Der nächste Morgen zeigte ein hellblaues Firmament, geschmückt mit wenigen, strahlend weißen Miniwolken. Vom sechsten Stockwerk des Hotels aus sahen sie über die meisten Dächer der Vorstadt hinweg. Sie wirkte staubig, ausgedörrt und irgendwie verlebt. Man fühlte die Hitze, welche die Häuser und Straßen jeden Sommer in Gefangenschaft nahm, die trockene, heiße Luft, die das Atmen schwer machte und jede Anstrengung verdoppelte.
Das Frühstücks-Buffet ließ kaum Wünsche offen und Alabima ermahnte ihren Ehemann mehrmals, forderte ein wenig Zurückhaltung. Sie selbst begnügte sich mit einem Teller mit Früchten und zwei Tassen Tee mit ein wenig Milch und ohne Zucker, während Jules dreimal zum Stand mit den Pancakes und dem Ahornsirup lief, unter den immer strenger blickenden Augen seiner Gattin. Alina aß brav den Bagel mit Frischkäse, den ihr die Mutter geschmiert hatte, trank den Orangensaft und die Tasse mit warmer Milch, wirkte aufgedreht und trotz der kurzen Nacht erfrischt, betrachtete neugierig die anderen Leute im Frühstücksraum, fragte ihre Eltern dies und das. Das schwarz gelockte, fröhliche Mädchen erntete von einigen der Tische freundliche Blicke. Ja, Alina war in ihrer natürlichen Ungezwungenheit ein amüsanter und bunter Punkt in der sonst eher von Missmut oder Kater beherrschten Frühstückslandschaft.
Chufu und Mei flogen von Rio de Janeiro über Mexico City ein, würden kurz nach zehn Uhr vormittags in Dallas ankommen. Genug Zeit für eine weitere Tasse Kaffee, wie Jules feststellte, bevor er noch eine letzte Runde zum Stand mit den laufend frisch zubereiteten Pancakes drehte und sich danach gespielt schuldbewusst unter dem Stirnrunzeln seiner Gattin wieder an den Tisch setzte und auch noch ein aber Papa, so viel ist doch ungesund seiner fünfjährigen Tochter über sich ergehen ließ.
Sie erreichten pünktlich und voller Vorfreude die Ankunftshalle, schlossen wenig später ihre beiden Brasilianer herzlich in die Arme, begrüßten sich überschwänglich, denn das letzte Mal hatte man sich zu Weihnachten, also vor mehr als vier Monaten gesehen.
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Ihr Dogde Grand Caravan bot ihnen neben sieben Sitzplätzen genug Stauraum für die Koffer. Als erstes steuerte Jules einen Wal-Mart an, wo sie sich mit einer elektrischen Kühlbox, Getränken und ein paar Früchten ausstatteten. Die Kühlbox wurde über den Zigarettenanzünder angeschlossen, hielt die Lebensmittel frisch. Das gesetzte Tagesziel hieß Amarillo, die größte Stadt im Panhandle von Texas. Für die 360 Meilen würden sie knapp sechs Stunden benötigen, also erst gegen Abend eintreffen. Jules hatte im Big Texan zwei Zimmer reserviert. Sie wollten auch im Saloon-Restaurant Essen gehen und dort womöglich einem der Vielfraße zusehen, die das 72 Unzen schwere T-Bone-Steak bestellten. Es kostete fünfzig Dollar, war jedoch umsonst, wenn man es auf einem erhöhten Platz und innerhalb einer Stunde mit sämtlichen Beilagen verdrückte. Jules hatte sich vor Jahren selbst einmal an diesem gewaltigen Brocken Steak versucht, war jedoch kläglich gescheitert, hatte kaum die Hälfte geschafft, hatte sich damals mit der mangelhaften Qualität des Fleisches herausgeredet. Er beschrieb es als eindeutig zu sehnig, nichts für seinen empfindlichen Gaumen und einem Feinschmecker unwürdig. Jahre später sah er im Fernsehen zu, wie der kanadische Profi-Wettesser Peter Czerwinski, besser bekannt als Furious Pete, in Las Vegas ein über 100 Unzen schweres Steak innerhalb von vierzig Minuten verdrückte, zusammen mit einer ganzen Pfanne voller Bratkartoffeln. In der Erinnerung an sein damaliges Steak im Big Texan wurde ihm beim Anblick von Furious Pete, wie er sich riesige Fleischbrocken in den Schlund schob und kaum gekaut schluckte, noch einmal übel.
Für die kleine Alina waren Hotel und Saloon des Big Texan gleichermaßen eine Show. Das Motel war wie die Mainstreet einer Westernstadt gebaut, der Saloon wirkte authentisch und die Westernmusik überspielte die vielen Touristen in T-Shirts und Flip-Flops. Der Andrang an Besuchern war an diesem Abend jedoch enorm und Jules erinnerte sich mit Wehmut an die Gemütlichkeit seines letzten Besuchs hier vor mehr als zehn Jahren. Damals gab es noch keinen Biergarten, auch noch keinen Irrgarten und bloß einen kleinen Andenkenladen. Alles war mindestens zwei Nummern kleiner gewesen, drei Nummern bescheidener, um vier Nummern weniger touristisch.
