Kendran Brooks

Justice justified


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warum werden sie Schundromane genannt? Schund ist doch etwas Schlechtes?«

      Diesmal antwortete Jules seiner Tochter.

      »Weißt du, Alina, Romane werden von den Kritikern in wertvolle und wertlose Geschichten unterteilt. Die langweiligen Geschichten sind in ihren Augen die wertvollen, während die wirklich spannend erzählten die schlechten sein sollen.«

      Alina sah ihren Vater aus großen Augen an, konnte als Fünfjährige mit dem Sarkasmus oder Zynismus eines Erwachsenen noch nichts anfangen. Darum ergänzte ihre Mutter erklärend: »Es kommt dabei vor allem auf die Sprache und die Tiefe der Geschichten an. Auf sechzig kurzen Seiten kannst du keine so komplexe Geschichte erzählen, wie auf fünfhundert. Und während ein Romanautor oft mehrere Jahre an einem einzigen Buch arbeitet, hat dieser G.F. Unger alle zwei Wochen eine neue Western-Story geschrieben. Diese Kurzgeschichten können darum nicht dieselbe Qualität aufweisen, wie ein langer Roman.«

      Die Kleine nickte nun, halb verständig, halb zufrieden.

      Ihre Vorspeisen wurden aufgetragen und so schwiegen alle für einen Moment. Doch als sie zu essen begonnen hatten, fragte Chufu doch nach.

      »Und was hat es nun mit diesem Raton Pass und deinen Westerngeschichten auf sich? Erkläre dich uns, lieber Jules. Warum willst du uns bei Hitze und Staub schon wieder in die Sättel jagen?«

      Jules legte die Gabel beiseite, schluckte den letzten Bissen herunter, so wichtig war ihm seine Antwort.

      »Der Raton Pass verbindet New Mexiko mit Colorado. Über ihn führte lange Zeit die einzige Straße für die Postkutschen und Frachtwagen, die den Norden und damit die Goldfundgebiete mit dem Südwesten verband. Und er wurde immer wieder von Apachen besetzt und gesperrt. Der gesamte Waren- und Personenverkehr kam dann für Tage oder gar für Wochen zum Erliegen. Die Reisenden und Frachtfahrer mussten oft auf eine größere Armee-Patrouille warten, die ihnen den Pass frei kämpfen und eine Zeit lang die Verbindung offenhalten konnte, bis die nächste Indianerhorde ihn wieder sperrte.«

      Das fragende Gesicht von Chufu drückte wohl das aus, was auch die beiden Frauen beschäftigte. Doch als Jules nicht von sich aus auf seinen Blick reagierte, fragte der Philippine direkt nach.

      »Und warum sollen wir morgen dort hinaufreiten? Wird er immer noch von Indianern gesperrt oder was gibt es dort sonst zu schauen?«

      Der Schweizer verzieh seinem Adoptivsohn die Anzüglichkeit, nickte ihm sogar lächelnd zu.

      »Ich dachte bloß, es wäre schön, einmal diesen Ort mit eigenen Augen zu sehen, einen Platz, den G. F. Unger in mehreren seiner über siebenhundert Romanen beschrieben hat, wo Männer und Frauen gekämpft haben und gestorben sind.«

      »Aha«, meinte Chufu völlig ruhig, »Bewältigung von Kindheitserinnerungen.«

      Dabei blickte er auffordernd seine Freundin Mei an, so als bemühte er sich als Psychologe bei einer Kollegin um eine Zweitmeinung. Die Chinesin lächelte verschmitzt zurück, warf auch einen schelmischen Seitenblick auf Jules und antwortete: »Sie wissen ganz genau, wie negativ die Stimmungslage Ihres Patienten beeinflusst wird, wenn Sie ihm nicht wenigstens ein paar Schritte entgegenkommen, Professor Lederer.«

      Während die beiden sich fröhlich lachend anschauten, blickte Alabima eher besorgt auf ihren Jules. Denn der lachte nicht mit, sondern schien in sich gekehrt, saß stumm da und blickte auf seine Mozzarella Cheese Sticks, die ihm nicht mehr schmeckten. Auch Alina schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, sah ihren Vater mit etwas verstörten Augen an, dann hinüber auf Chufu und Mei und wie fröhlich die beiden dreinschauten, während ihre Eltern recht traurig auf sie wirkten.

      *

      Die Vorstandssitzung dauerte über drei Stunden. Danach verabschiedete Reginald McPhearsen alle Mitglieder des Gremiums mit Händedruck und ein paar Worten. Nur Silver blieb im Sitzungsraum zurück, hatte sich an die Fensterfront gestellt, blickte hinaus und auf die Themse herab. Als alle anderen gegangen waren, drehte sich Reginald zu ihm um, ohne etwas zu sagen. Eine Sekretärin steckte ihren Kopf ins Zimmer, wollte wohl etwas von einem der beiden, sah die Brüder dort stehen, den einen nachdenklich am Fenster, den anderen dessen Rücken anblickend, spürte die Spannung und zog sich rasch zurück, schloss auch die Türe unhörbar leise.

