anderen Geist als die griechische. Ihr strikter Monotheismus ging einher mit einer radikalen Ablehnung fremder Kulturen, denen sie dennoch viel verdankte. Die positive Kehrseite der alttestamentarischen Intoleranz ist ein tiefer Ernst, der Sinnsuchende immer wieder angezogen hat. Einen solchen Ernst braucht, wer den Versuch wagen will, das Eigentliche vom Uneigentlichen zu scheiden. Auch beeindruckt der seelisch aufgewühlte Mensch der Bibel als Kontrast zu einem Ideal unserer Tage: zum persönlich distanzierten, innerlich unbeteiligten Wissenschaftler.
Kapitel 10: Flavius Josephus
Als Mittler zwischen griechisch-römischer und biblischer Kultur begegnet uns Flavius Josephus. Seinen jüdischen Zeitgenossen zutiefst verhasst, wurde er zur wichtigsten Quelle für die jüdische Geschichte zur Zeit Jesu. Vielleicht verrät uns sein Werk auch einiges über die Glaubwürdigkeit der Evangelien.
Kapitel 11: Jesus
Wie konnte Jesus alle Geistesgrößen der Antike überflügeln und zum einflussreichsten Sinnstifter der Menschheit werden? Das gehört zu den spannendsten Fragen der Ideengeschichte. In diesem Buch können wir auf diese Frage nur teilweise eingehen. Denn die Jahrhunderte, in denen sich die Kirche aus einer verfolgten zu einer verfolgenden Institution entwickelte, liegen bereits außerhalb unseres zeitlichen Rahmens. Hier konzentrieren wir uns auf die Anfänge, genauer: So weit es möglich ist auf Jesus selbst, aber auch auf die Evangelien als seine wichtigsten Quellen. Dabei fragen wir auch, wie die Bibelforscher diese Quellen beurteilen – und warum die Frommen über den wissenschaftlichen Zugriff auf ihre heiligen Schriften nicht immer glücklich sind.
Schattenseiten
So anregend die Dichter und Denker der Antike auch sind: Gelegentlich sagen sie ganz unerträgliche Dinge. Homer verherrlicht die Mordbestie Achill, Platon den Totalitarismus, das Alte Testament den – unhistorischen – Völkermord an den Ureinwohnern Kanaas. Auch das Neue Testament hält so manchen unverdaulichen Brocken bereit. Zwar lebt darin eine überwältigende Liebe, die alle einschließt: Arme, Sklavinnen, „Dumme“, Versager, Ketzer, Verbrecher, Prostituierte, Kollaborateure, Feinde – alle gehören dazu. Was für ein Quantensprung in der Entwicklung der Humanität! Und doch findet sich in diesem Buch der Liebe auch die grässlichste Ausgrenzung, die sich denken lässt: die Ausgrenzung in die ewige Verdammnis.
Solche schrecklichen Seiten des antiken Erbes werden hier nicht unter den Teppich gekehrt. Doch werden sie uns nicht daran hindern, die Schätze der Vergangenheit zu heben.
Ganz gleich, wie wir uns zu den antiken Dichtern, Philosophen, Historikern, Propheten und zu Jesus stellen: Sie sind – zumindest in der westlichen Welt – die Pioniere unseres heutigen Bewusstseins. Wenn wir ihnen begegnen, begegnen wir uns selbst.
Hesiod: Im Anfang war kein Gott
Hesiod (* vor 700 v. Chr.) ist neben dem älteren Homer die Hauptquelle der griechischen Mythologie.
Wie fühlte sich das Leben an, als der Himmel noch ein entmachteter Tyrann war, die Erde seine rebellische Gattin und die Unterwelt ein Ort voll grässlicher Ungeheuer?
Stellen wir uns vor, wir lebten in einer Kultur ohne Fernrohre und Raumfähren. Vom Urknall hätten wir noch nie etwas gehört. Noch hätte die moderne Physik nicht unseren Planeten zu einem Staubkörnchen erklärt, verloren in einem viel zu großen All, das dem Leben nahezu überall feind ist. Stattdessen wäre unser Zutrauen in unsere eigenen Sinne ungebrochen: Aus dem, was wir um uns sehen und hören, würden wir unverdrossen schließen, wie es sich mit der Welt überhaupt verhält. Und was unsere Sinne nicht liefern, würden wir aus unserer Fantasie ergänzen. Wie würden wir wohl die Welt erleben, und wie uns selbst in dieser Welt?
Wer sich das vorstellen möchte, dem – oder der – sei die Lektüre Hesiods empfohlen, eines dichtenden Bauern im Griechenland des achten vorchristlichen Jahrhunderts.
Hesiod fühlte sich voller Leben, und überall um sich fand er Leben vor. Warum also sollte die Erde für ihn nicht das Zentrum eines Universums voller Leben sein?
