seiner tötenden Last auf den staubenden Boden. Die Elchkuh hatte ihre Flucht abgebrochen, stieß einen aufgebrachten Laut aus und stürzte sich, mit den Hufen tretend, auf den Feind. Der Angriff hatte Wirkung. Mit einem gezielten Tritt traf sie den Vielfraß unter dem Bauch und er flog jämmerlich quiekend durch die Luft. Aber kaum war er unsanft auf dem Boden gelandet, griff er fauchend wieder an. Die Elchkuh stellte sich schützend vor ihr Kalb und traktierte den Angreifer wild schnaubend mit ihren Hufen. Kein Haken und keine Finte nutzten, er kam nicht mehr dran und konnte seine Beute nicht holen. Widerwillig zog sich der Vielfraß zurück. Stellan hatte Johan inzwischen eingeholt und legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Der Vielfraß wird in der Nähe bleiben und warten bis die Elchkuh gegangen ist. Das Kälbchen lebt nicht mehr lange. Der Jäger wird seine Beute irgendwann holen.« Langsam drehte er sich um und zog Johan sanft mit sich fort.

      9

      Johan hing das erschütternde Erlebnis mit dem Elchkalb tagelang nach. Er wusste, dass es so sein musste und in der Natur zum normalen, täglichen Leben gehörte. So hautnah hatte er den Tod und den Überlebenskampf eines Tieres jedoch noch nie erlebt und er brauchte Zeit, um es zu verarbeiten. Stellan sprach den verlorenen Kampf der Elche nicht mehr an. In den Zeiten, in denen er Johan aus den alten Büchern vorlas, mied er Geschichten, die mit der Jagd zusammen hingen. Stattdessen spielten Begegnungen mit unsichtbaren oder kleinen Wesen eine häufige Rolle. Eine Begegnung von Stellans Vater beeindruckte Johan besonders:

