Ursula Reinhold

"Erlesene" Zeitgenossenschaft


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beschäftigt hatte. Vor allem aber brachte mir der Aufenthalt dort auch eine Erfahrung mit mir selbst, die mir bestätigte, was ich schon ahnte. Zu den mutigsten Menschen gehöre ich nicht. Ich wusste und stieß bei meiner Suche auf die Tatsache, dass Alfred Andersch ein Verehrer und Leser von Ernst Jünger war. Nun entdeckte ich, dass es einen über Jahrzehnte währenden Briefwechsel mit dem Älteren gab. Natürlich wollte ich nun gerne die Jünger-Briefe sehen, die sich im Nachlass fanden. Ich hätte dazu die Genehmigung Jüngers einholen müssen. Man sagte mir, dass das keine Probleme mache, man könne mir den Kontakt vermitteln, da Kirchberg nicht weit entfernt sei und die Frau des Dichters als langjährige Mitarbeiterin des Archivs die Sache vermitteln würde. Ich war elektrisiert von der Möglichkeit, verbrachte eine schlechte Nacht wegen meiner Unfähigkeit, mich zu entscheiden, weil ich an die Folgen dachte. Was würde kommen, wenn ich zurückkehrte. Denn in der DDR galt Ernst Jünger als eine Unperson, als Militarist, dem man auch als Literat keine Reverenzen erweisen wollte. Ich unterließ es, mich um eine Genehmigung zu bemühen, und hatte lange das Gefühl von Versäumtem in mir. Nach der Wende habe ich den Briefwechsel eingesehen, um festzustellen, dass er eigentlich wenig substanziell war, vor allem aus freundlichen Grüßen und Gratulationen zu neuen Büchern besteht. Nur zu „Kirschen der Freiheit“ hatte sich Jünger ausführlicher geäußert, er sah hier Entsprechungen zum eigenen Positionswechsel, der sich nach dem Krieg vollzogen und sich auch in seinem Buch „Der Waldgang“ (1951) niedergeschlagen hat. Mich interessierte das nun nicht mehr. Viel neugieriger war ich darauf, was zwischen Andersch und Jean Amery brieflich ausgetauscht worden war. Der Freitod von Jean Amery lag erst kurze Zeit zurück.

      Meine Arbeit über Andersch hat mich nach der Vereinigung in Kontakt zu der 1994 gegründeten Alfred Andersch-Gesellschaft gebracht, der allerdings keine lange Lebensdauer beschieden war. Aber immerhin gab es einige Zusammenkünfte, und es gab die Möglichkeit, mit Kollegen in Kontakt zu kommen, von denen ich bisher nur Publikationen kannte.

      Mein spezielles Interesse an dem Autor war auch durch die Eigentümlichkeit bestimmt, mit der sich Leben und Werk im Schreiben von Andersch berühren. Vom frühen Bericht „Die Kirschen der Freiheit“ bis ins Spätwerk bleibt für sein Schreiben die existenzielle Grunderfahrung wesentlich, mit der er als junger Mann die faschistische Machtergreifung und ihre Stabilisierung erlebt hat. Als Sekretär des Kommunistischen Jugendverbandes von Südbayern verbringt man ihn für Monate ins Konzentrationslager Dachau. Angst und Wut, Isolation und Rückzug auf sich selbst, auf die Kunst und das eigene Überleben bestimmten seinen Weg in den folgenden Jahren. Die Anpassung ging so weit, dass er zeitweilig sogar einen deutschen Sieg für möglich hielt. Erst mit der mutigen Entscheidung zur Desertion von der Wehrmacht im Sommer 1944 wächst ihm die Selbstachtung zu, späterhin davon zu erzählen, denn Passivität, Anpassung und Fluchtbewegungen nach innen sind verbreitete Haltungen, über die er nun kritisch reflektierend erzählen kann. Der authentische Kern seiner Prosa ist es, der mich bewegt und natürlich die wachsende erzählerische Souveränität, die er sich über die Jahre erwarb. Darüber hinaus interessierte mich Andersch auch als Akteur des literarischen Lebens in Westdeutschland, das er als Studioleiter im Rundfunk bei der Entwicklung von Hörspielen und als Herausgeber der Zeitschrift „Texte und Zeichen“ in den Vierziger- und Fünfzigerjahren maßgeblich mitgeprägt hat.

      Die Arbeitsjahre am ZIL brachten mir über die speziellen Arbeitsvorhaben hinaus Zuwachs an historischen und theoretischen Erkenntnissen. Dazu trug ein intensives Arbeits- und Diskussionsklima bei. Vor allem auch die theoretischen Arbeiten zu Problemen der Literaturrezeption, die im Theoriebereich des ZIL erarbeitet wurden, Diskussionen über Literatur im Exil, auch die Diskussionen zur Konzeptionsbildung für das „Lexikon Sozialistischer Literatur“ trugen dazu bei, mein Literaturverständnis zu entwickeln.

