Irene Dorfner

Nimm mich - oder stirb


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das ist uns doch beiden klar.“

      „Du sollst verschwinden, sonst rufe ich die Polizei!“

      „Es gefällt mir nicht, wie garstig du zu mir bist. Sobald wir zuhause sind, werde ich dir das wieder abgewöhnen. Bitte komm zurück und mach keinen Ärger, sonst muss ich böse werden.“ Walter Neuberts Stimme wurde lauter und bedrohlicher.

      „Ich komme nicht zurück. Geh nach Hause und lass mich in Ruhe!“

      „Du weißt, dass ich das nicht kann. Ich will und kann nicht ohne dich leben. Wir beide sind Seelenverwandte, so etwas gibt es nicht oft. Verstehst du denn nicht, was für ein Glück wir haben? Ich bitte dich nochmals: Komm mit mir nach Hause!“

      „Niemals!“, flüsterte sie. Ihre Knie zitterten, und jetzt zitterten auch ihre Hände. Walter konnte das sehen und das wollte sie nicht, aber sie konnte nichts dagegen unternehmen.

      „Was willst du jetzt tun, mein Engel? Willst du mich mit dem Spielzeug in deiner Hand daran hindern, dich zurückzuholen? Das ist doch lächerlich, davon lasse ich mich nicht abhalten, du müsstest mich eigentlich besser kennen. Komm endlich zur Vernunft, Manuela. Komm zu mir zurück und alles wird wieder gut. Was willst du denn in dem hässlichen Wohnbunker in diesem kleinen schwäbischen Kaff? Du gehörst nicht hierher, du gehörst zu mir.“ Walter kam noch einen Schritt näher.

      Manuela umklammerte den Taser. Sie konnte Walters Atem spüren und sein Aftershave riechen, was die Erinnerungen noch lebendiger machte. Sie spürte den Drang, einfach wegzulaufen, aber Walter stand ihr im Weg. Was sollte sie tun?

      „Manuela?“ Andreas Grießer war ihr gefolgt. An seiner Seite war der nette, alte Mann aus dem Erdgeschoss, Ibrahim Kalin, der mit Andreas gesprochen hatte und ihm zur Seite stehen wollte. Andreas hatte die Angst in ihren Augen gesehen und er befürchtete, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Andreas mochte die neue Nachbarin sehr und wollte ihr helfen. Dasselbe galt für Ibrahim Kalin, der sich in seinem ganzen Leben noch nie vor etwas gefürchtet hatte und für den Zivilcourage an erster Stelle stand. Auch wenn er nicht verstand, was hier vor sich ging, war es für ihn keine Frage, dass er Andreas Grießer ohne weitere Erklärung unterstützen wollte.

      Als Walter Neubert die Fremden auf sich zukommen sah, stieß er eine letzte Warnung aus:

      „Ich habe es dir schon einmal gesagt: Entweder du nimmst mich, oder du stirbst! Niemand außer mir soll dich haben!“ Dann verschwand er in der Dunkelheit.

      Andreas hatte den Mann gerade noch gesehen. Ibrahim sah in der Dunkelheit mit seinen achtundsiebzig Jahren sehr schlecht, er hatte nur eine Silhouette wahrnehmen können. Erschrocken sahen die Männer Manuela an, die immer noch mit dem Taser im Anschlag dastand. Ibrahim sprach mit seinem akzentuierten Schwäbisch beruhigend auf sie, dasselbe versuchte Andreas Grießer. Es verging viel Zeit, bis Manuela endlich antwortete.

      „Was wollte der Mann von dir?“

      „Das ist eine lange Geschichte.“

      „Ich habe Zeit. Wie sieht es mit dir aus, Ibrahim?“

      „Mich brauchst du nicht fragen. Ich bin Rentner und habe immer Zeit.“

      „Danke, aber ich möchte euch nicht langweilen.“

      „Du kannst einen alten, einsamen Mann nicht langweilen. Du kommst jetzt mit. Ich mache uns einen schönen, starken Tee, der wird dir guttun.“ Ibrahim duzte die Frau einfach, das machte Andreas schließlich auch. Ibrahim und Andreas verband eine jahrelange, sehr gute Nachbarschaft, die sich in den vielen Jahren zur Freundschaft entwickelt hatte. Ibrahim war alleinstehend und Andreas half, wann immer seine Hilfe benötigt wurde.

      Während Ibrahim sprach, nahm ihr Stefan den Taser aus der Hand, den sie immer noch fest umklammert hielt. Sie hatte einen Krampf, der sich nur langsam löste.

