Kendran Brooks

Justice justified


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      Michael Langton war das, was man hier in Hongkong einen freien Makler nannte. Er vermittelte Geschäftskontakte zwischen Kunden in aller Welt und chinesischen Produzenten. Mr. Chen war ein mittelgroßer Uhrenhersteller, betrieb auf dem Festland drei Fabriken, die er stolz als Manufakturen bezeichnete. Er beschäftigte mehr als tausend Mitarbeiter, wobei der überwiegende Teil weiblich war, wegen der besseren Feinmotorik, wie Chen gegenüber einer fragenden Journalistin einmal betont hatte. Auf ihre Rückfrage, warum denn in der Schweiz die meisten Uhrmacher Männer seien, schwieg er dann beleidigt.

      Die Fabriken von Chen hatten letztes Jahr viertausend exklusive Armbanduhren für ein brasilianisches Modehaus produziert. Michael Langton hatte diesen Deal vermittelt und daran recht gut verdient. Doch nun hatte sich herausgestellt, dass die eingebauten Batterien in den Uhren kaum ein halbes Jahr lang hielten und danach ausgetauscht werden mussten. Selbstverständlich beklagte sich der südamerikanische Kunde sogleich bei Michael Langton, verlangte nach einer nachträglichen, happigen Rückzahlung. Immerhin musste das Modehaus die verärgerte Kundschaft mit Gutscheinen bei Laune halten. Michael hatte sich schon nach dem ersten Anruf mit der Hiobsbotschaft aus der Hauptstadt Brasilia schrecklich gefühlt. Immerhin haftete er als Intermediär für den entstanden Schaden, weil er dummerweise die Qualitätssicherung vor dem Versand der Uhren nach Südamerika persönlich übernommen hatte. Denn seine Provision betrug nur fünf Dollar und fünfzig Cent pro Uhr, wobei die Überwachung und Kontrolle der Qualität mehr als die Hälfte ausmachte. Insgesamt zweiundzwanzig tausend Dollar hatte Michael Langton eingestrichen und als Gegenleistung bloß ein paar Telefonate geführt, einen kurzen Besuch in einer der Fabrikationshallen von Mr. Chen gemacht, ein Arbeitsessen mit dem Firmeninhaber bezahlt und ein paar Stichproben der versandfertigen Waren entnommen und untersucht. Er hatte Mr. Chen zwar von Anfang an nicht hundertprozentig über den Weg getraut, die Uhren deshalb mit der Lupe genauestens geprüft, sie sogar einem befreundeten Uhrmacher gezeigt. Doch selbst der fand keine Mängel, weder am verwendeten Material noch an den eingesetzten Bauteilen oder der Sorgfalt beim Zusammensetzen. Aber er hatte Michael Langton auf den Batteriehersteller hingewiesen.

      »Die Shenzhen Accumulator Ltd. produziert ab und zu in schwankender Qualität. Du solltest die Batterien zur Sicherheit noch zum Nachmessen geben.«

      Und das hatte Langton leider nicht getan, hatte sich in diesem Punkt auf die Zusicherungen von Mr. Chen verlassen. Der gab nämlich an, dass in seinen Betrieben jede eintreffende Batterielieferung von seinen Leuten gewissenhaft vermessen wurde und nur erstklassige Ware, die mindestens drei Jahre hielt, an Lager genommen würde.

      Verdammt, dachte Michael Langton, ich Idiot, während er seinem chinesischen Lieferanten weiter bei seinen Ausflüchten und Rechtfertigungen zuhörte.

      »Wie stellen Sie sich das vor, Mr. Langton«, ereiferte sich der Chinese in diesem Moment, »fünfundzwanzig Dollar Rückerstattung? Pro Uhr? Ist Ihr Kunde wahnsinnig geworden? Er hat mir nicht mehr als fünfundsechzig Dollar pro Stück bezahlt.«

      »Ja, Mr. Chen, ich verstehe. Aber sein Angebot erscheint mir trotzdem sehr fair. Immerhin hat er jedem Käufer einen Gutschein im Wert von fünfzig Dollar abgegeben. Er übernimmt also selbst fünfzig Prozent des Schadens.«

      »Papperlapapp«, reklamierte der Chinese sogleich, »die Bruttomarge dieser Modehäuser liegt bestimmt bei neunzig Prozent. Da verdient er noch was an seinen Gutscheinen. Drei Dollar Preisminderung pro Uhr, das ist mein einziges und letztes Angebot. Und das mache ich nur, weil Sie ein guter Junge sind.«

      Michael Langton war über die Großzügigkeit des Uhrenherstellers entsetzt und über die Entwicklung des Gesprächs verzweifelt. Doch er hatte den Vertrag, den er als Intermediär mit der Watch & Jewellerie Company Shanghai des Mr. Chen abgeschlossen hatte, bereits mehrere Male vor und zurück durchgelesen, fand darin leider auch eine gewisse Passage über den Ausschluss jeglicher Garantie bezüglich den verwendeten Batterien. Der Passus war ihm vor der Vertragsunterzeichnung entgangen, wahrscheinlich deshalb, weil er unter den kleingedruckten Terms & Conditions stand, also dort, wo sich sonst bloß allgemeine Floskeln zur Lieferung und Bezahlung tummelten. Der vielfache Millionär Chen hatte den kleinen Makler Langton damit jedoch sauber gelinkt. Und dass er ihm nun anbot, drei Dollar des Schadens zu übernehmen, war wohl eher als zusätzlicher Hohn und nicht etwa als ehrliche Wiedergutmachung gedacht.