Alina trug ihren Stetson jedoch so stolz wie Nachbars Fiffi seinen neuen Poncho, erklomm selbständig die Stufen zum riesigen Schaukelstuhl, den sie hinter dem Biergarten fanden, thronte dort oben vornehm wie eine Königin, hielt Hofstatt, blickte fröhlich lachend in die Kamera ihrer Mutter. Als ihr Tisch bereit war und sie die Menükarte studiert hatten, bestellten sie sich unterschiedliche Vorspeisen, um sie alle probieren zu können, und selbstverständlich Steaks als Hauptgang, dazu Wein oder Bier oder Eistee, je nach Lebensalter. Mei und Chufu erzählten von ihrem Studium und von Ereignissen innerhalb der Familie Ling. Alabima und Jules betrieben eher Small-Talk, erzählten nicht wirklich aus ihrem Leben und von den letzten Monaten. Zu frisch waren noch gewisse Wunden, deren Heilung mit Hilfe von Dr. Grey erst begonnen hatte. Und die beiden Psychologie-Studenten bohrten auch nicht weiter nach, verstanden die Zurückhaltung der Eheleute, wussten ja, dass Jules professionelle Hilfe in Anspruch nahm und dass Alabima große Hoffnungen auf eine positive Entwicklung setzte. Nicht immer war Reden die beste Medizin, auch nicht in der Psychoanalyse. Sie verbrachten eine erholsame Nacht in den bequemen Betten des Motels und selbst Jules schlief für einmal tief und fest.
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Am nächsten Tag fuhren sie zum nahen Paolo Duro Canyon, mieteten sich auf der Ranch vor dem Eingang zum State Park Reitpferde. Für die fünfjährige Alina wurde ein lustiges, rotbraunes Pony gesattelt, die übrigen erhielten ausgewachsene Tiere. Mei Ling war mit Abstand die beste Reiterin unter ihnen, weil sie seit Kindesbeinen an auf dem Rancho ihrer Eltern in Brasilien Umgang mit Pferden hatte und oft ausgeritten war. Aber auch Chufu stellte sich beim Aufsatteln als echte Hilfe für die Cowboys und Cowgirls der Ranch heraus. Seit er Mei vor zwei Jahren kennengelernt hatte, verbrachten die beiden manches Wochenende auf dem riesigen Anwesen der Lings, weitab der Millionen-Metropole Rio de Janeiro.
Das erste Stück Weg führte äußerst steil in die Tiefen des Canyons. Alabima und Jules, die als letzte in der Kolonne ritten, verhielten ihre Pferde und sahen sich schweigend und zweifelnd an. Wie leicht konnte doch ein Pferd auf dem unbefestigten Weg und zwischen den Steinen ausgleiten und mit seinem Reiter in die Tiefe rutschen? Doch dann zuckte der Schweizer mit den Achseln, schnalzte laut und trieb sein Pferd mit leichtem Druck der Fersen auf die Flanken des Tieres an. Dieses setzte sich gemütlich und unaufgeregt in Bewegung, kannte bestimmt jeden Fußbreit Boden und fühlte sich trotz des ungeübten Reiters auf seinem Rücken völlig sicher. Das erste Stück wurden sie von einem der Cowboys des Mietstalls noch begleitet. Er führte auch das Pony von Alina das erste, steile Stück am Zügel mit, ritt ihnen allen voraus. Als sie jedoch alle unten in der Talsohle angelangt waren und er sicher war, dass die fünf gut mit den Pferden zurechtkamen, ließ er sie allein weiter reiten, nahm von ihnen nur noch das Versprechen ab, höchstens im leichten Trab zu reiten und niemals zu galoppieren. Der Canyon wäre dafür einfach zu eng und zu unübersichtlich.
Jules hatte allerdings den lahmsten Gaul der Welt abbekommen, wie er sich schon bald beschwerte. Doch der Schweizer hing auch wie ein nasser Sack im Sattel und sein Stormy fühlte sich unter dem ungeübten Reiter zunehmend unwohl, drehte immer wieder den Kopf zu ihm um und beäugte sich den seltsamen Gast misstrauisch und auch ungehalten. Für Alabima war der Ausritt gar eine Premiere und ihre Stute Sissi schien das auch zu wissen, schritt sie doch so vorsichtig wie nur möglich aus, setzte ihre Hufe sanft und gleichmäßig ab, ließ die Reiterin im Sattel nur leicht hin und her schwanken. Alina fühlte sich im Sattel ihres Ponys dagegen vom ersten Moment an sicher und frei wie Cowboy Jim bei seinem Feierabendritt in die Stadt und zum Saloon. Sie jauchzte in einem fort, was dem kleinen Tier unter ihr zu gefallen schien. Jedenfalls drehte es immer wieder seinen klugen Kopf zum Mädchen um, schien vom fremden Gast auf seinem Rücken überaus angetan, fiel zwischendurch und ganz von allein immer wieder in einen leichten, lustigen Trab und stellte zufrieden fest, dass sich seine Reiterin problemlos oben halten konnte.
Mei ritt ständig neben oder hinter Alina her, überwachte Pony und Reiterin, musste jedoch zur Freude aller kein einziges Mal eingreifen, so sittsam und vernünftig ging das Tier unter dem kleinen Mädchen.
Der Pfad führt sachte noch tiefer hinunter und in den Canyon hinein und bald schon tauchten sie vollends zwischen den Wänden der Schlucht ein. Das Grün des Talbodens lockte mit seinen Schatten, denn die Temperatur