»du musst es nur noch im Koffer verstauen.«
Es würde für viele Jahre wohl das letzte Mal sein, dass die gesamte Familie Lederer einfach so und unterm Jahr in den Urlaub fliegen konnte. Denn Alina wurde im kommenden Sommer eingeschult und von da an gab es außerhalb der ordentlichen Ferienwochen kaum mehr Freiräume. Die Lederers hatten sich für eine öffentliche Schule entschieden, damit ihre Tochter so frei und so natürlich wie nur möglich aufwachsen durfte.
Es war Anfang Mai und die Eisheiligen standen noch vor der Tür. Die Frühlingssonne wärmte jedoch schon kräftig und alles grünte und blühte am Lac Léman, in La Tour-de-Peilz, wo die Familie seit Jahren in ihrer Villa am See lebte.
Jules Lederer, Sohn eines Schweizer Diplomaten und der Tochter einer Zürcher Industriefamilie, hatte sein Vermögen selbst verdient, war viele Jahre lang als Problemlöser für private Auftraggeber und Weltkonzerne tätig gewesen. Doch was mochte man sich unter einem Problemlöser vorstellen? Und warum konnte sich der Schweizer damit ein Vermögen verdienen? Er hatte Wirtschaftswissenschaften an der HSG studiert, wurde nach seinem erfolgreichen Abschluss von einer weltweit tätigen Anwaltskanzlei in Zürich angestellt. Zuerst betreute er die wohlhabende Klientel in verschiedenen Steuer- und Rechtsfragen. Später kamen handfestere Aufträge hinzu. Jules bewährte sich auch darin, nicht zuletzt aufgrund seiner über viele Jahre hinweg gepflegten Leidenschaft für asiatische Kampfsportarten.
Nach ein paar Jahren wurden ihm der administrative Rahmen der Kanzlei zu eng und er machte sich selbstständig. Die meisten seiner Klienten blieben ihm treu, neue kamen hinzu. Und so reiste Jules viele Jahre in der Welt herum, löste die Probleme anderer, verdiente sich damit eine goldene Nase. Jules hatte auch einen ausgeprägten Hang zu Geheimnissen entwickelt, spürte ihnen nach, wo immer er auf sie stieß, fand manche lange Zeit verborgene Sünde hochrangiger Persönlichkeiten heraus, ließ sich sein Schweigen manchmal ohne Skrupel bezahlen, brachte die Wahrheit in anderen Fällen an die Öffentlichkeit.
Vor sechs Jahren hatte er bei einem seiner Aufträge Alabima kennengelernt. Seitdem waren sie ein Paar, hatten nach einem Jahr ihre Tochter Alina bekommen. Alabima war Äthiopierin aus dem Stamm der Oromo und damit Christin wie Jules. Sie hatte in Addis Abeba Kommunikationswissenschaften studiert und später als Radio-Moderatorin gearbeitet. Doch die Lederers waren nicht zu dritt, sondern eine vierköpfige Familie, denn neben Jules, Alabima und Alina gab es auch noch Chufu. Der Philippine war Waisenjunge, wurde von seiner Mutter gleich nach der Geburt anonym abgegeben. Mit vierzehn Jahren verdingte sich Chufu auf einem Öltanker als Küchenjunge, wo Jules ihn kennenlernte. Alabima und er adoptierten den Jungen, ließen ihn die verpasste Schulbildung nachholen. Chufu lebte seit gut zwei Jahren in Rio de Janeiro, studierte Psychologie an der Universidade Federal, genauso wie seine Freundin Mei Ling. Sie war chinesischer Abstammung, jedoch in Brasilien geboren und aufgewachsen. Ihre Familie betrieb seit Jahrzehnten eine erfolgreiche Kette von China-Restaurants, war zu einem ansehnlichen Vermögen gelangt.
Die wilden Zeiten waren für Jules allerdings Geschichte. Nachdem einer seiner letzten Aufträge die gesamte Familie in höchste Gefahr gebracht hatte, musste er Alabima versprechen, keine Problemfälle mehr für andere zu lösen. Doch das Leben als Frührentner bekam dem Schweizer schlecht. Vielleicht lag es aber auch bloß am Alter, denn er ging immerhin auf die Fünfzig zu und seine Midlifecrisis war eigentlich überfällig.
Jules trat aus seinem Büro auf den Flur im Erdgeschoss, ging durch die Halle hinüber zur Küche.
»Na, ihr beiden?«, begrüßte er Alabima und Alina, fasste die Kleine unter den Armen, hob sie hoch, was diese überhaupt nicht schätzte und dies mit heftigem Zappeln auch ausdrückte.