Wenn Hesiod an einem schönen Sommerabend den aufsteigenden Mond auf sich wirken ließ, dann erblickte er keinen leblosen Gesteinsklumpen: Was dort am Himmel so herrlich strahlte, war eine Göttin. Wieso auch hätte Hesiod Sonne, Mond und Sterne für tot halten sollen? Sie sprachen nicht weniger lebhaft zu seinen Sinnen als Pflanzen, Tiere und Menschen.
Die Sonne gar war nicht nur lebendig, sie spendete großzügig Leben. Ihren allgegenwärtigen Strahlen entging nichts. Aus Respekt vor der erhabenen Gottheit begab sich Hesiod beim Verrichten der Notdurft ehrerbietig in den Schatten einer Mauer oder – mit umhüllendem Gewand – in die Hocke.
Im Anfang war das Chaos
Leben, das wusste der Bauer Hesiod, wird gezeugt und zeugt sich fort. Das galt natürlich auch für das göttliche Leben, von dem er sich umgeben glaubte. Sonne, Mond und Morgenröte waren Geschwister. Sie waren ebenso irgendwann geworden wie andere Gottheiten, etwa die Meeresstille, der Sieg, das Gedächtnis und die Nacht.
Doch wie hatte alles begonnen? Im Anfang war kein Leben: Hesiods „Schöpfungsgeschichte“ beginnt nicht mit einem Gott, der Himmel und Erde schuf, sondern mit dem Chaos (T 116). Dabei dachte Hesiod aber nicht an ein chaotisches Urgerümpel, sondern an den leeren Raum vor allen Dingen und Göttern. Auch dieser Raum ist entstanden, doch was davor war, sagt Hesiod nicht.
In dem leeren Raum entstand zuerst die Erde. Natürlich ist Hesiods Erde keine Kugel. Aber ist sie eine Scheibe? Das wäre kein schmeichelhafter Ausdruck für eine weit sich hinbreitende Göttin mit üppigen Brüsten.
Mangels Partner erzeugte die Erde eingeschlechtlich ihren späteren Gatten, den Himmel. Für Hesiod war also zuerst die Henne da, dann der Gockel. Allerdings nur, wenn man von dem Liebesgott Eros absieht, der möglicherweise zeitgleich mit der Erde entstanden ist.
Nacht für Nacht senkte sich nun der Himmel liebend auf die empfangende Erde. Lehrt das nicht schon die Anschauung? Schließen denn nicht Erde und Himmel am Horizont nahtlos aneinander an? In der Nacht gar sind sie überhaupt nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Und kommt der Regen, der die Erde befruchtet, nicht vom Himmel?
Aus der inzestuösen Verbindung von Erde und Himmel entstanden Kinder, an denen der Vater keine Freude hatte: die schrecklichen Titanen. Hundertarmige Riesen waren darunter, und grässlich anzusehende einäugige Monster. Angewidert sperrte der Vater diese Brut weg in der Erde – in ihrer eigenen Mutter also. Das konnte nicht lange gut gehen. Und tatsächlich reizte die Erde ihren Jüngsten, Kronos, zur Rebellion. Mit einer Sichel mähte er das väterliche Geschlecht und schleuderte es in hohem Bogen ins Meer, bei welcher Gelegenheit Giganten, Rachegöttinnen, Baumgeister und die Liebesgöttin Aphrodite entstanden.
Nun trat Kronos die Weltherrschaft an, freilich nur, um die Fehler seines Vaters zu wiederholen. Auch er ging nicht pfleglich um mit den Kinder aus seiner – ebenfalls inzestuösen – Ehe: Er verschlang sie. Und wieder rebellierte die Mutter, in diesem Fall die Kronos-Schwester Rhea. Es gelang ihr, Kronos zu überlisten und seinen Jüngsten – Zeus – vor dem Vater zu verstecken.
Zeus überwältigte schließlich seinen Vater und zwang ihn, die Geschwister zu erbrechen. Unter ihnen befand sich auch Hera. Mit ihr würde Zeus eines fernen Tages – in siebter Ehe – die Familientradition inzestuöser Verbindungen fortsetzen.
Der Weltenherrscher Zeus war also – anders als der Gott der Bibel – nicht immer schon die Nummer 1 gewesen: Zur Macht gekommen ist er erst in der dritten Generation.
Und Zeus war nicht unumstritten: Um seine Position zu sichern, musste er die rebellischen Götter der zweiten Generation, die Titanen, besiegen. Die überwundenen Aufrührer landeten in der Unterwelt. Danach nahm Zeus es mit seinem letzten Widersacher auf: dem grässlichen Typhoeus, den Oma Erde von dem finsteren Höllenfürsten Tartaros