zu machen. Athene hat es vorgemacht: Um den trojanischen Prinz Hektor endlich zur Strecke zu bringen, verwandelte sie sich in seinen Bruder und lockte ihn mit falschen Versprechen in einen aussichtslosen Kampf.
Wenn Götter und Helden lügen, warum sollte es ausgerechnet der göttlich inspirierte Dichter nicht tun? Da wäre er schlecht beraten. Schließlich hat er sich weit mehr vorgenommen als die getreue Wiedergabe nüchterner Tatsachen. Wenn Homer seinen Gesang anstimmt, dann will er in den Menschen die höchste Freude wecken, zu der sie fähig sind: „Ich kenne im Leben nichts Besseres“, lässt er seinen Odysseus schwärmen, „als wenn beim Fest im Schloss die Gäste den Liedern des Sängers lauschen, während die Tische von Gebackenem und Fleisch gefüllt sind und der Schenke fleißig den Wein schöpft“ (Od 9,3–11).
Homer will Verse dichten, die so herrlich sind, dass sie einer verwöhnten Gästeschar besser schmecken als Hammelfleisch, Fladenbrot und griechischer Wein. Da darf er nicht zimperlich sein, wenn seine Musen schwindeln, um ihm ihre schönsten Pointen und überraschendsten Wendungen zuzuspielen.
So überlässt sich Homer seinen aus Täuschung und Wahrheit gewobenen Geschichten – und wird darüber zum Entdecker einer dichterischen Kausalität, die seine Zuhörer mit geradezu naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit fesselt.
Wer sich nicht schämt zu lügen, kann erzählen was er will? Das gilt nur für Dilettanten. Nicht dafür hängt Homer die Wahrheitsfrage tiefer, dass er sich in die Beliebigkeit flüchten kann. Sondern er befreit sich vom Diktat der Tatsachen, um den Gesetzen der Dramaturgie zu folgen.
In der Ilias geht es streng folgerichtig zu. Alles was geschieht, ist Teil einer Kausalitätskette. Jedes Ereignis ist eine Kraft, die auf die Entwicklung der Handlung einwirkt. Wie wohlproportioniert dies alles aufeinander abgestimmt ist, kann nur fühlen, wer die Ilias liest. Eine Zusammenfassung kann bestenfalls eine Ahnung vermitteln.
Die Ilias: vom Zorn des Achill
Sei’s drum – fassen wir die Grundzüge der Ilias zusammen:
Die griechischen Belagerer Trojas haben das Mädchen Chryseis erbeutet. Ihr Vater, der Apollonspriester Chryses, sucht das Lager der Griechen auf und bittet um die Rückgabe seiner Tochter. Er ist bereit, reichlich für sie zu bezahlen. Doch der Besitzer des Mädchens, der oberste Heerführer Agamemnon, weist den Priester schroff ab. Der wendet sich an Apollon um Hilfe.
Apollon erhört seinen Priester und straft die Griechen mit einer Pest. Das wiederum ruft Achill auf den Plan, den stärksten Krieger Agamemnons und gleichzeitig seinen gefährlichsten Rivalen. Achill ermutigt den Seher Kalchas, frei heraus zu sagen, warum die Pest wütet – ob es dem Agamemnon passt oder nicht. Und Kalchas, der „heiße Draht“ der Griechen zu den Göttern, sagt gegen den Heerführer aus: Erst wenn Agamemnon seine Chryseis ihrem Vater zurückgebe, werde Apollon seine Pestpfeile im Köcher lassen.
Nun muss Agamemnon also doch seine Chryseis hergeben. Das macht ihn wütend auf Achill, der dem Seher Rückhalt verschafft hat. Agamemnon zahlt dem Achill mit gleicher Münze heim und nimmt ihm seine Kriegsbeute, das Mädchen Briseis.
Jetzt kann die Geschichte ihren Lauf nehmen, die Homer erzählen will: die Geschichte vom Zorn des Achill. Voller Schmerz über den Verlust der Geliebten und maßlos empört über die Demütigung durch den Heerführer, verweigert Achill seine weitere Mitwirkung im Krieg. Dass er nicht mehr mitmacht, sollen Agamemnon und sein Heer so empfindlich wie möglich zu spüren bekommen. Sprich: Je mehr seiner eigenen Landsleute im Krieg sterben, desto besser für Achill.
Das Kriegsglück soll sich nun also von den Griechen ab- und den Trojanern zuwenden. Zeus tut dem Achill den Gefallen, auf Bitten von dessen göttlicher Mutter. Von nun an enden die Schlachten der Griechen regelmäßig in verheerenden Niederlagen. Bis in einer dieser Schlachten ein Grieche fällt, an dem Achill etwas liegt: sein Freund Patroklos. Dessen Tod gibt Achills Zorn eine neue Wendung: Um Patroklos zu rächen, zieht er wieder gegen die Trojaner. Achills Zorn ist erst besänftigt, nachdem er Hektor, den Sieger über Patroklos, getötet und seine Leiche tagelang geschändet hat. Am Ende fügt sich Achill dem Willen der Götter und überlässt die Leiche Hektors dessen Vater Priamos.