      Die Absicht, das Protokoll des 1. Deutschen Schriftstellerkongresses zur Veröffentlichung zu bringen, entwickelte sich im Zusammenhang mit den erwähnten Arbeitsfeldern zur Nachkriegsentwicklung. Der im Oktober 1947 veranstaltete mehrtägige Kongress in Berlin blieb die einzige gesamtdeutsche Zusammenkunft von Schriftstellern aus den vier Besatzungszonen in der Nachkriegsgeschichte. Der Kongress fand in der Viersektorenstadt unter schwierigen materiellen Verhältnissen statt und vereinigte Autoren nicht nur aus Ost und West, sondern auch Schriftsteller unterschiedlicher weltanschaulicher Überzeugungen und politischer Haltungen. Autoren, die im Widerstand gestanden oder die Hitlerzeit in der Emigration überlebt hatten, manchmal aus ihr noch nicht wieder zurückgekehrt waren. Sie trafen auf solche, die die Zeit in Deutschland zurückgezogen überstanden oder mit mehr oder weniger Kompromissen erlebt hatten. Das Treffen war ein wichtiges, viel beachtetes Ereignis. Dennoch unterblieb die vollständige Veröffentlichung der Reden, Diskussionsbeiträge und Dokumente der Veranstaltung. Der beginnende Kalte Krieg, der schon während der Versammlung zu spüren war, brachte es mit sich, dass das stenografische Protokoll ungedruckt im Archiv des Schriftstellerverbandes in der Berliner Friedrichstraße liegenblieb. Es hatte Versuche gegeben das zu ändern, die allerdings ohne Erfolg geblieben waren. Sigrid Bock hatte sich um das Protokoll bemüht und einen Artikel über den Kongress geschrieben, auch betreute sie in den Siebzigerjahren eine Dissertation, die sich mit dem Kongress beschäftigte. Woran die Pläne zur Veröffentlichung des Protokolls gescheitert sind, war nicht so genau herauszufinden, niemand wusste mir die Gründe genau zu nennen. Daher versuchte ich nun, Einblick in die stenografische Mitschrift zu bekommen. Das war nicht so schwierig, wie ich es erwartet hatte. Zu meiner Überraschung bekam ich den Stapel Papier ausgehändigt und konnte mich darin vertiefen, lediglich verpflichtete man mich im Sekretariat des Schriftstellerverbandes zur Verschwiegenheit im Umgang mit dem Material. Das Manuskript war in keinem guten Zustand, dass graue Papier war bereits brüchig, es gab unlesbare Stellen. Dazu kamen Auslassungen, die wohl darauf zurückzuführen waren, dass die Stenografen dem Tempo des Wortwechsels mitunter nicht folgen konnten, auch Abbrüche gab es. Aber dennoch, das, was ich las, erregte mein höchstes Interesse. Ich fand, dass es veröffentlicht werden musste. Denn war es nicht allein schon bewundernswert, dass Menschen in einer so schwierigen, von Ruinen, Hunger und Not bestimmten Zeit den Gedanken fassten, ein Treffen von Schriftstellern zu organisieren, um sich zu verständigen, wie mit Geschriebenem zur Überwindung der geistigen Hinterlassenschaften des Faschismus beizutragen wäre. Dabei gingen gemäß unterschiedlicher Haltungen und Erfahrungen auch die Vorstellungen darüber weit auseinander. Aber hier ist nicht der Platz, erneut über den Kongress zu handeln. Denn der Band mit dem Protokoll und den vom Kongress verabschiedeten Dokumenten liegt seit 1997 gedruckt vor, der Aufbau-Verlag veröffentlichte das Material nach einem halben Jahrhundert, das seit dem Ereignis vergangen war. Jeder Interessierte kann sich in das Gesprochene vertiefen, die Bilder anschauen, die uns überliefert sind.

      Doch auf die Editionsgeschichte möchte ich kurz zurückkommen und auf einige für mich wichtige Erfahrungen eingehen. Erinnerungen, die sicherlich nicht für das gesamte Herausgeberkollektiv stehen, zu dem noch Dieter Schlenstedt und Horst Tanneberger gehörten. Die Gruppe hatte sich in dieser Zusammensetzung erst im Laufe der Arbeit in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre zusammengefunden, als sich die Pläne für eine Edition zu konkretisieren begannen. Horst Tanneberger ist die Vervollständigung der Protokollabschrift auf der Grundlage der Tonbandmitschnitte zu danken, die im Archiv des Rundfunks zu finden waren. Redaktionelle Mitarbeit leisteten auch Hannelore Adolph und Elisabeth Lemke (†).

      Das genaue Datum des Tages im Jahr 1985 erinnere ich nicht, an dem wir, Dieter Schlenstedt und ich, einen Termin beim stellvertretenden Minister für Kultur der DDR, dem Verantwortlichen für Druckgenehmigungen, Klaus Höpcke, wahrnahmen. Er war bereits brieflich von dem Plan, das Protokoll herauszugeben unterrichtet worden, und hatte uns wissen lassen, dass er der Sache insgesamt nicht negativ gegenüberstehe. Aber er bat uns darum, ihm eine Konzeption vorzulegen, aus der die Probleme ersichtlich würden, die der Publikation bisher im Wege gestanden hatten. Wie wir mit diesen Fragen umgehen wollten, wie man sie durch Anmerkungen und Kommentare neutralisieren, für das politische und literarische Verständnis, das in der DDR herrschte, publikabel machen könnte, wollte er von uns wissen. Wir überlegten und entwickelten den Plan, die Seiten so einzurichten, dass in einer Spalte der fortlaufende Text der Reden und Diskussionsbeiträge gedruckt werden sollte. Daneben wollten wir einen fortlaufenden Kommentar setzen, der auf politische Großereignisse eingehen, erklärende und polemische Kommentare enthalten sollte. Wir hofften auf diese Weise, die Spuren, die die beginnende politische Konfrontation in den Reden hinterlassen