Birgit Turski

Kaltes Fließ


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mehr mit ihm. Aber das war ihm egal. Seit der Rückkehr aus Ungarn war er ganz zu seiner neuen Flamme, der Sekretärin vom LPG-Büro gezogen. Die Brigitte hatte ein ganz anderes Format, mit der konnte sich ein Mann auch öffentlich sehen lassen, dachte er. Sollten sich die beiden Muschack-Weiber doch um ihr Viehzeug und ihren Ziegenbock und den gottverdammten Hof kümmern, der interessierte ihn nicht mehr.

      Jetzt wehte endlich ein anderer Wind, der Wind der Freiheit, jawohl. Und dieser Wind würde ihn, Jurij Muschack, tragen, erst an die Fraktionsspitze der Neuen Wendenpartei, die jetzt noch nicht in der Volkskammer vertreten war und dann vielleicht bis in die Regierung. Mit jedem Schnaps wurde die Zukunft großartiger und seine eigene Rolle bedeutender. Seine beiden Partei- und Saufgefährten ermutigten ihn durch ständiges Bestätigen seiner immer undeutlicher gelallten Prahlereien. Wenn er bei Laune war, bezahlte er schließlich alles und dass es aus der Parteikasse war, scherte sie überhaupt nicht. Hier in Burg waren sie drei die eigentliche Partei. Sie waren diejenigen, die sich für das Wohl der Wenden aufopferten und nicht diese SED-Speichellecker von der Domowina. Da konnten sie sich auf ihrer Wahlfeier der ersten freien Wahlen in der DDR, die nicht mehr von SED und den Blockflöten der Nationalen Front bestimmt wurden, auch was gönnen. Bei den nächsten Wahlen würden sie schon ganz anders da stehen.

      Mit dem Parteivorsitzenden der Neuen Wendenpartei hatten sie eine Strategie für diese strahlende Zukunft entwickelt. Dr. Kito Balkow würde der Parteivorsitzende und Geschäftsführer des „Verlages für wendisches Schrifttum“, der als GmbH der Neuen Wendenpartei gehörte, bleiben. Jurij Muschack sollte Fraktionsführer der Abgeordneten der Neuen Wendenpartei im Parlament werden, wenn sie ihre Partei erst einmal richtig in Schwung gebracht haben würden und endlich die Vertretung der wendischen Minderheit durchgesetzt wäre. Sie wollten für die Wenden den selben Status erreichen, wie die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein. Für Jurk und Kollasche würden sich dann auch nette Pöstchen finden. Leider konnten die beiden nicht besonders öffentlich in Erscheinung treten, dafür waren ihre Westen nicht weiß genug. Aber die beiden wussten so einige Sachen, die noch recht nützlich werden könnten, nebelten die Vorstellungen von künftigem Glanz durch Muschacks von Bier und Spreewaldbitter geflutetem Gehirn. Die würden sich noch alle wundern, alle und vor allem Maria, die olle Ziege, denn nun brauchte er auch deren Geld nicht mehr, nun nicht mehr. Bei diesem wohligen Gedanken fiel sein Kopf auf die Tischplatte. Jurk und Kollasche grinsten sich trunken zu, da würden sie ihren Parteichef nachher zu seiner üppigen Brigitte schleifen und die würde ihnen dafür ordentlich was in die Taschen stecken, richtiges Geld, nicht bloß das RGW-Spielgeld, das es nicht mehr lange geben wird. Der Dicke hatte versprochen, dass die D-Mark in den Osten kommen würde, noch in diesem Jahr, sonst hätte die CDU auch nicht die Wahlen gewinnen können. Darüber machten sich die Männer von der Neuen Wendenpartei die wenigsten Sorgen. Sie hatten mit ihren eigenen Parteisachen genug zu tun, was kümmerten sie da andere Parteien. Zumindest hatten sie sicher stellen können, dass das mit dem Geld alles geklappt hatte, und dafür konnten sie sich jetzt eben auch was davon gönnen.

      3

      Werner Metag schaute versonnen aus dem Fenster seines Dienstzimmers auf die in weiß gehüllten Baumkronen des kleinen Parks am Bonnaskenplatz. Es war Mitte Dezember 2010 und die Lausitz war gleichmäßig schneebedeckt. ‚Vielleicht kriegen wir ja wirklich mal weiße Weihnachten’, dachte der Leiter der Kriminalpolizei beim Blick auf den anhaltenden sanften Schneefall. Selten genug kam das vor. Er erinnerte sich noch an seine Kindheit, als sie zum Kindergarten mit den Schlitten gebracht wurden. Erinnerte er sich wirklich noch an seinen Kindergarten, oder waren es Großmutters Erzählungen, die im Gedächtnis ihr Eigenleben führten? Metag wandte sich mit einem leisen Lächeln vom Fenster ab. Er hatte hier zu arbeiten und nicht in seiner Kindheitserinnerung zu schwelgen. Solche Abschweifungen kannte er als sicheres Zeichen, dass die vor ihm liegende Arbeit schlicht langweilig war. Statistiken erarbeiten oder kontrollieren, zählte weiß Gott nicht zu seinen bevorzugten Beschäftigungen. Heute allerdings hatte er sich die wenig geliebte Arbeit sogar mit einer gewissen Freude vorgenommen.

