Beate Morgenstern

Hüben und drüben Davor und danach


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ein Ehepaar, sie schmal in bescheidenster Kleidung, er graubärtig in der Kluft des Wandersmannes, ein Jüngling, der wohl in der Annahme, auch sie sei Quäkerfreundin, den still-begeisterten Blick lange nicht von ihr wendete. Heinrich von der Runde etwas abgesondert am Gasofen in seinem Lehnstuhl.

      Hertha las ein Stück aus einer vor Jahrhunderten verfassten theologischen Schrift. Mit einem Mal hörte sie ihre Großmutter, die eine leidenschaftliche Vorleserin gewesen war. Die gleiche altersraue Stimme, die Rachenlaute auffallend, noch mehr als bei der Großmutter. Stunden hatte die Großmutter vorgelesen und hätte man bei der nüchternen, spröden Frau niemals eine solche Leidenschaft vermutet. (Tante Traudchen, Hertha wie auch Heinrich sprachen mit großer Zärtlichkeit von ihr. Sie war ein Mensch sehr unterschieden von anderen gewesen, auch im Alter eine Zuhörerin, immer interessiert an dem, was in der Welt und mit anderen Menschen vorging, so dass sich wohl die Jüngeren jeder Generation von ihr angezogen fühlten.) Hertha hätte immer so weiterlesen können aus dieser in guter Sprache geschriebenen Schrift. Doch hielt das Vorlesen nicht lange an. Das Ende der Lesung dann auch das Ende aller Worte. Fort und fort schwieg man. Langsam dämmerte ihr, man gäbe ihr auf die Weise zu verstehen, sie störe den Kreis durch nicht genügend Andacht und Glauben. Man warte darauf, dass sie endlich aufstände und ginge. Dann würde man fortfahren in der Andacht, reden, widerreden, singen vielleicht auch, beten. Heiß wurde ihr, die Hitze zuerst im Gesicht, flutete durch den ganzen Körper. Wie sie schon aufstehen wollte, war ihr, dass ihre Worte, ihr Weggehen noch mehr Unheil anrichteten. So blieb sie doch lieber auf ihrem Platz, bis einer etwas zu ihr sagte. Doch niemand richtete das Wort an sie. Da endlich wurde ihr klar: Das Schweigen war Andacht! Verstohlen sah sie auf die Gesichter. Die angespannt wie bei harter Arbeit. Wieder dachte sie an die Großmutter, wie die um Versenkung gerungen hatte. Die Stirn gerunzelt, die Lippen zusammengezogen, dass Fältchen um den Mund entstanden, so hatte sie leise gebetet. Bei dieser Anstrengung der Großmutter war ihr oft zum Lächeln zumute gewesen. Als könne man Gott zwingen!, hatte sie sich gedacht.

      Eine dreiviertel Stunde vergangen. Noch immer schwiegen Quäker-Freundinnen und -Freunde. Das unerwartete Schweigen wurde dadurch gelohnt, dass sie am Mahl teilhaben konnte. Sie versuchte, unauffällig immer wieder zuzugreifen, während die anderen miteinander sprachen.

      Wie treu Hertha war, diese Menschen zu sich zu laden, die nichts besaßen, was sie für Hertha anziehend machte, außer ihrem Glauben, damit sie eine geistliche Gemeinschaft hätten!

      Am letzten Abend gingen Hertha und Heinrich mit ihr in ein kleines Kino. Der Eintrittspreis überstieg ein Vielfaches von dem, was sie gewohnt war. Heinrich kannte den Film schon. Sie erinnerte sich an Ausschnitte einer Sendung des Westfernsehens.

      Man hatte von kalten Farben geredet und dass der Film hauptsächlich in Innenräumen spiele, was für das Schaffen des Regisseurs von Bedeutung sei. Sie sagte Hertha und Heinrich davon. Ihre eigentliche Mitteilung aber: Wir sind drüben auch nicht auch nicht aus der Welt! Allerdings musste sie Hertha und Heinrich am wenigstens davon überzeugen. „Auf Wiedersehen, Kinder!" sagte der Pater. Sie hatte von keiner Träne wissen wollen und bis dahin durchgehalten. Nun musste sich nun doch die Augenwinkel tupfen und beiseite sehen, als es hell wurde.

      Sie nahm wahr, wie Hertha kurz den Arm um den kleineren, so zierlichen Heinrich legte, dann mit der Faust seine Wange streichelte. Un das hasch du allein ausgehalte!, sagte sie. Hertha zartfühlende Ehefrau, die wusste, wie ihr Mann Filmen ausgeliefert war! Da musste sie auch nicht mehr beiseite schauen, sondern konnte Hertha zulächeln. Und Hertha lächelte zurück. Den ganzen Tag war schon so eine milde Freundlichkeit in Herthas Gesicht, die signalisierte: Wir verstehen uns! Mit Anne sind wir auch immer ins Kino gange, sagte Hertha. (Anne, Gisels Tochter, hatte eine Weile im Gartenhäuschen gewohnt.)

      Sie ischt eine enthusiastische Kinogängerin. Anne liebt das Melodram. „Jenseits von Afrika" hat sie, mein ich, siebe Mal gesehen. Anne sagt, den „Kaiser von China" sollsch dir hier unbedingt ansehe. Aber wenn bei euch auch alle große Film komme, da isches kein Verluscht, dass er bei uns jetz net komme isch!

      Hertha war so um ihre Vergnügungen besorgt!

