Ursula Reinhold

"Erlesene" Zeitgenossenschaft


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Fernsehkritik, in der er dem Band insgesamt manches Verdienst zusprach.

      Für meinen Anteil an den Problemen dieses Bandes veranschlage ich im Rückblick mehrere Defizite. Weil die Voraussetzungen, mit denen wir Geschichtsschreiber zu Werke gingen, sehr unterschiedlich waren, will ich mich vor Verallgemeinerungen in jedem Fall hüten. Für mich kann ich sagen, dass ich noch immer mit einem verengten, zu stark politisierten Literaturbegriff arbeitete, der dem Zeitkontext der sechziger Jahre entnommen war, mit dem ich mich zu beschäftigen und mit dem ich auch meinen Einstieg ins literarische Fach begonnen hatte. Darüber will ich mich an dieser Stelle nicht weiter verbreiten, weil Belege dafür sich auch in den hier geschilderten Begegnungen finden.

      Ein anderer Sachverhalt macht mir mehr zu schaffen, bereitet mir aus heutiger Sicht einige Pein. Dabei weiß ich nicht, wie meine Kollegen im Einzelnen damit umgegangen sind und heute damit umgehen. Es handelt sich dabei um das „Problem der Unpersonen“, wie ich es nennen möchte. Auf diese Erscheinung trafen wir in der DDR häufig. In Geschichtsdarstellungen, vor allem auch im Rahmen der Geschichte der kommunistischen Bewegung und in ähnlichen Zusammenhängen stieß man allenthalben darauf. Das erste Mal begegnete ich diesem Tabu in meiner Tätigkeit als Bibliografin, bei der Mitarbeit an einer großräumig angelegten „Bibliografie zur Geschichte der Kommunistischen und Arbeiterparteien“, die an der Bibliothek des Instituts für Gesellschaftswissenschaften unter der Regie ihres Leiters erarbeitet wurde. Nachdem der 1. Band der Bibliografie im Manuskriptdruck vorlag, wurde die Arbeit plötzlich gestoppt, der Leiter Eberhard Kabus zur Verantwortung gezogen. Der Grund: Es hätten sich Parteifeinde in das Gedruckte eingeschlichen, so hieß es. Wir hatten, unserem bibliografischen Gewissen entsprechend, Artikel und Aufsätze von Personen in das Verzeichnis aufgenommen, die schon nicht mehr zur Partei gehörten, ausgeschlossen worden waren oder längst im Westen lebten und nun als Renegaten oder Verräter galten. Unpersonen waren sie nun geworden, durften nicht mehr genannt werden. Unser Chef bekam dafür ein Parteiverfahren, wurde als Leiter der Bibliothek und des Vorhabens abgelöst. Zuvor waren wir monatelang damit beschäftigt, die Stellen zu schwärzen, auf denen die Namen dieser Unpersonen verzeichnet waren. Erst versuchten wir, die unerwünschten Eintragungen zu überkleben, aber die Namen waren gegen das Licht noch immer zu lesen, nur das Schwärzen brachte den gewünschten Effekt, wie sich zeigte. Noch heute sehe ich uns mit den Bücherstapeln vor den Tischen des Lesesaals in der Taubenstraße stehen, um die Maßgaben von höheren Orts ins Werk zu setzen. Ein solches Erlebnis hinterließ einen tiefen Eindruck. So etwas wollte ich natürlich nicht noch einmal erleben und hielt mich daher, so gut ich es verstand, an das Tabu. Bei der Darstellung der westdeutschen Literatur handelte es sich zumeist um Personen, die die DDR aus politischen Gründen verlassen und sich in der Folgezeit als ihre Kritiker einen Namen gemacht hatten. Manfred Bieler, Horst Bienek, Walter Kempowski, Wolfgang Zwerenz gehörten z. B. dazu. Wir hatten natürlich nicht die Absicht, sie völlig zu übergehen, sie zum Verschwinden zu bringen. Nein, wir wollten schon so weitgehend wie möglich unserer Chronistenpflicht nachkommen. Aber wie damit umgehen? Nicht nur bei mir bestand Unsicherheit darüber, wie mit diesen Autoren zu verfahren sei. Welcher Platz sollte ihnen eingeräumt werden? Unsicherheit und die Furcht, etwas falsch zu machen, führten dazu, dass solchen Schriftstellern mit ihrem Werk kein angemessener Raum gegeben wurde. Das geschah eher unbewusst, denn an eine ausdrückliche Verständigung über solche Fragen kann ich mich nicht erinnern. Dieses Vorgehen wird mir im Rückblick bewusster, als ich es damals erlebt habe. Offensichtlich folgte ich darin der seit Langem geübten Praxis in der Geschichte der kommunistischen Bewegung, in der es von Unpersonen nur so wimmelte. Erst später bemerkte ich, welcher unbewusste Mechanismus da in mir wirkte. Peinlich, peinlich ist mir das heute, ich muss es offen sagen. Walter Kempowski hat mit seiner Kritik an dieser Praxis, die auch seinen Namen betraf, vollkommen recht. Er hat sie in seinem Rostocker Tagebuch von 1990 mit Namen und Adresse öffentlich gemacht. Es stimmt, dass sein Werk in dieser Literaturgeschichte keine angemessene Würdigung findet und dass es unentschuldbar ist.