      Manuela war immer noch geschockt davon, Walters Gesicht zu sehen und seine Stimme zu hören. Sein Atem und der Duft des vertrauten Aftershaves verursachten einen Würgereiz, dem sie nachgeben musste. Sie übergab sich auf dem Parkplatz, was weder sie, noch die beiden Männer, störte. Erschöpft lehnte sie sich an den Wagen. Dann suchte sie mit zitternden Händen nach den Beruhigungstabletten und nahm gleich drei davon. Langsam beruhigte sie sich.

      „So, jetzt reicht es aber“, entschied Ibrahim und nickte Andreas zu. Beide griffen ihr unter die Arme und sie ließ sich widerstandslos mitführen. Um sich den Männern zu widersetzen hatte sie keine Kraft mehr. Am liebsten hätte sie sich irgendwo verkrochen, stattdessen fand sie sich in Ibrahims Wohnung wieder. Sie fühlte sich nicht wohl in der fremden Umgebung und brauchte lange, bis sie endlich bereit war, von sich zu erzählen.

      Beide Männer waren fassungslos, als sie die Geschichte hörten, wobei Manuela die Teile wegließ, die ihr zu peinlich vor den beiden waren. Sie brauchten nicht alle Details zu wissen, für die sie sich schämte und ihr sehr unangenehm waren. Das, was sie bereit war zu erzählen, musste ausreichen.

      Die beiden Männer hingen an Manuelas Lippen. Je mehr sie von ihrer Leidensgeschichte preisgab, desto fassungsloser waren sie. Wie war es möglich, dass ein Mann der Partnerin so etwas antun konnte?

      Irgendwann kam Manuela zu dem Punkt, an dem sie die Mappe auf den Tisch legte, die sie in Kopie immer bei sich trug.

      „Wenn ihr mir nicht glaubt: Hier sind die Beweise“, schloss sie ihre Ausführungen. Sie war müde, die Tabletten wirkten.

      „Warum sollten wir dir nicht glauben?“ Ibrahim stand auf und langte in das prall gefüllte Bücherregal. Er zog eine Flasche hervor.

      „Alkohol? Du bist Moslem, Ibrahim“, versuchte Andreas einen Witz zu machen, auch wenn er immer noch erschrocken davon war, was er eben gehört hatte.

      „Das ist Medizin für Notfälle, und das ist ein Notfall.“ Er schenkte vorsichtig ein. „Trink, Mädchen. Den hat mein Neffe selbst gebrannt, reine Medizin.“

      Das Gebräu brannte fürchterlich, trotzdem trank sie ein zweites Glas. Ob Alkohol in Verbingung mit den Medikamenten so eine gute Idee war? Es war ihr gleichgültig. Die Gesellschaft der Männer tat ihr gut. Ibrahim schenkte nach und je mehr sie trank, desto ruhiger und müder wurde sie tatsächlich.

      Andreas hatte die Unterlagen durchgesehen. Die Fotos waren widerlich und verursachten ein flaues Gefühl im Magen, weshalb auch er einen Schnaps brauchte.

      „Wahnsinn! Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest. Man liest ja immer nur von häuslicher Gewalt und Stalking oder sieht etwas im Fernsehen darüber. Wenn man aber selbst damit konfrontiert wird, ist das schon eine andere Hausnummer. Dir ist hoffentlich klar, dass dieser widerliche Mann diesmal einen Schritt zu weit ging? So wie ich das sehe, hat er gegen die Auflagen verstoßen. Er stand direkt vor dir, somit wurde die ihm vom Gericht auferlegte Grenze mehr als unterschritten.“

      „Wie soll ich das beweisen?“

      „Hallo? Ich habe den Mann gesehen. Du hast einen Zeugen.“

      „Ich habe ihn nicht gesehen, aber Andreas reicht. Mehr als einen Zeugen brauchst du nicht. Gehen wir?“

      „Wohin?“

      „Zur Polizei. Dort kannst du Anzeige erstatten.“

      „Und was mache ich danach? Walter ist in meine Wohnung eingebrochen, er hat einen Schlüssel. Ich kann nicht mehr in meine Wohnung gehen.“

      „Wenn du keine Angst vor mir hast, kannst du heute Nacht gerne hierbleiben“, sagte der alte Ibrahim und lächelte verlegen.

      „Und gleich morgen früh werde ich das Schloss an deiner Tür austauschen. Wir beide werden ein Auge auf dich haben. Wenn du Angst hast oder Hilfe brauchst, werden wir für dich da sein.“

      „Ihr seid so lieb zu mir. Womit habe ich das verdient?“

      „Das ist die schwäbische Gastfreundschaft“, sagte Ibrahim und lachte laut, wodurch sich die Stimmung etwas entspannte. Nach einem weiteren Schnaps brachen die drei auf.

      Auch heute Abend hatte Stefan Kimmerle Dienst. Er erkannte Manuela