      Bis nach Mitternacht saßen sie mit der schwarzen Kat, die sich hatte den Besuch nicht ausreden lassen, als sie von der vorzeitigen Abreise erfuhr. Sie schwatzten miteinander. Sie hatten sich alle gut angefreundet. Und Hertha und Heinrich ihrem Herzen so nah. Man bekam von Hertha so viel mehr mit, wenn man sie mit Heinrich zusammen erlebte. Ich steh nicht so früh auf, sagte Heinrich, als sie sich endlich eine Gute Nacht wünschten. Sie war verwundert, dachte dann aber, Heinrich hätte recht, dem Abschied nicht so eine Bedeutung beizumessen.

      Früh war Heinrich dann doch auf den Beinen. Nanu!, sagte sie.

      Nanu, wiederholte auch Hertha, als die ihren Mann sah.

      Heinrich brachte sie und Hertha bis zur Haustür. Immer noch hing der Kranz aus Grün, getrockneten Blumen und Früchten, den Heinrichs Nichte dort zu Herthas Geburtstag angebracht hatte.

      Es war ein sehr schöner Morgen. Sie wandte ihren Kopf zur Seite, sah noch einmal zum langen, schattigen Gärtlein neben dem Haus. Eine halbe Efeu-Wildnis, so wollte es Hertha, und tat einen Blick auf die andere Seite, wo man die unschöne Friedenskirche sah. Sie schaute hinunter in den Hof. Zweiundvierzig Stufen hatte Heinrich gezählt. Grüß den Götz von mir, sagte Heinrich mit seiner leisen, alten Stimme, küsste sie auf den Mund. Und wann kommst du zurück?

      Aber sie kommt doch nicht zurück, Heinerle, sagte Hertha.

      Ich fahr noch zu einem Jugendfreund nach Bad Pyrmont, erklärte sie. Erst zu Gisel, dann zu Götz und dann nach Bad Pyrmont. Ich hab mich erkundigt, es ist egal, welchen Grenzübergang ich zurück nehme. Sie lachte.

      Mit einem Mal eine Gleichgültigkeit in Heinrichs Gesicht. Als wäre er nicht doch ihretwegen so früh aufgestanden und hatte sie nicht eben noch geküsst. Er hat sich zurückgezogen, dachte sie. Jeder Abschied konnte einer für immer sein. Noch dazu, wenn man ein Wiedersehen erst in Jahren in Betracht zog.

      Sein wohl bitterster Abschied lag ein halbes Jahr zurück, so dass man meinen konnte, eigentlich dürfe Heinrich gar nichts mehr berühren. Hertha hatte darüber geschrieben. Seine Helferin, 26 Jahre bei ihm in der Praxis, Tochter und Geliebte, ist wenige Tage nach ihrem 50. Geburtstag gestorben. Urplötzlich. Und so ist er auf mich verwiesen. Hertha wird ihm beistehen, dachte sie. Wenn es sein muss, bis zum Äußersten. Sie erinnerte sich an einen Satz, den Hertha nebenbei gesagt hatte. Sie wird ihn nicht leiden lassen. Ausgerechnet zum Buß- und Bettag fahre ich!, sagte sie.

      Oh nein, zum Friedenschtag, erwiderte Hertha fröhlich. Heut Nachmittag gehn wir zu einer großen Versammlung mit Pfarrer Alberts!

      Wie Hertha immer auf das Nächstschöne sah und immer etwas wusste, so dass große Traurigkeit nicht aufkam. Sie selbst wusste auch, wie sie mit Abschieden fertig wurde: Sie nahm ganz bewusst Bilder auf, sammelte Fotografien für ihr Gedächtnis. Eine jetzt: Hertha und Heinrich vor der geschmückten Haustür in festlicher Kleidung und ganz besonderer Stimmung, die sich ihr jetzt mit dem Friedenstag erklärte. Hertha siebzigjährig, gangunsicher, gebeugt, wenn auch immer noch groß und mit diesem sphinxisch, Leid abwehrendem Lächeln. Neben ihr der zwölf Jahre ältere Heinrich, dieser stille, liebebedürftige Mann, der es an ihrer Seite nicht leicht gehabt hatte. Aber nun war er allein auf sie verwiesen, konnte ihr nicht mehr ausrücken, so dass eine Altersliebe gewachsen war. Seit nicht langer Zeit unterschrieb Hertha ihre Briefe H. & H., glücklich offenbar über die neue Gemeinschaft. Jetzt wollte sie alles gut und richtig machen. Und es hatte den deutlichen Anschein: Es gelang ihr.

      Sie ging Hertha voraus die zweiundvierzig von Witterung und vielem Auf und Ab der Schritte mitgenommenen Stufen in den Hof hinunter, wo Herthas Ente stand.

      Dann waren sie wieder auf dem Kopfbahnhof. Ihre Reise führte sie weiter zu Herthas Schwester Gisel. Sie würde das Haus sehen, in dem sie, von den Eltern getrennt, eineinhalb Jahre ihrer frühen Kindheit verbracht hatte. Eine Reise in den Westen galt es auszunutzen. Wohl glaubte sie, dass die Reiseerleichterungen von Dauer sein und den merkwürdigen Zustand der Trennung eines Volkes erträglicher machen würden. Wenn man von einem Volk vielleicht auch nicht mehr so recht sprechen konnte. Aber was wusste man?

      Stehenbleiben und winken wollte Hertha