      Bei der Arbeit damals nahm niemand von meinen Kollegen Anstoß an meinen geringen Voraussetzungen. Wahrscheinlich war es so, dass keiner von ihnen eine genaue Vorstellung von meinen dürftigen Vorkenntnissen hatte. Denn alle anderen waren bereits gestandene Wissenschaftler, bei ihnen sah das jedenfalls durchaus anders aus als bei mir. Immerhin war Klaus Pezold ein Schüler Hans Mayers in Leipzig gewesen, hatte dort früh mit einer Arbeit über Martin Walsers Romanwerk promoviert. Das Thema der Dissertation ging noch auf den verehrten Lehrer zurück, und sie lag bereits veröffentlicht vor. Auch von Klaus Schumann, Spezialist für die Lyrik, gab es bereits Veröffentlichungen. Er hatte über Brechts Lyrik promoviert. Hans Joachim Bernhard hatte eine Habilschrift über die Romane von Heinrich Böll verfasst, auch deren Ergebnisse lagen gedruckt vor. Außerdem hatte er über die Kriegsbücher von Ernst Jünger gearbeitet und publiziert. Ich kannte seine Arbeiten aus meiner Studentenzeit. Mich beeindruckte der Kenntnisreichtum der Kollegen, aber ich war erleichtert, dass sie mich ohne Vorurteile in ihren Kreis aufnahmen. Denn ich war mir meiner geringen Voraussetzungen bewusst, war unsicher, aber eifrig bemüht, meine Lücken zu schließen, um an einer so wichtigen Arbeit, wie es eine Literaturgeschichte war, erfolgreich mitschreiben zu können. Viel Eifer und Fleiß brachte ich mit, die Arbeit machte mir Spaß, obwohl mich niemals das Gefühl von Überforderung verließ, das mich im Übrigen auf meinem gesamten Weg als Wissenschaftlerin begleitet hat.

      Redakteurin bei den „Weimarer Beiträgen“

      Zuvor, in der Zeit von 1970-1973 arbeitete ich als Redakteurin bei der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Kulturtheorie, wie die „Weimarer Beiträge“ im Untertitel damals hießen. In den ersten Monaten meiner Tätigkeit dort promovierte ich zu dem schon genannten Thema am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Lehrstuhl Literatur und Kunst. Vorangegangen waren eine Ausbildung an der Fachschule für Bibliothekare, eine mehrjährige Berufsausübung, ein verkürztes Germanistikstudium in einer Kombination von Gasthörerschaft und einjähriger Immatrikulation an der Humboldt-Universität, ein Diplom im Fach Germanistik.

      Obwohl die Redakteurstätigkeit nur eine kurze Lebenszeit ausmachte, brachte sie mir wichtige neue Erfahrungen. Als verantwortliche Redakteurin für Literaturgeschichte hatte ich die Möglichkeit, meine literaturgeschichtlichen Kenntnisse zu erweitern. Aber vor allem gab sie mir Gelegenheit, Schriftstellern leibhaftig zu begegnen, von denen mir bisher allenfalls die Namen oder einige ihrer Bücher bekannt waren. In dieser Zeit begann ich, mich als Literaturkritikerin zu versuchen, schrieb Beiträge in der kurz zuvor etablierten Reihe über Gegenwartsautoren. So begegnete ich manchem westdeutschen Schriftsteller. Die auffällige konzeptionelle Veränderung, die sich in „Literatur und Klassenkampf“ (1976) gegenüber der Anlage von „Antihumanismus in der westdeutschen Literatur“ (1972) zeigte, hing nicht zuletzt mit solchen Begegnungen zusammen. Das Zusammentreffen mit schreibenden Zeitgenossen von drüben und das lebendige Gespräch mit ihnen, hinterließ neue Eindrücke, löste abstrakt Begriffliches auf, das sich im Denken festgesetzt hatte. In den drei Jahren, in denen ich dort tätig war, gab es Treffen mit Schriftstellern, die ich für die Autorenreihe interviewt habe und über die ich auch noch Artikel schrieb, nachdem ich nicht mehr Redakteurin war. Diese Begegnungen mit Menschen und ihren Werken empfand ich als sehr bereichernd. Sie hinterließen mir unverlierbare Eindrücke. Es ist eine lange Liste von Namen, in der Reihenfolge ihrer Nennung, versuche ich die Chronologie zu wahren. Gespräche, die später gedruckt wurden, habe ich mit Hans Magnus Enzensberger, Peter Schütt, Rolf Hochhuth, Franz Xaver Kroetz, Günter Herburger, Uwe Timm, Klaus Konjetzky, Gerd Fuchs, Martin Walser, Günter Wallraff, Dieter Süverkrüp geführt. Darüber hinaus gab es damals und später Begegnungen und Gespräche mit Schriftstellern, aus denen mir ebenfalls nachhaltige Eindrücke geblieben sind. Dazu zählen Gespräche mit Heinar Kipphardt, Roman Ritter, Erasmus Schöfer, Ulla Hahn, Dieter Wellershoff, die ich zu ganz verschiedenen Zeiten traf. Auch Gespräche mit Oskar Neumann und Friedrich Hitzer als Herausgeber und Macher der Münchener Zeitschrift „Kürbiskern“ vermittelten mir ungewohnte Blickpunkte auf den anderen deutschen Staat, auf die Protagonisten der linken Szene in München und anderswo.

      Dabei sind die mehr oder weniger bleibenden Eindrücke, die Mensch und Werk bei mir hinterlassen haben, ganz unterschiedlich geartet. Episodisches steht neben Konzeptionellem, das mir manches Streitgespräch vermittelt hat. Aktuell Politisches oder Literarisches