»Lass mich runter, Papa«, forderte sie Jules unmissverständlich auf, »ich muss noch einmal hoch in mein Zimmer. Ich hab noch etwas vergessen. Für Amerika.«
Jules drückte ihr einen Kuss auf die Wange und ließ sie auf den Boden hinunter. Die Kleine rannte auch gleich los, aus der Tür und die Treppe hoch.
»In fünf Minuten gibt’s Frühstück, Liebling«, rief ihr Alabima mahnend hinterher.
»Oui, oui«, kam von oben eine Antwort außer Atem zurück.
»Alles okay?«, fragte Alabima mit einer Spur von Sorge in ihrer Stimme.
»Ja, ja«, beschwichtigte Jules, »Chufu und Mei haben doch noch Sitzplätze bekommen, müssen allerdings über Mexiko City fliegen. Doch sie können uns wie vereinbart Übermorgen in Dallas treffen.«
»Und sonst?«
Die Äthiopierin blickte ihrem Ehemann forschend ins Gesicht.
»Nein, alles okay«, wehrte er etwas allzu rasch ab.
»Hast du heute noch einen Termin bei Dr. Grey?«
Jules nickte, wirkte ein wenig angespannt.
»Ja, um zehn. Bis zwölf bin ich sicher zurück.«
»Espresso?«
Wieder nickte er, diesmal stumm.
Sie stellte die gewärmte Tasse unter den Ausguss der Kaffeemaschine, drückte die entsprechende Taste des Vollautomaten. Während das Mahlwerk die Bohnen zerkleinerte und die Pumpe anschließend das heiße Wasser durch das Pulver presste, goss Alabima Milch aus den Tetra-Pack in einen Topf, tat einen Wächter hinein, stellte die Pfanne auf das eingeschaltete Kochfeld, holte einen Suppenteller heraus, goss aus dem großen Glasbehälter ein Häufchen Haferflocken hinein, zog eine tiefe Schublade im Schrank auf, holte von dort die Büchse mit dem Schokoladenpulver hervor, zog den Deckel ab, nahm den Messlöffel heraus und schaufelte eine knappe Portion über den Flockenhaufen.
Jules nahm sich den fertigen Espresso vom Abtropfbrett der Maschine, nippte kurz daran, betrachtete sich Alabimas Hinterkopf, ihr schulterlanges, schwarzes, geglättetes Haar, das sie heute Morgen als Pferdeschwanz trug, blickte auf ihren schmalen Hals, auf den weichen Übergang zu ihrem Nacken, auf ihre makellose Haut. Sie war immer noch eine Schönheit, trotz ihrer Mitte-Dreißig. Jules trat hinter sie, umfasste ihren Oberkörper mit dem freien Arm, presste seine Wange über ihre Schulter hinweg an ihren Kopf.
»Ich liebe dich«, flüsterte er ihr ins Ohr, »oh Gott, wie ich dich liebe.«
Alabima drehte sich in seiner Umarmung um, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
»Das will ich auch hoffen, Mister Lederer. Immerhin möchte ich noch viele glückliche Jahre mit dir verbringen.«
Sie küssten sich weich und warm, ließen zwischen den leicht geöffneten Lippen nur ihre Zungenspitzen kreisen, langsam und schmeichelnd, warm und liebkosend. Als sie sich lösten, waren sie beide etwas außer Atem geraten, blickten einander dafür umso glücklicher an.
Der Milchwächter meldete sich klappernd und Alabima fuhr herum, hob den Topf rasch von der Herdplatte, leerte die Milch über den Flocken aus, griff sich einen Dessertlöffel aus der Schublade, denn die Suppenlöffel waren für Alina noch zu groß, rührte kurz im Teller um, nahm ihn mit beiden Händen auf und stellte ihn auf den Esstisch, legte den Löffel schräg auf seinen Rand.
»Petit déjeuner est prêt«, rief sie so laut in Richtung der Küchentüre, dass es ihre Tochter in der oberen Etage hören musste.
Jules setzte sich mit seinem Espresso an den Tisch, während sich Alabima einen Milchkaffee aus der Maschine ließ und sich dann ebenfalls setzte. Der kleine Wirbelwind stürzte herein, hopste auf den Stuhl mit dem Teller davor, griff sich den Löffel und schaufelte sich etwas vom heißen Haferbrei darauf, pustete so stark darüber, dass sich zwei Flocken lösten und im Bogen auf die Tischplatte fielen, stopfte sich den Rest in den Mund und begann genüsslich zu kauen. Ihre Eltern saßen daneben, schauten ihr stumm zu, hingen ihren Gedanken nach.
»Was ist?«, fragte Alina zwischen zwei Löffeln, blickte misstrauisch erst in das Gesicht der Mutter, dann zum Gesicht des Vaters schräg neben ihr hoch.
»Nichts«, beeilte sich Alabima klar zu stellen, »wir sind bloß glücklich.«
Die Kleine kräuselte ihre Stirn.
»Glücklich?«, fragte sie,