Beate Morgenstern

Hüben und drüben Davor und danach


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Zwang vor, als hätt er so handeln müsse.

      Mer kann sowas auch herbei zwinge, indem mer immer drüber redet, sagte Götz.

      Magsch recht habe. Aber wie er dag´sessen hat, da draußen auf der Treppe mit Bärbele, i seh´s immer noch vor mir. Un so viel andere Ding sin mit der Bärbel passiert. Schon, wenn du ihre Kinder nimmst. Alles wiederholt sich. Mit dem Unfall und soviel kann i dir erzähle. Da darf man sich net wundern, dass sie sagt: In unserer Familie gibt es ein Schicksal. Weisch, wie sie dasteht innerlich? Hertha hob die Hände über den Kopf. Dass se sich nur noch schütze will, sagte sie dann. Un all die Selbstmorde in der Familie. Hertha zählte. Heinrich zählte.

      Fünf, sagte Hertha. Sechs, sagte Heinrich. Du vergisst ...

      Ah ja, die hab i noch gerettet. Da bin i los mit unsere Feuerwehr, so sage wir zu unsere Notapparature. Ja, die hab i noch zurückgeholt!

      Lag es an Herthas Art zu erzählen, am Champagner oder an der späten Stunde, sie sah die Rettungstat vor sich, dunkel auch die Selbstmorde. Sah das Bärbele und ihren Mann auf der Treppe vor Herthas und Heinrichs Haus sitzen in tiefer Verzweiflung. Als hätte sie zu intensiv einen Film gesehen oder abends zu lange schauerlich-gute Geschichten gelesen wie in ihrer Jugend die von Ebner-Eschenbach oder Droste-Hülshoff.

      Ja, des isch das in der Seele verankerte Elternvorbild, so was lässt sich doch erkläre, sagte Götz. Du weisch es doch au. Mit Schicksal hat das nix zu tun.

      I hab die Beate doch bloß gefragt, ob sie das Bärbele mag. Un weil sie au an ihr interessiert isch, erzähle ich, was das Bärbele glaubt. I will halt, dass se sich ins Bärbele hineindenke kann. Das isch doch net meine Meinung. I hab doch bloß wiedergebe, was in der Bärbele ihrem Kopf vor sich geht.

      I mag net, dass wir so über die Bärbel reden. Wir ziehe sie ja direkt aus. Das isch net recht. Wir sollte net mehr über sie rede.

      Ja, ziehen wir sie wieder an und lassen sie in Ruhe und vergessen alles, sagte sie.

      I hab doch bloß die Beate gefragt, ob sie das Bärbele mag.

      Das hasch grad schon gesagt.

      Aber es isch ja nur gwese, weil i wollt der Beate klarmachen, was das Bärbele denkt, damit sie net meint, sie wär so ein einfaches, unbeschwertes Wesen.

      Ja, wissen wir.

      Hertha schwieg. Doch eine Weile begann sie wieder: Ich hab die Beate doch bloß gefragt, ob... Ich hab doch bloß...

      Lächelnd machte Heinrich in Götz´s Richtung eine kreisende Bewegung. Götz wiederholte, lachte. Und dann lachten sie alle drei, erst leise, dann aus vollem Hals.

      Wie Hertha sah, dass sich die drei über ihren Zustand lustig machten, überglänzte ihr Gesicht heiter-betrunkenes Lächeln. (Diese Frau hatte eine solche Fähigkeit, über sich selbst zu lachen!) Hertha wiederholte die kreisende Handbewegung. Jaja, i weiß, i red im Kreis. I bin besoffe!

      Heinrich wies lächelnd auf einen ganz oben im Regal hängenden kleinen Hunde-Maulkorb.

      Den hat der Heinrich der Hertha zu einem Geburtstag geschenkt, erklärte Götz. Wenn er drauf hinzeigt, dann heißt´s, Hertha soll die Schnauze halte. Sie isch zu besoffe. Des hat schon manches Unglück verhindert, gell? Er schaute mit einem zärtlichen Lächeln auf seine Mutter.

      Wie wahr! Wie wahr! Hertha nickte, lächelte weiter vor sich hin, nahm Heinrichs Hand.

      Drei Uhr war es, als sie endlich zu Bett gingen.

      Das Frühstück gegen neun Uhr. Götz schon wieder unterwegs nach Heidelberg. Hertha stellte das Notwendige auf den Wagen. Die Küche so klein, dass der Wagen im Flur stand. Heinrich wartete, bis alles bereit war, schob ihn dann mit kleinen Schritten über die Schwelle in den Wohnraum, deckte im hinteren Teil. (Der Heinrich braucht Aufgaben!, hatte Hertha erklärt.) Tee gab es. Brötchen. Als sie das zweite nahm, kam sie sich wieder vor wie ein schlingendes Ungeheuer.