      »Ihr brasilianischer Kunde kann die Uhren auch an uns zurücksenden«, bot der Fabrikant nun an, »dann tauschen wir ihm die Batterien umsonst aus. Gut so, Mr. Langton? Sie sehen, ich bin Ihr Freund und will Ihnen helfen.«

      Das war ebenso großer Nonsens wie das drei Dollar Angebot. Gequirlte Scheiße, wie Michael gerade dachte. Denn kein Käufer würde mehrere Wochen auf seine Armbanduhr verzichten, wenn er die Batterie auch für wenige Reales direkt in Brasilien austauschen lassen konnte und dafür auch noch einen Gutschein des Modehauses im Gegenwert von fünfzig Dollar erhielt.

      »Teilen Sie mir also mit, für welche Variante sich Ihr Kunde entscheidet. Rufen Sie mich wieder an, Mr. Langton, ja?«

      Mr. Chen hatte nach diesem Satz direkt aufgelegt und auch Michael Langton drückte ein paar Sekunden später den Knopf an seinem Handy, unterbrach die Verbindung auf seiner Seite.

      Verdammt. Hunderttausend Dollar wollte sein Kunde in Rio de Janeiro von ihm zurückerhalten und damit Gutscheine über zweihunderttausend finanzieren. Auch Michael Langton war selbstverständlich klar gewesen, dass die Margen des Modehauses weit höher als bei fünfzig Prozent lagen, die Brasilianer also auf seine Kosten ein Zusatzgeschäft witterten. Doch was hätte er anderes tun sollen?

      Der Halb-Chinese seufzte, nahm wieder sein Smartphone zur Hand und suchte sich aus dem Speicher eine bestimmte Nummer heraus, drückte die Anruftaste, hob das Telefon an sein Ohr.

      »Ja, hallo Charley, ich bin’s, Michael. Du, ich komm aus der verdammten Brasilien-Sache nicht mehr raus. Ja, die Batterie-Geschichte, von der ich dir gestern erzählt habe. Leitest du bitte alles wie besprochen in die Wege? Ja? Ich danke dir. Nein, ich werde die Büroadresse hier sicherheitshalber noch heute aufgeben. Miete mich doch vorerst im VP an der Central Station ein. Den neuen Namen kennst du ja. Okay? Wir sehen uns morgen. Ciao.«

      Charley Chase war sein Anwalt und Freund. Und was Charley nun auf den Weg brachte, das hatte er für Michael Langton bereits zweimal durchgespielt. Die Langton Trade and Export Corporation Ltd. würde in den nächsten Tagen im Handelsregister gelöscht, genauso wie die frühere Michael Langton Quotation Ltd. und die Hang Seng Trading Ltd. zuvor. Dafür würde als sein neues Unternehmen die ML Logistics Ltd. Eingetragen werden.

      Neuer Name, neue Adresse, neues Leben. Die Wiedergeburt des Geschäftsmanns Michael Langton war sichergestellt. Sollten die Brasilianer ruhig toben. Immerhin war auch er, Michael Langton, von Mr. Chen hereingelegt worden. Und dass sich sein Kunde in Südamerika auch noch an ihnen beiden bereichern wollte, war zwar verständlich, aber nicht sein Problem. Fairness im Geschäftsleben hin oder her. In dieser Beziehung war Michael Langton längst zum Vollblut-Chinesen geworden. Immerhin war er vor über dreiundzwanzig Jahren in dieser Stadt geboren worden und hier aufgewachsen, sprach Mandarin und Kantonesisch ebenso fließend wie Englisch, wenn auch alle drei mit dem Akzent aller Hongkonger. Sein Vater, John Langton, und seine Mutter, Lai a-Mong, waren beide leider sehr früh verstorben und er hatte kaum Erinnerungen an sie. Denn Michael war damals erst drei gewesen und wuchs von da an im Waisenhaus auf. Er konnte in all den Jahren nie an eine andere Familie vermittelt werden. Warum das so war? Das fand er erst viel später und als Erwachsener heraus.

      Niemand wollte Sie, Michael, tut mir wirklich leid, hatte die Direktorin ihm auf seine Frage hin stets versichert. Misses Chan war eine kleine, gedrungene Frau mit dem breiten Gesicht einer Bulldogge und dem schwankenden, watschelnden Gang einer Ente, ebenso bissig, wie verschlagen. Doch jedes zusätzliche Waisenkind bedeutete für ihr privat geführtes Haus eine Einnahmequelle. Und so schmierte Misses Chan über viele Jahre hinweg die lokalen Sozialbehörden, damit deren Beamten für keinen ihrer Schützlinge jemals Platz in einer anderen Familie finden konnten.

      Das alles war Michael allerdings erst richtig klar geworden, als er vor drei Jahren im Internet auf einen Bericht über die katastrophal niedrige