      »Es war später Herbst in einem Jahr, in dem der Sommer besonders heiß und trocken gewesen war. Die Scheidung und Schlachtung der Rentiere war beendet und das arbeitsreiche Jahr neigte sich dem Ende. Allerdings war es ein schlechtes Jahr gewesen.Die Rentiere bekamen nicht viel Nachwuchs und das Fleisch würde kaum über den Winter reichen. Wir hatten unsere Holzkohten im Wald bezogen. Ich wollte auf dem Markt in der Stadt unsere selbst gesammelten Beeren verkaufen. Mit dem Erlös sollten Mehl, Zucker und andere wichtige Lebensmittel für den Winter eingekauft werden. Früh am Morgen brach ich auf. Es war noch dunkel. Die Sonne scheint im Spätherbst nur ein paar kurze Stunden am Tag, die wollte ich nutzen. Zwei Rentiere hatte ich mit Säcken voll gesammelter Beeren beladen. Der warme Atem aus den Nüstern der halbwilden Tiere bildete kleine Dampfwolken, die sich schnell mit dem Nebel vom Fluss vermischten. Es war kalt an diesem Morgen. Doch ich war froh, dass es noch nicht geschneit hatte, der Weg in die Stadt wäre sonst viel beschwerlicher gewesen. Von meiner Frau hatte ich mich verabschiedet, nachdem sie mir noch ein Päckchen mit Leckereien für den langen Weg zugesteckt hatte. Zuerst trieb ich meine zwei Rentiere am Fluss entlang. Am Ende des Tales hielt ich mich immer am Waldrand in Richtung Norden, bis ich eine große flache Ebene mit bewaldeten und freien Flächen vor mir sah. Das war Sumpfgebiet, aber ich kannte mich genau aus. Ich hätte den sicheren Weg mit verbundenen Augen gefunden. Nach ungefähr zwei Stunden hatte ich den Sumpf hinter mir gelassen. Bis zur Stadt war es nicht mehr weit. Der Verkauf auf dem Markt war ein riesiger Erfolg. Alle Beeren wurden mir zu guten Preisen abgenommen. Ich freute mich sehr. Der Wintervorrat war gesichert. Gut gelaunt füllte ich die geleerten Säcke mit den Wintervorräten, die ich bei den Kaufleuten der Stadt erwarb. Meine zwei Rentiere wurden fast überladen. Die Säcke reichten nicht aus. Ich musste mir noch zwei Säcke leihen. Als alles verstaut war, schaute ich mir meinen gekauften Schatz stolz an. Meine Frau würde zufrieden sein. Ein fröhliches Lied vor mich hinsummend, nahm ich meine Rentiere an die Leine und zog sie die Straße entlang. Auf dem Weg aus der Stadt kam ich an einem arm aussehenden Händler vorbei. Dieser hockte am Straßenrand und vor ihm lag ein Sack, auf dem allerlei Gegenstände zum Verkauf ausgebreitet waren. Messer lagen dort, Holzbecher und Gegenstände, die man für irgendetwas gebrauchen konnte. Ich hielt bei ihm an und grüßte freundlich. Der Händler blickte kurz zu mir auf und fragte dann leise, während er sich aufmerksam umsah: »Willst du einen guten Geist kaufen?« Ich verstand natürlich sofort, was der Händler mir anbot. Er wollte Schnaps verkaufen, das war allerdings verboten. »Was hast du für welchen?« fragte ich zurück, denn der sich ankündigende, kalte Winter machte mich zugänglich. »Besten Schwarzdorn, selbst gemacht«, antwortete der Händler und leckte sich über die Lippen. Ich fragte nach dem Preis und einigte mich schließlich mit dem Schwarzdornhändler. Eine Flasche mit rötlich klarem Inhalt wechselte in einem Tuch den Besitzer und verschwand unter meinem dicken Mantel. Kaum war ich mit den Rentieren aus der Stadt draußen, wurde erst einmal Pause gemacht. Die Sonne ging gerade unter, obwohl es erst früher Nachmittag war. Ich setzte mich auf einen Stein und breitete das Paket mit den Leckereien meiner Frau vor mir aus. Sie hatte mir ein großes Stück geräuchertes Rentierfleisch, ein Fladenbrot und eine Schüssel Juobmo, mit Milch und Zucker gekochten Sauerampfer, eingepackt. Hungrig war ich. Beim Anblick der fürstlichen Speisen entfuhr mir doch tatsächlich ein kleiner, aufgeregter Schmatzer. Ich griff gierig zu und aß alles auf. Nachdem ich den letzten Rest des Juobmo aus der Schüssel geschleckt hatte, seufzte ich zufrieden. Jetzt erinnerte ich mich an die Flasche in meinem Mantel. Ja, einen kleinen Schluck hatte ich mir verdient. Nachdem ich mich versichert hatte, dass ich auch wirklich alleine war, holte ich die Flasche hervor und öffnete sie. Dann nahm ich einen kräftigen Schluck. Der Händler hatte nicht zu viel versprochen. Ein kleines Feuerwerk entfachte der Geschmack auf meiner Zunge. Leicht sauer, gleichzeitig süß und kräftig fruchtig schmeckte der Schlehenschnaps. Allerdings war der Alkoholgehalt wohl sehr hoch, deswegen verkniff ich mir eine weitere Kostprobe. Den Schnaps verstaute ich gut eingewickelt zwischen den Säcken auf dem Rücken eines Rentieres. Dann machte ich mich mit meinen zwei Lasttieren auf den Heimweg. Nach kurzem Marsch begann der Sumpf. Schnell fanden wir unseren Weg hinein und ich führte die Rentiere in der Dunkelheit sicher um die ersten gefährlichen Stellen herum. Doch plötzlich scheuten die Tiere. Sie bockten und wollten nicht weiter. Unser Zug durch den Sumpf stoppte. Ich blickte mich um und horchte. Irgendetwas war nicht in Ordnung, ich spürte es. Ich umklammerte das Seil, das die Rentiere hielt und zog sie mühsam weiter. Nach ein paar Metern stutzte ich erneut. Da war ein Geräusch, ich hörte es ganz deutlich. Ich stand ganz still und lauschte. Es hörte sich nach dem Jammern eines Kindes an. Aber warum sollte hier im Sumpf