Eckhard Lange

Die Träume von Macht


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sein Fahrrad ergriff und dem anderen folgte. Auch er hatte keine Eile, sondern folgte dem Flüchtenden in gutem Abstand. Der unbemerkt Verfolgte bog in einen Fußweg ein, der durch den Park führte, hielt dort an einer Bank, lehnte sein Rad an die Armlehne und setzte sich. Dann nahm er die Tasche zur Hand, um sie in aller Ruhe zu plündern.

      In diesem Augenblick näherte sich Thessi. Seine Rechte griff in die Hosentasche und umspannte den falschen Revolver, während er sein Rad einfach fallen ließ und sich neben den überraschten jungen Mann setzte. Offen hielt er nun die Waffe in der Hand, damit der andere sie sehen konnte, dann setzte er ihm den Lauf an die Schläfe. Der erstarrte, seine Hände begannen zu zittern. "Leg die Tasche hier zwischen uns," sagte Thessi ruhig. "Und tu, was ich dir sage. Das Ding könnte sonst ganz aus Versehen losgehen."

      "Bitte," stammelte der andere, "es sollte doch alles nur ein Spaß sein." Thessis Stimme wurde ironisch: "Aber dies hier ist kein Spaß. Leg dein Geld und deine Scheckkarte in die Tasche. Und jetzt deinen Personalausweis, damit ich weiß, wie du heißt und wo du wohnst." Der andere gehorchte. Thessi las die Adresse. Er würde zu Fuß mindestens eine Viertelstunde bis nach Hause brauchen. Knapp aber nachdrücklich kam sein nächster Befehl: "Schreib deine Pin-Nummer auf einen Zettel. Und denke daran: Ich finde dich, wenn du jetzt trickst." Thessi steckte den Zettel ungelesen in die Tasche. Der Mann neben ihm machte nicht den Eindruck, als könnte er ihn hinters Licht führen, zu deutlich stand Todesangst in seinen Zügen. "Schließ dein Rad ab, gib mir den Schlüssel!" Vorsichtig drehte sich der Räuber zur Seite, gefolgt von Thessis Arm mit der Waffe. Mit der anderen Hand nahm er den Schlüssel entgegen und steckte ihn ein. "Jetzt deine Hausschlüssel!" "Bitte, ich..." Doch Thessi unterbrach ihn: "Die alte Frau steht jetzt auch ohne Schlüssel da, wenn sie wieder aufstehen kann. Und ohne Geld. Warum sollst du es besser haben." Er nahm das Schlüsselbund, das ihm hingehalten wurde, hielt es einen Augenblick wie nachdenklich in seiner Hand, dann warf er es mit weitem Schwung über den Weg in das gegenüberliegende dichte Gebüsch aus wilden Rosen. "Hör gut zu!" Thessi verlieh seiner Stimme einen dunklen, drohenden Klang. "Wenn es in der Stadt noch ein einziges Mal einen Raubüberfall gibt, wirst du es bitter bereuen. Ein Leben lang - falls dein Leben dann noch lang wird."

      Die Waffe auf den jungen Mann gerichtet, stand er auf, schloß die geraubte Tasche, hängte sie sich um, hob vorsichtig sein Fahrrad auf und sagte dann: "Du wirst hier sitzenbleiben, bis ich fort bin. Vergiß nicht: So ein Ding hat eine gewisse Reichweite." Dann fuhr er los, ohne sich noch einmal umzusehen, geradewegs zur Sparkassenfiliale, wo ein Krankenwagen gerade die Gestürzte abtransportierte. Thessi ging an den umstehenden Gaffern vorbei in den Raum, zwei Polizisten suchten noch den Boden ab, hinderten ihn aber nicht, an den Servicedrucker zu gehen. Er schob die geraubte Karte ein: Gut viertausend Euro Bestand auf dem Girokonto. Eintausend D-Mark Überziehungskredit. Thessi wechselte zum Geldautomaten, hob mit kurzem Abstand zweimal 2.500 Mark ab, dann zerriß er Karte und Zettel und warf beides in den Abfallkorb. Den Personalausweis würde er erst später vernichten.

      Gemächlich radelte er durch den Park. Die Bank war leer, das Fahrrad lehnte noch an gleicher Stelle. Verborgen im Gebüsch sah er den Täter, der nun ein Opfer war, wie er sich gebückt durch die Dornen arbeitete auf der Suche nach seinem Schlüsselbund. Er bemerkte ihn nicht. Thessi grinste.

      Zu Hause durchsuchte er die Tasche nach einer Adresse. Die alte Frau hatte gerade einmal 150 Mark abgehoben. Wahrscheinlich den ganzen Rest ihrer Rente. Thessi verdoppelte den Betrag und legte einen Zettel dazu. In Großbuchstaben schrieb er: "Er ist bestraft worden. Er wird es nie wieder versuchen. Gute Besserung!" Und dann fügte er noch hinzu, gleichsam als Unterschrift: "Ein Gerechter."

      Am nächsten Tag in der Schule rief er einen seiner Bundesmitglieder heran und gab ihm die Tasche. "Hier ist die Adresse. Gib das dort ab. Wenn sie fragt, sag nur: Ein Unbekannter hätte dich darum gebeten. Und sieh zu, daß du schnell wieder abhaust. Keinerlei Auskünfte, verstanden?" Der Junge nickte, geehrt über den Auftrag und bereit, zu schweigen wie ein Grab.

