Irene Dorfner

Nimm mich - oder stirb


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Frau, wie Walter sie haben wollte. Sie ging zu ihrem Wagen, wobei sie sich ständig umsah. Sie spürte, dass Walter hier irgendwo war. Aber wo?

      Stefan Kimmerle war untröstlich und sah der Frau hinterher. Sie hatte Angst und auch jeden Grund dazu. Trotzdem durfte er eine Anzeige nicht ohne Beweise aufnehmen. Die Kollegen waren sprachlos und starrten Kimmerle an.

      „Können wir wirklich nichts für die arme Frau tun?“, fragte Horst Deutschle immer noch sehr ergriffen.

      „Was denn? Ohne Beweise? Denkst du, der Stein reicht für eine Anzeige aus?“

      „Kaum. Schade, ich hätte der Frau sehr gerne geholfen.“

      „Denkst du, ich nicht?“

      Kimmerle tippte den Namen Walter Neubert Nürnberg in den Computer. Auf dem Bildschirm tauchte das Bild eines Mannes auf, der völlig harmlos aussah. Trotzdem war er aktenkundig, was den Anzeigen von Manuela Kaufmann und der damit zusammenhängenden Gerichtsverhandlung zu verdanken war. Fassungslos starrte Kimmerle auf das Gesicht, Deutschle stand hinter ihm.

      „Das ist der Beweis dafür, dass du den Menschen wirklich nicht ansiehst, welche Sadisten und Psychopathen dahinterstecken können. Wenn mir der Typ auf der Straße begegnen würde, würde ich niemals glauben, zu was der alles fähig ist. Wenn ich doch nur mal so einen in die Finger kriegen könnte.“ Horst Deutschle war sein Leben lang Polizist mit Leib und Seele gewesen. Aber seine Tage im Polizeidienst waren gezählt. Er war krank und seine Pensionierung war nur noch eine Frage von Monaten. Trotzdem würde er nicht vor einer Konfrontation mit einem solchen Verbrecher zurückschrecken, auch wenn seine beste Zeit schon hinter ihm lag.

      Nur noch eine halbe Stunde, dann hatte Kimmerle Feierabend. Frau Kaufmann ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Es kam nicht selten vor, dass er es mit häuslicher Gewalt und auch Stalking zu tun hatte. Die ängstlichen Augen der Opfer ließen ihn oft nicht zur Ruhe kommen, das ging auch an Polizeibeamten nicht spurlos vorbei. Das, was Frau Kaufmann erzählt hatte und was er dazu in den Unterlagen gelesen hatte, war einfach nur grausam und ekelhaft. Er hätte der Frau gerne geholfen, aber ihm waren die Hände gebunden.

      Manuela Kaufmann sah immer wieder in den Rückspiegel. Sobald Scheinwerfer darin auftauchten, wurde sie panisch. Sie verriegelte die Türen von innen, auch wenn das nicht viel helfen würde. Wenn Walter es auf sie abgesehen hatte, konnte ihn nichts und niemand davon abhalten. Zum Glück war der Weg nach Hause nicht zu weit. Sie stellte den Wagen ab, griff nach dem Pfefferspray und rannte auf den Eingang des Hochhauses zu. Rasch machte sie die Tür zu, wobei sie es unterließ, das Licht einzuschalten. Sie wartete und sah nach draußen, aber nichts geschah. Als sich die Tür des Aufzugs hinter ihr schloss, atmete sie erstmals auf. Die sechste Etage war erreicht. Ob Walter vor ihrer Tür auf sie wartete? Sie umklammerte das Pfefferspray und war auf das Schlimmste gefasst.

      Walter Neubert war immer in ihrer Nähe. Er war verärgert darüber, dass Manuela zur Polizei gegangen war. Hatte er ihr das nicht verboten? Und hatte sie nicht gelernt, dass sie ihn dadurch nicht abwimmeln konnte? Er konnte der Liebe seines Lebens ansehen, dass sie Angst hatte, was ihn wiederum freute. Nicht mehr lange, und er hatte sie genau da, wo er sie haben wollte.

      Walter Neubert dachte nicht daran, seiner Angebeteten jetzt schon zu nahe zu kommen. Noch nicht, die Zeit war noch nicht reif. Außerdem hatte er sich für Manuela viel einfallen lassen. Die Freude daran wollte er sich nicht mit einem zu schnellen Vorpreschen verderben.

      4.

      Drei Tage vergingen.

      Der Polizeibeamte Stefan Kimmerle musste immer wieder an die ängstliche Frau denken, der er nicht helfen konnte. Ein paar Mal war er an dem Hochhaus vorbeigefahren. Er kannte Neuberts Kfz-Kennzeichen auswendig und hielt Ausschau danach, aber davon war weit und breit nichts zu sehen. Ob sich die Frau nicht doch geirrt hatte und alles nur ein dummer Zufall war? Nein, daran glaubte er nicht. Dieser Psychopath war hier irgendwo. Irgendwann würde dieses Arschloch aus seinem Loch kriechen und zuschlagen – und Kimmerle musste zumindest versuchen, das zu verhindern.