      ‚Ich muß nicht raus,’ dachte er ,mal ein angenehmer Aspekt der Leitertätigkeit.’ Als vor einer Stunde die Leitstelle den Anruf des Revierleiters aus Burg durchstellte, dass im Kaupen Nr. 19 eine tote Frau aufgefunden worden war, Tod durch Gewalteinwirkung, da mußte sein 13 Jahre jüngerer Stellvertreter und Leiter der Mordkommission Fred Bittner raus in die Winterwelt.

      Die Kaupen in Burg, diese seltsamen Sandinseln im Gewirr der Spreewaldfließe, die gerade mal bis zu einem Meter über das umgebende Gelände reichen, hatte er noch aus einem alten Fall in Erinnerung. Die Kaupen waren von alters her isolierte Einzelgehöfte, von beachtlicher Größe aber schlechter Bodenqualität, zu denen erst seit dem letzten Jahrhundert Landwege führten, davor waren sie nur mit dem Kahn zu erreichen gewesen. Bevor die Talsperre in Spremberg seit Mitte der 1960er Jahre den Wasserlauf der Spree regulierte, standen die Kaupen mindestens einmal, aber in schlimmen Jahren auch mehrmals unter Wasser. Nur die Wohnhäuser, die immer an der höchsten Stelle gebaut waren blieben verschont und zuweilen nicht einmal die.

      Selbst im Sommer war der Landweg zu den Kaupen ein Belastungstest für die Bandscheiben. Bei diesem Wetter wollte sich Bittner das nicht einmal genauer vorstellen. Ab der Ringchaussee war sicher nichts geräumt. In den Fahrrinnen, die sich dann auf den Wegen bildeten und die nachts überfroren, wurde man durchgeschüttelt, dass einem sämtliche Knochen weh taten.

      ‚Da soll sich mal die Jugend beweisen’, grinste er in sich hinein. ‚Wobei ja 35 Jahre nur im alten FDJ-Zentralrat als jugendlich galten,’ spann er den Gedanken weiter. Zu beweisen brauchte Fred Bittner sich und anderen bestimmt nichts, weder was seine fachlichen Fähigkeiten noch seine Persönlichkeit anbelangte, gab es jemanden, der ihm die Eignung für seinen Beruf absprechen würde. Lediglich mit seiner ziemlich aufbrausenden Art, wenn er das Gefühl hatte, dass man ihn nicht ernst nahm, kamen einige Kollegen und vor allem Vorgesetzte nicht gut zurecht. Bei den Verwaltungsleuten von der Direktion im Polizeischutzbereich Cottbus bis hoch ins Landesministerium galt er darüber hinaus als überheblich. ‚Was von mir ja auch manche dieser Sesselfurzer denken’, beendete Werner Metag die nächste Abschweifung von der Statistik.

      Mit diesem ganzen Verwaltungskram tat er sich auch nach zwanzig Jahren als Leiter der Kriminalpolizei in Cottbus schwer.

      Er hatte gerade die Vorlage „Grenzüberschreitende Kriminalitätsentwicklung im Vergleich zum Vorjahr“ auf dem neuesten Stand hinter sich gebracht, als sein privates Handy quiekte. Der Klingelton, der an Schwein beim Schlachten erinnerte, war ihm von seinem Sohn in dessen letzten Heimaturlaub eingestellt worden. Werner zuckte jedes mal zusammen, wenn es aus seiner Tasche quiekte. Da seine Privatnummer nur sehr wenige kannten, passierte es nicht allzu oft und erst recht nicht während der Dienstzeit. Wieder nahm er sich vor, diesen unmöglichen Klingelton auszuschalten und wußte im selben Moment, daß er es wieder vergessen würde.

      Das Display zeigte einen Anruf von Fred. Das war ungewöhnlich. Üblicher Weise benutzten sie im Dienst nur die Diensthandys. Wenige wussten überhaupt, dass Metag und sein Stellvertreter auch Freunde waren. Im Dienst verhielten sie sich kollegial wie alle anderen und waren wie alle Männer bei der Kriminalpolizei der Direktion Süd beim Du. Lediglich den Frauen gegenüber gestattete Metag sich keine Vertraulichkeiten und auch kein kollegiales Du. Bittner war da unbekümmerter und duzte alle, auch mal ganz hohe Vorgesetzte, die vor allem, wenn er in Rage war.

      Jetzt klang Bittners Stimme sehr gepresst, als er kurz und abgehackt sagte: „Werner, du musst her kommen, sofort. Der Rettungshubschrauber nimmt dich mit, ich hab das geklärt. Sonst kommt hier keiner mehr durch.“ Damit hatte er schon abgeschaltet. Metag runzelte die Stirn. Das war mehr als ungewöhnlich. Er mummelte sich mit allen warmen Sachen ein, die er vorfand.

      Seine Lederstiefel und irgendwelche Reservesachen hatte er immer im Dienstzimmer. Er hatte sich schon manchmal seine Kleidung mit Blut oder Erbrochenem verdreckt, wenn er mit im operativen Einsatz war.

      Im Dezember 1990 war er vom Leiter der Mordkommission Cottbus zum Leiter der gesamten Kriminalpolizei im Bezirk Cottbus berufen worden, da sein Vorgänger wegen zu großer Aktivitäten als Mitglied der SED nicht mehr tragbar erschien. In der Wendezeit hatte der Runde Tisch im Bezirk Cottbus durchgesetzt, dass alle Führungskräfte,