Gerti Richter

Hirschparade


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können sie ein wenig Lesen, aber mit dem Schreiben hapert es oft.“ „Ja, das passt doch ganz ausgezeichnet! Ich suche hier jemanden, der sich um die Roma Kinder kümmern kann. Stellen Sie sich vor, die sind anscheinend noch nie in eine Schule gegangen! Und Deutsch können sie ja auch nicht. Aber wir haben hier in Gelsenkirchen den Anspruch, dass wir die Schulpflicht auch für die Kinder aus den Flüchtlingsheimen anwenden, nur, in eine normale Klassen können wir sie ja nicht stecken, die mischen alles auf, und das ist auch verständlich. Sehen Sie, es sind Kinder aus dem Kosowo, Flüchtlinge aus Serbien und Kroatien, die Ärmsten der Armen. Wir haben hier eine Auffangklasse, die wird von Frau Schweizer geführt, aber selbst dafür sind diese Kinder noch nicht geeignet. Außerdem hätte ich es gern, wenn hier an dieser Schule Brötchen gebacken würden für ein gesundes Frühstück. Stellen Sie sich vor, viele von den Kindern haben noch nicht gegessen, wenn sie in die Schule kommen! Eine Gruppe der älteren Mädchen geht ins Altersheim und hilft dort freiwillig den alten Menschen, sie gehen mit ihnen spazieren oder kaufen ein, da können Sie auch segensreich mitwirken.“

      Ich bin ein wenig verwirrt. Gerade noch bei den Flüchtlingen über Brötchen ins Altersheim...“Das hört sich alles sehr interessant an“ winde ich mich heraus. „Ich würde wirklich sehr gern hier mitarbeiten, und traue es mir auch zu. Aber, bitte, was meinten Sie denn mit den Brötchen?“ Das muss ich doch noch wissen. „Wir haben eine Geschwisterschule ein paar Straßen weiter, das ist die Grundschule, aus der wir dann die Kinder nach der vierten Klasse bekommen. Wir arbeiten im Verbund, auch, was die ABM Stellen angeht. Dort ist ein Kollege von Ihnen, der backt jeden Morgen Brötchen und bietet die dann in der Pause zum Frühstück an. Ich würde mich so freuen, wenn wir das hier an der Schule auch haben könnten! Nötig ist es auf jeden Fall.

      Dafür habe ich also studiert, denke ich, um hier morgens Brötchen zu backen? „Das ist sicher eine gute Idee“, sage ich ohne allzu große Begeisterung. Ich könnte ja mal mit dem Kollegen sprechen. Backen kann ich, auch Brötchen, setze ich lahm dazu.“ Es kommt mir schon fast so vor, als ob ich die Stelle bereits hätte. Und so fährt Frau Salberg auch schon fort: „Morgen telefoniere ich sofort mit der Stadt und melde Sie an. Sie können dann dort alle Formalitäten erledigen und den Vertrag unterschreiben. Warten Sie mal, ich gebe ihnen die Nummer von Herrn Ischler. Der ist für die ABMs hier an der Schule zuständig. Und wenn Sie noch Fragen haben, können Sie mich jederzeit anrufen. Sie wissen ja, es sollte schnell gehen. Die Stelle ist bereits bewilligt und die Zeit läuft. Je eher Sie anfangen können, desto besser.“ Mit einem gewinnenden Lächeln streckt sie mir wieder ihre Hand entgegen, und ich bin anscheinend entlassen.

      Als ich mich dann am nächsten Tag in der Stadtverwaltung wiederfinde, erinnere ich mich wieder daran, wie ich nach dem Abi bei der Post gearbeitet habe. Da musste ich auch zwei Dutzend Papiere unterschreiben, wurde von Pontius zu Pilatus geschickt und am Schluss habe ich einen Eid auf die Verfassung abgelegt. So ging es damals für eine Aushilfstätigkeit bei der Post und heute für die ABM im öffentlichen Dienst an einer Schule ist es genau so. Ich unterschreibe überall und schwöre.

      Dann gebe ich meine Kontonummer an, das ist der wahrhaft erhebende Teil der Veranstaltung!

      Da diese Anmeldung mit Unterzeichnung den ganzen Vormittag dauert, brauche ich gar nicht mehr in die Schule zu gehen. Ich melde mich kurz telefonisch und berichte, dass ich ab morgen voll und ganz zur Verfügung stehe. Das freudige Gesicht von Frau Salberg strahlt förmlich durch den Telefonhörer.

      Und so beginne ich meinen Dienst in der Hauptschule Am Anger dann schon am nächsten Tag. Danke, Gabriele!

      Früh gleich schon vor acht bin ich da und gehe ins Lehrerzimmer. Frau Salberg ist stellt mich vor. Das Lehrerzimmer besteht aus U-förmig aufgestellten brauen Tischen, an denen die Lehrer sitzen, Kaffee trinken, in Unterlagen blättern, miteinander reden oder Brote essend Zeitung lesen. Ich mache einmal die Runde, ohne wirklich den Ehrgeiz zu haben, mir die ganzen Namen zu merken. Ich werde von allen freundlich aufgenommen, ganz besonders aber von Frau Schweizer, einer hochgewachsenen Dame mit schwarz-grauem Haarschopf. „Kommen Sie am besten sofort mit, dann übergebe ich Ihnen gleich die Kinder aus dem Libanon und die Roma Kinder. Das sind ja diejenigen, die noch nicht einmal schreiben können. Henriette, in welchen Klassenraum kann Frau Richter denn mit den Kindern heute gehen?“ „Die 12 im ersten Stock müsste frei sein“, kommt prompt die Antwort.

