Micha Wölfer

Jener Sommer in Wien, als Tutanchamun bei mir wohnte


Скачать книгу

klettern wollte, um meine riesige mit Rollen versehene Staffelei zu holen, an der mein unfertiges Meisterwerk lehnte, erschallte eine Stimme, dröhnend wie von Gottvater aus dem Nichts: „Hallo, hallo … Sie da! Bitte bleiben Sie hinter der Absperrung!“

      Dann schaute ich immer da hin, wo ich die Stimme vermutete – wahrscheinlich kam sie von da, wo die blinkende Kamera angebracht war – und deutete heftig gestikulierend auf meinen Ausweis, den ich mir ans Revers gesteckt hatte, und dann auf die mit Farbflecken überhäufte Arbeitsbekleidung, die mich doch eigentlich als Kopistin ausweisen sollte.

      „Ach, Sie sind es, Isa. – Guten Morgen!“, sagte dann die Stimme in etwas gnädigem Ton.

      Irgendwann kannte ich jeden vom Aufsichtspersonal; besser gesagt, sie kannten mich und tolerierten endlich die vermummte Gestalt, die sich hinter der Absperrung zu schaffen machte. Die Vermummung deshalb, weil es in meiner Ecke neben der Tür dermaßen zog, dass mir ein dicker, umgebundener Wollschal als einzige Möglichkeit erschien, mich wieder von einer hartnäckigen Genickstarre zu befreien.

      Die anderen Künstlerkollegen lernte ich auch bald kennen. Merkwürdigerweise hatte sich jeder von uns einen anderen Prunksaal erkoren, in dem er seiner kontemplativen Beschäftigung nachgehen konnte: seiner Versenkung in das göttliche Werk des Meisters. So kamen wir uns selten in die Quere, und es entstand auch kein Konkurrenzdenken darüber, wer schneller oder vielleicht besser malt.

      Die Kopisten waren meist in sich gekehrte Typen, besessen von ihrer Tätigkeit, und geradezu verschmolzen mit ihren Alten Meistern, mit deren Geistern sie in inniger Korrespondenz zu sein schienen.

      Bei manchen Künstlern meinte man, sie würden bereits zum Inventar des Museums gehören, so lange wohnten sie schon hier. Ich hatte den Verdacht, der eine oder andere könnte bestimmt schon Vorkehrungen getroffen haben, sich nach seinem Ableben plastinieren zu lassen, um sich mit Haut und Haaren – oder was davon dann übriggeblieben sein wird – dem Museum zu vermachen, damit er für immer ein Teil seines Lieblingsortes werde … und so unsterblich wie die geheiligten Meister.

      Nur eine Ausnahme gab es, abgesehen von mir, die ich ja wegen des Geldes und nicht wegen der Passion hier kopierte: Das war Charlotte! Und was es mit ihr auf sich hat, darauf werde ich im Laufe meiner Geschichte noch öfter und näher eingehen.

      Jetzt aber gab es wieder einmal große Aufregung um die schöne Charlotte: Sie stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Denn als sie „für kleine Mädchen“ ging – die Auszeit, die bei ihr auch immer einen neuen Anstrich im Gesicht beinhaltete –, nahm währenddessen ein unbekannt gebliebener Besucher ihren Pinsel und verbesserte – nein, nicht ihre Repro, sondern: die Vorlage, sprich: den Alten Meister … Eine Tragödie!

      Wir Kopisten fürchteten, man würde uns in großem Bogen hinauswerfen und unsere Leinwände gleich hinterher. Nichts davon geschah. Der „Unfall“ wurde nonchalant vor der Öffentlichkeit geheim gehalten.

      Das KHM ist ein Museum, in dem so etwas nicht passieren kann!

      Abgesehen von diesem Vorfall tat sich in den darauffolgenden vier Monaten, in denen ich mich an mein Werk gemacht hatte, nichts Besonderes.

      Bis zu jenem Tag.

      Es war Mitte Juni, im Saal I war es drückend schwül. Warum? – Das wusste keiner so genau.

      Ich befasste mich nun schon seit über einer halben Stunde intensiv mit dem von einem Perlenband gebändigten – wie könnte es anders sein – tizianroten Haar der schönen Venezianerin; versuchte genau diesen Farbton zu treffen, der natürlich eine Mischung aus mehreren Farbtönen war und nicht dem vorgefertigten Inhalt der Tube entsprach, auf der Tizianrot stand … Wäre ja auch zu einfach. Wie anders ließe sich sonst mein hohes Honorar rechtfertigen?

      Ex würde es nicht auffallen, das war mir klar, aber mir. Bin ja schließlich keine der Tausenden Kopisten aus dem südchinesischen Dafen, die im Akkord Ölbilder Alter Meister herstellen ... Etwa eine Mona Lisa um achtzig Euro. Die weiteren zwei Nullen daran musste ich mir schon verdienen. Künstlerehre eben … oder: „Schön blöd!“, wie Charlotte fachkundig feststellte.