      In der nächsten Sonntagsausgabe der lokalen Zeitung war folgende Notiz zu lesen: "Das städtische Seniorenheim freut sich über die großzügige Spende von 4.850 D-Mark eines Ungenannten, die bar auf das Konto der Stadt eingezahlt wurde. Die Heimleitung möchte sich daher auf diesem Wege im Namen aller Bewohnerinnen herzlich bedanken.“ Man werde das Geld zur Beschaffung eines seit langem dringend benötigten Spezialbetts zur Intensivpflege verwenden und hoffe, daß dies im Sinne des geheimnisvollen Wohltäters ist.

      Es hat übrigens keine weiteren Überfälle der bekannten Art in der Stadt mehr gegeben. Der Täter konnte allerdings auch nicht ermittelt werden. Ungeklärt blieb ebenfalls, warum nach dem letzten Handtaschenraub die Beute dem Opfer unversehrt zurückgegeben wurde, ob vom Täter oder von einem ehrlichen Finder, mußte also offen bleiben. Die dringende Bitte der Polizei an einen solchen, sich als wichtiger Zeuge zu melden, blieb erfolglos. Die Staats- anwaltschaft nahm deshalb den Fall nach Ablauf eines weiteren halben Jahres zu den Akten und stellte die Ermittlungen ein.

      Die Reifeprüfung

      Es war Spätherbst. Über die Stadt zogen dunkle Wolken hinweg, Regen prasselte auf die Dächer. Eine trübe Stimmung hatte wie jedes Jahr viele Menschen erfaßt, der neblig-nasse Tag verstärkte solche Gefühle. Die Schüler und Schülerinnen des zwölften Jahrgangs blickten mißmutig aus dem Fenster, der dozierende Pädagoge blieb allein mit seinem Stoff, und er bemerkte es wohl. Doch da ihn eine Erkältung plagte, seine Stimme immer wieder in Heiserkeit versagte und auch er das Ende der Stunde und dieses Vormittags herbeiwünschte, nahm er Desinteresse und Schläfrigkeit der Klasse demütig hin.

      Thessi saß am rechten Rand des tischgebildeten Halbrunds und beobachtete aufmerksam die Szene. Die Düsternis, die des Raumes wie die innere, sie kümmerte ihn wenig. Er war solche Stimmungen gewöhnt, sie waren für ihn eher besondere Stunden. Tragisches Geschehen, großartige Tode haben sich stets so angekündigt, Untergänge von Fürsten und Helden, von Völkern und Kulturen. Ja, es gab sie immer noch, diese Träume in seinem Inneren, ob nun hochfahrend oder voll düsterer Schwermut. Aber er wußte, daß alle Träume nur Nährboden eines Willens sind, sie auch wahr werden zu lassen. Jedenfalls seine Träume.

      Er war wieder sehr allein. Den geheimen Bund hatte er bereits vor zwei Jahren aufgelöst, die pubertären Spiele galten ihm nichts mehr. Aber seine tief verwurzelte Sehnsucht, Macht auszuüben, zu herrschen nicht nur über sich selbst, sondern auch über andere, sie war geblieben, subtiler vielleicht, aber kräftiger und fordernder als je zuvor. Doch ihm blieb die Frage, welche Zwecke, welche Ziele er damit verbinden wollte. Auf solche Fragen hatte er mancherlei Antworten gefunden und auch wieder verworfen im Laufe der Jahre. Es war ja nicht bloßer, gewöhnlicher Egoismus, sondern eben dieser Traum vom Heldentum, der seine Machtfantasien beherrschte. Und Helden waren schon immer zwar strahlende, aber auch tragische, scheiternde Gestalten. Das wurde ihm an diesem regendüsteren Vormittag von neuem bewußt.

      Die Stunde war zuende, der Lehrer schlich sich hinaus, die Mitschüler trotteten hinterher. Thessi blickte ihnen nach, ohne sich zu bewegen. Und plötzlich, absolut unerwartet durchzuckte ihn in diesem Augenblick eine Erkenntnis: Es ist nur noch ein gutes Jahr, bis die großen Klausuren für das Abitur beginnen würden. Die ersten Zensuren standen ja jetzt schon fest, und über die wichtigsten würde in den kommenden Monaten entschieden. Er hatte sich bislang all die Jahre treiben lassen. Er kannte seine Qualitäten, was sollte er andere davon überzeugen. Wichtig war ihm nur, nicht noch ein Jahr zu wiederholen. Er war jetzt schon wesentlich älter als alle anderen in der Klasse.

      Aber plötzlich kam ein neuer Gedanke. Was auch immer werden würde, wenn er die Schule verließ - er hatte daran kaum je einen Gedanken verschwendet, trotz aller Träume - er wollte alle Optionen haben. Und er wollte jetzt, zum Schluß, allen zeigen, daß er ihnen überlegen war - nicht nur den Mitschülern, auch denen, die sie unterrichteten. Wenn auch Wissen eine Macht darstellt, dann werde ich meine Macht demonstrieren, sie in Erstaunen versetzen, sie ehrfürchtig erstarren lassen. Sie werden mir Zensuren ins Abgangszeugnis schreiben, die ihnen die Hand zittern läßt, weil sie an sich selber zweifeln müssen, an ihren Fähigkeiten, an ihrem Urteil. Die Psychologin von einst kam ihm in den Sinn, ihre Analysen, und dann auch ihr sinnliches Interesse an seiner Person, seiner Gestalt, seinem Körper, das er deutlich gespürt und