      Oh, wie ich mich grusele! Gleich bin ich mit ein paar Kindern in einem Klassenraum eingesperrt und ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich mit denen anfangen soll. „Haben Sie vielleicht ein paar Materialien für mich?“ bin ich geistesgegenwärtig genug zu fragen. „Stifte, Papier oder Hefte? Oder bringen die Kinder etwas von zu Hause mit?“

      „Gut, dass Sie das ansprechen“, kommt von Frau Schweizer zurück. „Ich will mal rasch schauen, was ich Ihnen da mitgeben kann.“

      Mit Heften, Blöcken und Stiften unterm Arm mache ich mich auf zu meiner ersten Stunde.

      Ein ohrenbetäubender Lärm dringt uns entgegen, als Frau Schweizer die Klassentür zur Auffangklasse öffnet. Was für ein Tumult! Und er ebbt kaum ab, als wir uns im Türrahmen zeigen! Größere Jungs werfen Papierkugeln durch den Raum, Mädchen kreischen, sie sitzen auf den Tischen oder rennen hysterisch im Raum herum, während sie irgendein Kleidungsstück wie eine Trophäe über dem Kopf schwenken. „Ruhe“, ruft Frau Schweizer mit erstaunlich lauter Stimme, und der Lärmpegel sinkt schlagartig auf ein Gemurmel und Geschiebe von Stühlen und Tischen. „Fatma und Karim, ihr kommt mal her zu mir! Wo sind Kybrie, Hamdi und Tino?“ „Noch nicht da“, kommt es im Chor zurück.

      Aber zwei Gestalten habe sich aus der Gruppe gelöst und stehen jetzt vor mir. Ein Mädchen und ein Junge, dunkelhäutig, zart und klein. Mit traurigen, schwarzen Augen blicken sie Frau Schweitzer an, mich streifen sie nur ganz kurz mit ihrem Blick.

      „Ah, da seid ihr ja wenigstens!“ Frau Schweizer überantwortet mir die Kinder Fatma und Karim aus dem Libanon, und zu dritt suchen wir unseren neuen Klassenraum Nummer 12 auf.

      Es stellt sich heraus, dass die beiden Kinder Geschwister sind, das Mädchen ist die jüngere. Sie sprechen ein wenig Deutsch, genug, um mir meine Fragen beantworten zu können. Wo sie herkommen, wie lange sie schon in Deutschland sind, und ob sie zu Hause schon zur Schule gegangen sind?

      Ich erfahre, dass sie in Beirut gewohnt haben, der Hauptstadt des Libanon. Ihr Haus, die ganze Straße und das ganze Viertel, in dem sie lebten, sind in Schutt und Asche aufgegangen. Zunächst haben sie Zuflucht und Unterkunft bei Verwandten bekommen, aber auch deren Haus ist dann bombardiert und zerstört worden. Nach einer Odyssee innerhalb des Libanon sind sie dann nach Deutschland geflohen, wo sie sich seit einem Dreivierteljahr aufhalten.

      Sie sind auf gute Schulen gegangen, haben beide Französisch gelernt. Das hilft natürlich beim Deutsch lernen, denke ich, denn sie können unsere Schrift schreiben und lesen, was nicht selbstverständlich ist für arabische Kinder, die, wenn überhaupt, die arabische Schrift zu lesen und zu schreiben lernen.

      Diese beiden Kinder werde ich gut unterrichten können, stelle ich schon nach den ersten Stunden fest.Ich stecke mir das Ziel, sie innerhalb einiger Monate so fit zu machen, dass sie ohne weitere Nachhilfe in der Auffangklasse teilnehmen können. Frau Schweizer hat mir Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt.

      Die beiden Kleinen sind diszipliniert, zurückhaltend und ein wenig traurig. Sie tun mir wirklich leid, und ich versuche, mein Bestes zu geben an Freundlichkeit und Hilfe.

      Als ich schon fast eine Woche an der Schule arbeite, stehen sie auf einmal vor mir, die drei Roma Kinder: Kybrie, das Mädchen, mit etwas vierzehn Jahren die älteste, hochgewachsen, beinahe so groß wie ich, Hamdi, der Kleinste, er muss ungefähr sieben oder acht sein, und Tino, altersmäßig irgendwo in der Mitte. Sie stehen nebeneinander, die Köpfe gesenkt, die Hände zusammengelegt vor dem Körper, die Blicke gehen in Richtung Fußboden, der wirklich interessant zu sein scheint. Hinter ihnen steht Frau Schweizer, die sie alle drei in meine Richtung schiebtund die Kinder in munterem Ton vorstellt.

      „Das ist Frau Richter, sie wird sich um euch kümmern und euch unterrichten“, sagt sie. „Hallo Kybrie“, begrüße ich das Mädchen zuerst und strecke ihr meine Hand