      Nach einer gefühlten weiteren halben Stunde konnte ich mit meiner rekonstruierten Mischung auf der Farbpalette zufrieden sein und genehmigte mir eine Pause. Meine Ölfarben und den Terpentin packte ich, seit der unseligen Geschichte mit Charlottes Kunstkritiker – oder besser gesagt: des Alten Meisters Kunstkritiker – vorsorglich in mein Malkästchen und versperrte es. Dann schlenderte ich, wie ich es oft tat – eigentlich jeden Tag –, zum Korridor der großen Galerie, wo die Charakterköpfe in Stein gehauener, verdienstvoller Architekten, Kunstmäzene des Museums und ähnlicher, bereits verblichener Prominenz auf ihren Säulen angekittet den Weg säumen und einen mit unbeseeltem Blick anstarren.

      Würde ich länger hier arbeiten, würde ich sie bestimmt auch mal im Vorbeigehen grüßen, so wie es ein Malerkollege immer tat, der an diesem Ort bereits das vierzigste Jahresjubiläum feierte. Der hatte die Bildergalerie schon fast durch und begann nun mit einem wirklich großen Werk: Wunder des Hl. Franz Xaver, 5 x 4 Meter – seine Meisterarbeit und sein letztes Bild, wie er meinte, bevor er in die Kiste hüpfe.

      Soweit war ich noch nicht.

      Hatte ich doch erst unlängst einen Auftrag erfolgreich abschütteln können, der mir mindestens weitere 18 Monate Dunkelhaft beschert hätte: Selbstmord der Kleopatra, 1,68 x 1,88 Meter, mehr als doppelt so groß wie das Mädchen. Nun gut, Königinnen benötigen eben größere Formate.

      Und ich benötigte Licht! Also öffnete ich mein bevorzugtes Fenster, lümmelte mich auf den Ellbogen gestützt auf das marmorne Fensterbrett und kaute an einem entfernt nach Erdbeeren, dafür mehr nach strohigen Kamut schmeckenden Bio-Müsliriegel. Erdbeere war nicht jeden Tag an der Reihe, manchmal war es einer mit Bananenaroma und ein anderes Mal schmeckte er nach Zwetschke oder zumindest annähernd so. Natürliches Pflaumenaroma stand jedenfalls auf der Packung. Richtiges Obst ins Museum mitzunehmen war verboten – wegen mutmaßlichen Mückenschisses auf den wertvollen Bildnissen.

      Währenddessen meine Zähne vom frugalen Frühstück wie von einem Sandstrahl gereinigt wurden, ließ ich mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Eine Wohltat nach dem Aufenthalt in einem von schummrigem Kunstlicht durchtränkten Raum.

      So lehnte ich eine Weile da, hatte die Augen geschlossen, und wartete auf die kleinen dunklen Punkte und Fäden auf karneolrotem Grund, die man wahrnehmen sollte, wenn man sich bei hellem Licht seine Augenlider von innen ansieht. Und da eben dachte ich an nichts – an gar nichts! Es war einer jener gnadenvollen, seltenen Augenblicke des Nicht-Denkens, wie sie einem rastlosen Künstlergeist nur selten gewährt werden. Ich suhlte mich in dieser Schwebe zwischen unkreativer Geistesabwesenheit und … fast Einnicken.

      Plötzlich durchschnitt etwas die Stille. Ich erschrak und riss die Augen auf, sodass ich in dem Moment – wohin ich auch blickte – nur dunkle Scheiben, wie lauter kleine verfinsterte Sonnen, sah. Vom Hof unterhalb kam etwas … da schallte etwas herauf, laut und lang gezogen. Ein Klang, so markerschütternd grell, als hätte ich das Endstück einer Blechgießkanne im Ohr stecken und ein Orkan würde vorbeisausen, oder etwas ähnlich Verwüstendes, das eigentlich nur ein Neurologe definieren könnte, falls er sich je mit Klängen von Blasinstrumenten und deren Auswirkung auf die menschlichen Nervenenden auseinandergesetzt hat. Heavy Metal!

      Kurz darauf setzte ein Singsang ein, den man im ersten Moment für das Wehklagen eines barfüßigen Siegfried hätte halten können, der auf der Wiener Opernbühne gerade in die Dornen eines ihm zugeworfenen Rosenstrauches getreten war.

      Dann war Stille … die aber nur wenig später von einem wahren Schwall an unverständlichen Wortlauten abgelöst wurde, so als würde sich der waidwunde Opernstar über sein unsensibles Publikum beklagen. Also konnte es sich nur um einen Gaststar handeln.

      Ich beugte mich vorsichtig über das breite Fensterbrett und sah die zwei Stockwerke in den Hof hinunter; aber meine Augen waren geblendet vom Sonnenlicht, daher konnte ich nur eine Gestalt, wie einen dunklen Schatten, wahrnehmen. Der stand in der Mitte des weitläufigen Innenhofes, nein: kniete gleich neben der hohen antiken Säule und hielt beide