den Rauchern, mit der Tortur fortzufahren. Sie wagten nicht, sich zu verweigern. Zögernd drückten sie ihre Zigaretten auf die sich windenden Körper, rauchten ein paar Züge, um neue Glut zu entfachen und sich zugleich zu beruhigen, dann setzten sie die Folter fort, bis jeder der beiden Gefesselten zwölf Brandmale aufwies. Das alles vollzog sich unter absolutem Schweigen der vermummten Rächer. Man hörte nur den schnellen Atem der Gequälten und ihr Stöhnen, wenn die Glut auf ihre Haut traf. Dann sagte Thessi, und jeder spürte, daß es ihm bitterer Ernst war: "Euer Opfer hat euch nicht verraten. Gerechtigkeit geschieht auch ohne das. Aber wenn ihr versuchen solltet, euch trotzdem an ihm zu rächen, dann wird euer Urteil auf Tod lauten, langsamen, qualvollen Tod. Und die Diener der Gerechtigkeit werden euch finden, überall."
Darauf nahm er eine der Zigaretten und hielt einen Fetzen Papier daran, bis er aufflammte. Vorsichtig trat er an den Haufen mit den zerschnittenen Kleidern, ergriff ein Stück Stoff und hielt es in die Flamme, bis es Feuer fing. Er warf es auf den Haufen und wartete. Langsam loderten Flammen auf, der Haufen brannte nun lichterloh.
"Es ist leicht, einen Hilflosen seiner Kleider zu berauben. Was ihr ihm getan hat, tun wir euch. Aber wir nehmen nicht, um zu besitzen. Gebanntes ist es und gehört nur einem: der Gerechtigkeit, der wir dienen." Reglos standen alle um das Feuer, sahen zu, wie die Flammen den Stoff verkohlten, bis sie keine Nahrung mehr fanden und verloschen. Dann nahm Thessi noch einmal sein Messer zur Hand. Er zerschnitt den beiden die Fußfesseln und wandte sich ein letztes Mal an sie: "Bis hundert mußte er zählen, bis zweihundert zählt ihr laut und deutlich, bevor ihr euch vom Boden erhebt." Er winkte seinen Anhängern, und sie verließen schweigend den Ort der Rache. Als sie sich den ersten Häusern näherten, nahmen sie die Masken vom Gesicht und gingen gesenkten Hauptes, aber erfüllt von dem Gedanken, eine nahezu heilige Handlung vollzogen zu haben, nach Hause. Thessi aber blieb, das Messer in der Hand, und lauschte auf die Zahlen der beiden, bis sie die zweihundert fast erreicht hatten. Dann wand er sich durch die Hecke, startete den Wagen und fuhr ihn dorthin zurück, wo er ihn gestohlen hatte.
Niemand von den Jungen erzählte etwas von dieser Nacht, und doch verbreitete sich bald das Gerücht, daß jemand die Tat bestraft hatte. Vielleicht kam es aus der Arztpraxis, wo einer der beiden seine Brandwunden behandeln lassen mußte, und obwohl er eine Ausrede erfand, konnten sich Arzt und Helferinnen ob der Ähnlichkeit der Fälle denken, wo hier der Zusammenhang bestand. Aber auch sie sahen keinen Anlaß, die Polizei zu verständigen. Die Tat war gesühnt, mag man es auch Selbstjustiz nennen. Und dem Opfer war Gerechtigkeit geworden - anders als erwartet, aber so, dass Ähnliches wohl so bald nicht geschehen würde in dieser Stadt. Als das Gerücht auch das Lehrerkollegium erreichte, dachte mancher an Thessi und seine Gruppe, aber bloßer Verdacht war schließlich kein Beweis - und außerdem: Der mißhandelte Fünftklässler schien Schmerzen und Schock wohl auch dadurch überraschend schnell überwunden zu haben. Und die Täter zu finden war doch schließlich Sache der Polizei. Aber die nahm keine Notiz von solchen Gerüchten. Erfuhren die Beamten nichts, oder wollten sie nichts hören? Jedenfalls legte man den Fall bald als ungeklärt zu den Akten.
Thessi wartete über eine Woche, bis er ein neues Treffen seines Geheimbundes anberaumte. Er wollte den Mitgliedern Zeit geben, um das Erlebte zu verarbeiten, aber in Wahrheit brauchte auch er diese Zeit, um der Erregung Herr zu werden, die ihn ergriffen hatte, um das Gefühl vollkommener Macht über Leben und Tod in sein Gedächtnis einzugraben und seine Träume vom rächenden Helden mit der Wirklichkeit zu verbinden. Auf den Zusammenkünften der Gruppe wurde übrigens kein Wort mehr über die nächtliche Aktion verloren, nur das Selbstbewußtsein der Jungen war seitdem sichtbar gewachsen, und je größer der Abstand, desto mehr fühlten sie sich als Helden, als Rächer, als Diener der Gerechtigkeit, wie es Thessi gesagt hatte.