      Die S-Bahn-Station nicht zu verfehlen. Sie war gleichzeitig die Unterführung zum Park. Wie sollte sie die Automaten bedienen? Auf der ganzen Station niemand in Uniform, den sie hätte fragen können. Und die Menschen sonst so eilig. Die es nicht so eilig hatten, die mit ganz schwarzen Haaren, die Frauen Tücher darum, von dunkler Gesichtsfarbe, schauten so, dass sie ihre Schritte beschleunigte. Sie ging die Unterführung weiter durch den Park. Der mit großen alten Bäumen, also schon lange da. Unter den Bäumen auf dem Rasen Menschen in schlechter Kleidung in Gruppen, allein, hatten Bündel bei sich. Auch die ihr nicht geheuer. Sie gelangte zum Hauptbahnhof. Also würde sie jeden Tag so laufen: durch den Park zum Hauptbahnhof. Nun war sie auf einer recht prächtigen Geschäftsstraße. Sie hatte die Kärntner-Straße in Wien zum Vergleich, wo sie einmal mit einem guten Stipendium vom Wiener Kunstverein für zehn Tage gewesen war. Ihr erster Besuch in westlichen Landen. Selbst in Wien war sie nicht über die Pracht schockiert gewesen, nicht einmal erbebt. Die Auslagen nur zum Bestaunen da. Gingen sie nichts weiter an. Sie hatte sich schon lange damit abgefunden, dass Auslagen sie nichts angingen. Sie lebte in ihrem Land von Stipendien und mal einer Buchauflage immer gerade so. (Das ein Preis ihrer Freiheit von Vorgesetzten und der geringere. Was sie nie gut aushalten würde, und das hatte sie schon vorher gewusst: Sie lebte nicht nur allein, sondern sie arbeitete auch allein.) Sie ging die Straße immer weiter und schaute. Alles in Maßen, die ihr zusagten. Und obwohl ringsum Hänge waren, hatte man mitten in der Stadt getan, als sei viel Platz. Es gab diesen Park und das neue Schloss mit seinen Anlagen und sonst schöne Gebäude. Und dann das alte Schloss, mehr eine Festung, und der Markt. Und Breuninger und wie die Nobel-Geschäfte eben hießen. Als es eng wurde, gefiel ihr auch das. Sie ging wieder zurück, kaufte sich zwei Brezeln. Es waren die ersten seit ihrer Kindheit im Schwabenland. Also feierte sie ein kleines Fest. Fünfzehn Mark besaß sie, 1:1 umgetauscht gegen Mark der DDR. Und wenn sie sich noch das Begrüßungsgeld auf dem Amt abholte, was Hertha ihr dringend geraten hatte! Sie rechnete, wie lange das Geld, das sie hatte umtauschen dürfen, reichte, kaufte sie sich jeden Tag eine, zwei Brezeln oder gar drei. Sie entschloss sich, nach der Straße zu fragen, in der sich das Amt befand. Das konnte sie schon machen. Sie sprach so, dass sie als Norddeutsche hingehen konnte und sie wenigstens nicht ihre Berliner Herkunft verriet. Sie mochte nicht, dass sie durch ihre Sprache von Einheimischen getrennt war, konnte sich ins Sächsische, Mecklenburgische gut einfügen. Berlinisch sprach sie sowieso. Aber im Schwäbischen versagte sie. Obwohl sie, als sie bei Gisel gewohnt hatte mit den anderen Kindern, in dieser Sprache gesprochen hatte.

      Man wies ihr die Himmelsrichtung. Sie ließ sich immer weiter weisen. Es stellte sich heraus: Für heute kam sie zu spät auf das Amt. Also würde sie morgen wieder kommen. Sie lief nun am Rand des Kessels. Die Richtung hatte sie sich gemerkt. In dieser Stadt konnte man kaum fehlgehen. Es war nun ein ganz ordentlicher Weg zurück. Die S-Bahn-Station hatte sie sich gemerkt: Neckartor. Und dann irgendeine Straße hinauf, die würde auf die neue, unschöne Kirche und die Urbanstraße treffen.

      Im Gartenhäuschen legte sie sich zum Schlafen. Im Sommer wäre ihr das Quartier schon sehr recht gewesen, ja das Schönste, was man sich denken konnte mit Blicken hinaus, hinunter, hinüber. Und ausgestattet aufs Beste der Raum zum Wohnen wie das Bad. Nur eben jetzt im November die Fliesen kalt. Ihr bisschen Fußwärme vom Laufen hielt nicht lange vor. Im Rücken fror sie sowieso immer, kam sie um die Jahreszeit von draußen. Sie häufte Decken über sich, Decken und Bettwäsche im Wandschrank sehr reichlich. Dunkel war es, als sie aufwachte. So konnte sie zu Hertha und Heinrich hinauf. Tagsüber wollte sie die nicht behelligen. Es war ausgemacht, dass sie sich tagsüber allein unterhielt. Du bist ganz frei, wie du es wünscht, hatte Hertha gesagt. Und sie wünschte es sich auch. Sie war gewohnt, eine Stadt allein und im Laufen zu erkunden. Man sollte zudem keinen Aufwand für sie betreiben. Da würde sie sich nachher von Schuld und Dankbarkeit ganz bedrückt fühlen.

      Am nächsten Tag machte sie sich gleich auf den Weg zum Amt. Sie kam durch ein Gässchen. Als sie die Stimmung im Morgendunst mit der kleinen Kamera festhalten wollte, begann ein Geschrei von trotz des Novemberwetters halb nackten, schönen Damen, die sie erst jetzt wahrnahm und die Schilder an den Häusern. Rasch steckte sie die Kamera ein, breitete die Hände aus und ging sehr schnell und mitten auf der Straße. Das Amt geschlossen. Freitag war´s. Das hätte sie aber auch schon gestern lesen