Rauben, lügen, morden: Tugenden der Aristokratie
Homers festlich tafelnde Zuhörer werden diese Erzählung genossen haben, ohne sich lange mit der Frage aufzuhalten, ob denn das alles nicht erlogen sei. Ohnehin pflegten sie zur Lüge ein Verhältnis vornehmer Diskretion. Anders wären die aristokratischen Tugenden, die sie hochhielten, gar nicht lebbar gewesen. Wie sollte etwa ein Hausherr die Tugend der Gastfreundschaft in Ehren halten, wenn er nicht zuvor die Ressourcen ergaunerte, mit denen er seine Gäste verwöhnte? Es verriet das Herz eines mittellosen Knechts, wenn man wie Eteoneus beim Anblick fremder Männer fragte: „Sollen wir sie weiter schicken, damit sie ein anderer bewirtet?“ Dagegen hatte Eteoneus’ Herr, der König Menelaos, genügend Reichtümer an sich gerafft, um diese Frage entrüstet zurückzuweisen: „Wir haben ja beide in Häusern anderer Menschen viel Gutes genossen“, beschämte der Zerstörer Trojas seinen Knecht (Od 4,33f).
Auf die Lüge angewiesen war auch, wer die hoch angesehene Tugend der Rache üben wollte. Denn er musste wie Odysseus seine Opfer gelegentlich täuschen, um sie in falscher Sicherheit zu wiegen. Bei der Ausführung war dann die Krone aller Tugenden gefordert: die Tapferkeit. Um sie zu üben, brauchte man zwar nicht zu lügen, aber eben auch nicht ehrlich zu sein.
Waren Homers Zuhörer fromm? Ja, wenn man ihnen zugesteht, dass sie unter Frömmigkeit etwas anderes verstanden als ein braver Heilsarmist. Ihnen hatte kein Gott offenbart, dass gelten solle: „Eure Rede sei ja ja, nein nein“ (Mt 5,37). Sie verehrten Götter, die täuschten, betrogen und verführten und die ihnen die Lüge ausdrücklich erlaubten. Und sie verehrten diese Götter nicht, weil sie gut, sondern weil sie mächtig waren.
Wir können heute kaum noch nachfühlen, wie sehr sich die Menschen zu Homers Zeiten göttlichen Mächten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert fühlten. Bei kaum einer Situation beschreibt Homer dieses Lebensgefühl so anschaulich wie bei der Fahrt auf hoher See (Od 5,278ff). Jederzeit konnte ein ungnädiger Gott die friedliche See in eine mörderische Hölle aus feindseligen Stürmen und turmhohen Wellen verwandeln. Wer sich auf hohe See begab, hatte also allen Grund, sich mit dem Meergott Poseidon gut stellen.
Zwar konnte man in Homers Welt die Frömmigkeit auch übertreiben: Bei der Heimfahrt der Griechen nach der Zerstörung Trojas erwiesen sich diejenigen als erfolgreicher, die sich sofort auf den Weg machten, ohne sich lange mit umständlichen Gebeten und Opfern aufzuhalten (Od 3,141–146). Doch in der Regel war man besser beraten, den Göttern großzügig zu opfern: „Den Unsterblichen gebührend zu opfern, lohnt sich!“, sagte König Priamos, als er die Leiche seines Sohnes Hektor bei Achill abholte. Trotz übelster Schändungen war Hektors Körper für eine würdige Bestattung unversehrt bewahrt geblieben. Sein Vater führte dies darauf zurück, dass Hektor nie die Opfer für die Himmlischen versäumt hatte: „Nun denken die Götter sogar im Tod noch an ihn“ (Od 24,428).
Wer sich den Göttern ausgeliefert fühlt, macht ihnen keine Vorschriften, wie sie es mit der Wahrheit halten sollen. Sicherlich, die Götter machen sich gelegentlich ein Vergnügen daraus, uns Menschen trügerische Zeichen zu schicken. Aber sie schicken auch Zeichen, die zutreffen und auf die wir dringend angewiesen sind. Wir haben also keine Wahl: Wir müssen versuchen, die einen Zeichen von den anderen zu unterscheiden.
Hektor hat dafür ein einfaches Rezept: Er rätselt nicht über die Vorzeichen der Vögel, „ob sie rechts hinfliegen oder links“. Aber er vertraut sehr wohl dem „Ratschluss des erhabenen Zeus“, der das einzige Wahrzeichen gesetzt hat, das gilt: „Das Vaterland zu retten!“ (Il 12,243).
Das klingt gut, und tatsächlich kommt Hektor damit auch ziemlich weit. Doch am Ende erreicht er das genaue Gegenteil: Tragischerweise ist es ausgerechnet Hektor, der mit dem Sieg über Patroklos die Rache Achills entfesselt, die seiner Heimatstadt die Wende zum Verhängnis bringt.
Auch wer auf die Götter vertraut, kann also fehlgehen. Homers Götter lassen sich eben das Vergnügen nicht