      »Alioth treibt ein falsches Spiel.«

      Silver sprach die Worte in Richtung Themse, sah noch immer nicht auf seinen Bruder.

      »Wie meinst du das?«

      Reginald trat neben Silver, schaute nun ebenfalls hinaus, verfolgte mit seinen Augen ein Frachtschiff, wie es sich gegen die Strömung stemmte und langsam am Bürogebäude an der Canary Warf vorbeizog.

      »Im Club hat mich Arthur Hicks angesprochen. Er erzählte mir, dass er Alioth vor ein paar Tagen am Hauptsitz von Hector & Clide sah.«

      »Alioth?«, fragte Reginald unnötigerweise zurück, sah seinen Bruder von der Seite her an. Der nickte, schaute ihn jedoch immer noch nicht an.

      »Ja, der gute Alioth will uns wahrscheinlich in die Pfanne hauen.«

      Reginald blickte sich im leicht spiegelnden Fensterglas an, sah jedoch nicht sich, sondern den mittelgroßen Alioth Milkins vor sich, mit seiner Halbglatze und den pomadisierten Haarsträhnen, die er sich stets sorgfältig über die Blöße kämmte, sah auch die dickrandige, schwarze Hornbrille mit den recht kleinen Gläsern, die ihn wie einen intellektuellen Architekten ausschauen ließ, zudem seine flinken, manchmal unsteten Augen, die so gar nicht zu seiner Tüchtigkeit passten. Alioth Milkins war seit über zehn Jahren Vorstandsmitglied in zahlreichen Unternehmen ihres Familienkonzerns, hatte sich stets mit vollem Einsatz eingebracht, viele gute Ideen und Strategien entwickelt, mit denen sie Dutzende von Millionen Pfund eingespart oder verdient hatten. Besonders stark war Alioth in der Umsetzung von anspruchsvollen Turnarounds, hatte mehr als einmal ein schlingerndes Unternehmen als CEO übernommen und rasch wieder auf Kurs gebracht. Und nun sollte dieser Alioth Milkins ein falsches Spiel mit ihnen treiben, sie hintergehen und mit der ärgsten Konkurrenz im Energiesektor zusammenarbeiten?

      »Das muss nichts zu bedeuten haben«, stellte Reginald deshalb erst einmal fest und blickte wieder hinüber zum Bruder.

      Doch Silver schüttelte verneinend den Kopf.

      »Ich hab mich weiter erkundigt und auch eine Detektei auf ihn angesetzt. Alioth hat Schulden, hohe Schulden. Er scheint finanziell am Abgrund zu stehen.«

      »Wie das?«

      »Was weiß ich. Wahrscheinlich verspekuliert. Er soll viel Geld mit Madoff Fonds verloren haben und zudem über Kredite zahlreiche spekulative Schiffsbeteiligungen in Deutschland besitzen, die stark an Wert verloren haben. Alioth war wohl für einmal zu gierig gewesen oder wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Sein Schloss in Sussex ist mit Hypotheken so sehr zugedeckt, dass seine Hausbank bereits die Übernahme mit ihm verhandelt. Und seine Villa auf Gran Canaria steht zum Verkauf. Unter Preis, wie mir ein lokaler Immobilienhändler versichert hat.«

      »Aber warum bittet er dann nicht uns um Hilfe?«

      Silver hob seine Schultern, ließ sie wieder fallen.

      »Würdest du deinen Geschäftsfreunden gegenüber eine Schwäche zugeben? Solange du irgendwelche Alternativen hast? Stolz ist vielen Menschen immer noch das Wichtigste, steht vor der Vernunft oder der Sicherheit.«

      Reginald schwieg, sah einem weiteren Frachtschiff entgegen, das rasch stromab fuhr.

      »Aber sich an den Feind verkaufen?«

      Silver antwortete seinem Bruder nicht, meinte stattdessen bloß: »Oldman?«

      »Lass den Alten bloß aus dem Spiel«, die Stimme von Reginald klirrte vor Härte. Als älterer Bruder hatte er in ihrem Zweiergespann schon immer die Führerschaft beansprucht. Doch dann fügte er seltsam sanft hinzu: »Ich regle das persönlich mit Alioth.«

      Silver kannte die starken Gemütsschwankungen von Reginald. Sie begleiteten ihn seit Kindesbeinen an. Schon als Knirps war er in gewissen Dingen störrisch wie ein Esel gewesen, ließ sich weder mit Worten noch mit Strafen