      Stefan Kimmerle hatte Feierabend und auch heute nahm er wieder den kleinen Umweg über die Aalener Straße. In den letzten Tagen hatte er sich gemeinsam mit den Kollegen viele Gedanken darüber gemacht, wie sie der Frau helfen könnten. Es gab einige wichtige Ansatzpunkte, die vor allem von Horst Deutschle kamen. Der ältere Kollege hatte nach den vielen Dienstjahren reichlich Erfahrung und die war jetzt Gold wert. Kimmerle musste mit Frau Kaufmann sprechen, aber dafür war es heute schon zu spät. Wenn er jetzt bei ihr klingelte, würde er sie nur erschrecken. Trotzdem wollte er auch heute wieder an ihrem Haus vorbeifahren und nach dem Rechten sehen, nur ganz kurz.

      Kimmerle sah den Wagen mit dem Nürnberger Kennzeichen sofort. Frau Kaufmann hatte absolut Recht gehabt, Neubert war hier.

      Kimmerle hielt an und stieg aus, wobei er seine Hand an der Waffe hielt. In dem Wagen saß ein Mann, das musste Walter Neubert sein. Je näher er dem Wagen kam, desto deutlicher erkannte er das Gesicht des Mannes, dem er am liebsten eine reingehauen hätte. Aber das durfte er nicht. Er musste sich zusammenreißen und sachlich bleiben, auch wenn ihm das diesem Mann gegenüber sehr schwer fiel. Kimmerle klopfte an die Scheibe.

      „Was ist los?“ Walter Neubert hatte eine tiefe Stimme.

      „Guten Abend. Fahrzeugpapiere und Führerschein bitte.“

      „Warum? Ich sitze nur hier in meinem Wagen, das ist nicht verboten.“

      „Und ich möchte Ihre Papiere sehen. Wenn ich bitten darf?“

      Walter Neubert war stinksauer. Wegen eines dringenden Termins hatte er nach Nürnberg fahren müssen und dadurch drei wertvolle Tage vergeudet. Erst seit zwei Stunden war er wieder hier. Niemand außer Manuela sollte wissen, dass er sie gefunden hatte. Offiziell durfte er sich ihr nicht nähern, aber noch hatte er die vorgeschriebene Grenze nicht unterschritten. Murrend gab er dem in seinen Augen übereifrigen Provinzpolizisten die Papiere.

      Kimmerle war nicht überrascht, als er den Namen des Mannes las, der sich Frau Kaufmann nicht nähern durfte. Er entschied, sein Wissen vorerst für sich zu behalten.

      „Was machen Sie hier?“

      „Nichts.“ Walter Neubert fiel keine passende Erklärung ein. Was hätte er auch sagen sollen?

      „Bitte fahren Sie weiter.“

      „Warum?“

      „Anwohner haben sich beschwert“, log Kimmerle. „Wenn Sie hier nichts verloren haben, möchte ich Sie bitten, meiner Aufforderung nachzukommen.“

      Murrend startete Neubert den Wagen. Da der Polizist keine Anstalten machte, zu seinem Wagen zu gehen, blieb Neubert nichts anders übrig, als wegzufahren. Das passte ihm nicht. Er hatte drei Tage wegen diesem blöden, in seinen Augen völlig überflüssigen Termin, auf den sein Vater bestanden hatte, verloren. Jetzt musste er an Manuela dranbleiben und jede noch so kleine Information sammeln, denn noch wusste er nicht allzu viel. Er musste sie noch mehr ängstigen, denn noch ging es ihr nicht schlecht genug. Solange sie den Mut hatte, zur Polizei zu gehen, war sie noch nicht am Boden, und das musste er ändern. Während der Zeit, in der er vor dem Hochhaus auf Manuela wartete, hatte er sie nicht gesehen. Hätte sie nicht längst von der Arbeit zurückkommen müssen? In ihrer Wohnung brannte kein Licht, also konnte sie noch nicht hier sein. Oder etwa doch? Wollte ihn das kleine Luder an der Nase herumführen, wie sie es so oft getan hatte? Er musste seinen Posten verlassen, dieser Trottel von Polizist bestand darauf. Spätestens in einer halben Stunde war er wieder zurück und musste sich überlegen, wie er an den Schlüssel ihrer Wohnung kommen konnte.

      Kimmerle sah dem Wagen hinterher und hatte kein gutes Gefühl. Die Augen des Mannes waren eiskalt, der Typ war sicher zu allem fähig. Die Angst von Frau Kaufmann war nicht unbegründet. Er musste dringend die Kollegen informieren. Er stieg in seinen Wagen und beschloss, noch zu bleiben und abzuwarten, ob Neubert wieder zurückkam. Wäre der Mann so dreist, sich seiner Anweisung zu widersetzen?

      Tatsächlich kam der Wagen nach knapp dreißig Minuten zurück. Als