Die Heldentat
Es währte nicht lange, daß Thessi diesen Erfolg wirklich genoß. Sicher - der Angriff des gesamten Bundes auf die beiden weit unterlegenen Gegner hatte vor allem symbolische Bedeutung, sollte er doch die Feigheit, die in solchem Vorgehen sich offenbarte, als solche brandmarken. Außerdem hatte er alle Mitglieder noch enger zusammengeführt und noch stärker zum Schweigen verpflichtet, denn schließlich hatte jeder von ihnen selbst Unrecht getan, um das Unrecht zu strafen. Und die fast schon schamanen- gleiche Handlungsweise ihres Anführers hatte einen tiefen Eindruck, ja eine irgendwie religiöse, angstbesessene Scheu vor Thessi zur Folge.
Und doch - es waren in seinen Augen nicht die Heldentaten, von denen er träumte. Wahre Helden handeln einsam; nur auf sich selbst gestellt vollziehen sie ihre mutigen, wagemutigen Taten. So suchte er immer drängender nach einer Möglichkeit, entsprechend zu handeln. Die kleine Stadt, inmitten des hügeligen holsteinischen Landes gelegen, weit ab von den Verbrechen der großen Städte, bot da naturgemäß wenig Chancen, gewaltige Untaten gewaltig zu strafen.
Doch dann tauchte in der lokalen Berichterstattung immer häufiger die Mitteilung auf, daß vor allem älteren, oft sogar gehbehinderten Frauen am hellichten Tage die Handtasche entrissen worden war. Aufmerksam verfolgte Thessi die Presseberichte, und bald erkannte er, daß trotz unter- schiedlicher Beschreibungen ganz offensichtlich stets derselbe Täter am Werke war. Besonders vor kleineren Bankfilialen erschien er wie aus dem Nichts, näherte sich dem ahnungslosen Opfer von hinten mit einem Fahrrad, riß ihm die Tasche aus der Hand oder von den Schulter, stieß sie meist auch zu Boden und verschwand, ehe jemand eingreifen konnte. Der Schock und meist auch die verursachten Schmerzen hinderten meist die Beraubten, sich irgendwelche verwertbaren Einzelheiten zu merken. So hatten die Ermittler wenig konkrete Anhaltspunkte. Und auch wenn der Polizeisprecher versicherte, man hätte besonderes Augenmerk auf die Umgebung von Geldinstituten, blieb eine solche Überwachung doch eher sporadisch. Und ein in der Nähe geparkter Streifenwagen mochte zwar besorgte Bürger beruhigen, er offenbarte jedoch zugleich dem Täter, wo er sich zurückhalten mußte.
Thessi dagegen ging anders vor. Seine wichtigsten Waffen waren Einfühlungsvermögen in die Sichtweise des Räubers, Zähigkeit und vor allem Geduld. Zunächst unterzog er alle Filialen von Banken und Sparkasse in der Stadt einer genauen Prüfung: Wo war wenig Verkehr auf der Straße, wo war ein günstiger Fluchtweg, um unerkannt zu entkommen? Wo konnte man von außen erkennen, ob ein potentielles Opfer nur eine Überweisung tätigte oder an einen Geld- automaten ging? Wo hatte der Täter bereits zugeschlagen?
Danach entschied sich Thessi für die Niederlassung der Kreissparkasse in einem ruhigen, gutbürgerlichen Vorort, an einer tagsüber wenig belebten Nebenstraße gelegen und - eine Filiale ohne menschliche Bedienung, nur mit Automaten ausgerüstet. Er besorgte sich aus einer nur ihm bekannten Quelle das täuschend echt aussehende Imitat eines handlichen Revolvers, organisierte ein Fahrrad, das er unangeschlossen neben der Eingangstür abstellte und suchte sich einen Platz im Schutz einer gegenübergelegenen Hecke, von dem aus er ungesehen die Straße überblicken konnte. Nun galt es, einfach zu warten, Tag um Tag, ohne sich enttäuschen zu lassen.
Und es dauerte drei lange Wochen, bis er einen jungen Mann sah, der mehrfach mit seinem Fahrrad vorüberfuhr und offensichtlich ebenfalls Interesse an dieser Filiale zeigte. Zuerst fuhr er nur langsam vorbei, dann stieg er ab, betrat den Automatenraum und studierte lange irgendwelche Aushänge, um sich dabei umzuschauen und die seltenen Kunden zu beobachten. Als dann eine ältere Dame hereinkam, auf einen Rollator gestützt dem Geldautomaten zustrebte, verließ er den Raum, nahm sein Fahrrad und radelte ein Stück weit die Straße entlang, um dann zu wenden.
Thessi verfolgte in großer Anspannung, was geschah, bereitete sich vor auf den Sprung hinüber auf die andere Straßenseite. Der Radfahrer, ein untersetzter junger Mann in unauffälliger Kleidung - Jeans, ein graues T-Shirt und ein Allerwelts-Baseballcap, das sein Gesicht gut beschattete - stoppte und blieb im Sattel sitzen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er rauchte, fuhr aber nicht weiter. Da kam die Seniorin heraus, ihre kleine Handtasche im Korb des Rollators. Der Verdächtige warf die kaum angerauchte Zigarette fort, trat in die Pedale und fuhr geradewegs auf sein Opfer zu. Mit geschicktem Griff packte er die Tasche und trat dann kräftig gegen das Wägelchen, daß es seiner Besitzerin gegen die Beine stieß und sie straucheln ließ Ohne besondere Eile setzte er dann seine Fahrt fort. Niemand sonst war ja in der Nähe, der zugesehen hatte und ihn vielleicht verfolgen könnte.
Auch Thessi blieb unsichtbar