Stefanie Purle

Scarlett Taylor


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kann, kehren sie zurück, jedoch nicht allein. Mit den mir bereits bekannten Elfengestalten betreten noch größere leuchtende Flugkörper den Raum. Ich weiche instinktiv ein wenig zurück, als sie sich durch die Bücherstapel auf mich zubewegen. Immer mehr dieser großen Leuchtbälle schweben durch die Wände um mich herum auf mich zu. Ihre Bewegungen werden nicht von leisem Glockenklingeln begleitet, sondern von einem Chor aus läutenden Kirchenglocken. Dumpfe, langgezogene Klänge erfüllen die Bibliothek und ihr Dröhnen vibriert in meinem Bauch.

      Am liebsten würde ich nach Roberta rufen, doch ich bin zu ehrfürchtig erstarrt, um einen Ton von mir zu geben. Einer der Leuchtkörper, so groß wie ein Fußball, schwebt sachte vor mein Gesicht, während die restlichen sich kreisförmig um mich herum aufstellen. Hinter ihnen umschwirren die kleinen Elfen den Kreis. Der Anblick macht mich ein wenig schwindelig, doch das hindert mich nicht daran, die große Leuchtkugel vor mir genauer zu betrachten. Erst jetzt, da sie so nah vor mir schwebt, erkenne ich, dass es eigentlich gar keine Kugel ist. Nur der Lichtschein, der sie umgibt, lässt sie wie eine Kugel wirken. Darin jedoch befindet sich ein Wesen in Embryohaltung, das nun langsam die Beine und Arme ausstreckt und zu wachsen beginnt. Innerhalb weniger Sekunden hat das Wesen die Größe eines Kleinkindes erreicht, das sich vor meine verschränkten Beine hinstellt.

      Ihr Lichtschein verebbt, bis nur noch ein leichtes Glimmen zurückbleibt und ich es in seiner wahren Gestalt betrachten kann: Ihr Körper ist schmal und schlank, mit zu langen, spitz zulaufenden Armen und Beinen, die mich ein wenig an dürre Äste erinnern. Ihr hüftlanges Haar hat die Farben von Herbstlaub und ist mit Eicheln und Bucheckern geschmückt, die wie eine Art Krone auf ihrem Haupt sitzen. Hinter dieser Krone befinden sich zwei gedrehte Hörner, auf denen kupferfarbene, filigrane Muster gezeichnet sind. Sie ist weder nackt noch trägt sie Kleidung. Ein hautenges Gewandt aus Blättern und Gräsern überzieht ihren Körper und scheint damit verschmolzen zu sein. Ihre Augen sind wie zwei Edelsteine, die mich forschend ansehen.

      „Wer bist du?“, flüstere ich.

      Anstatt zu antworten, wedelt sie mit einer dürren Hand, woraufhin eines der Bücher in ihre Hände schwebt. Sie nimmt es an sich, klappt den Buchdeckel auf und nickt.

      „Hilfst du mir, die Bücher zu lesen?“, frage ich und sie nickt erneut. „Alle Bücher?“

      Aus den um mich herumschwirrenden großen Lichtkugeln kommt ein surrender Glockenklang und instinktiv weiß ich, dass diese Wesen gekommen sind, um mir zu helfen. Ihr Gong verebbt langsam und lässt nur noch ein dumpfes Vibrieren im Raum zurück, während das Wesen vor mir mich aus seinen glitzernden Augen ansieht und die schmalen Lippen zu einem leichten Lächeln verzieht.

      „Okay, ich bin bereit.“

      Ich atme tief ein und aus, presse die Augenlider zusammen und warte ab. Innerhalb weniger Sekunden kommt warmer Wind auf, der mein Haar über meine Schultern wehen lässt. Meine Haut wird warm, als starre ich in die Sonne und der Punkt in der Mitte meiner Stirn, zwischen meinen Augenbrauen, beginnt zu kribbeln. Und dann geht es los. Ohne die Augen zu öffnen spüre ich, dass die Elfen und die großen Lichtkugelwesen um mich herumwirbeln. Ich sehe in meinem Inneren Bilder vor mir, von allen möglichen Dingen. Sie sind so surreal und abstrakt, dass ich sicher bin, dass ich sie mir nicht ausgedacht habe. Sie kommen von den Wesen und den unzähligen Büchern. Die Wesen übertragen das Wissen der Bücher auf mich.

      Alles dreht sich, mir wird schwindelig und warm und kalt zugleich. Aber ich bin gewillt dies durchzustehen!

      Meerwesen, insbesondere Meerfrauen werden durch reine, emotionale Liebe schwanger und haben keinen Geschlechtsverkehr. Elfen, unter dem Mikroskop betrachtet, sehen aus, wie eine Mischung aus Biene und Mensch. Gnome können ihre Gliedmaßen aus jedem beliebigen Naturmaterial formen, nur der Kastanienkopf bleibt immer derselbe. Trolle können sich zu hunderten zusammentun und so einen Riesen formen, der ganze Städte dem Erdboden gleichmachen kann. Die Muschel der Meeresschnecke kann von einer Hexe genutzt werden, um Meerwesen herbeizurufen. Angezündeter, getrockneter Salbei vertreibt böse Geister aus Gebäuden. Weiße Vampire trinken nur das Blut von Werwölfen und holen sich so, Stück für Stück ihre Sterblichkeit zurück. Die letzte weiße Hexenkönigin regierte im 11. Jahrhundert, danach kam ihre Tochter an die Macht und wurde eine schwarze Königin. Sie war die Mutter meines Vaters, der ebenfalls dunkel wurde. Mohnblumen, bei Vollmond gesammelt und bei Neumond getrocknet, ergeben zu Pulver verarbeitet einen Bann gegen Diebe, Räuber und Einbrecher, wenn man es um das Haus herum verstreut. Die Flosse von Meermännern ist länger, als die von Meerfrauen. Bergkristalle, die einen regenbogenartigen Schimmer in sich tragen, können benutzt werden, um Portale zu erstellen. Um schwarze Portale zu schließen, verwendet man schwarzen Turmalin. Über den Elfen stehen die Feen. Ihre Leuchtgestalt ist größer, ihre wahre Gestalt gleicht dem eines Menschen, nur wesentlich kleiner und zierlicher.

      So geht es gefühlt stundenlang weiter. Das Wissen strömt durch die Elfen und Feen in mich hinein. Es geht so schnell, dass ich nur einzelne Sätze gedanklich verstehe, die sich wirr aneinanderreihen und im ersten Moment gar keinen Sinn ergeben. Doch ich spüre, dass sie in meinem Gehirn gespeichert sind und ich das Wissen abrufen kann, wenn ich es möchte.

      Für meine eigenen Gedanken ist kein Platz mehr. Zu schnell prasseln die unterschiedlichsten Informationen auf mich ein. Wie kleine Blitze, die in mein Gehirn schießen. Einer für jedes Buch.

      Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder die Augen öffne, ist alles vorbei und ich bin allein. Die Elfen und Feen sind verschwunden, bevor ich mich bei ihnen bedanken konnte. Mit steifen Gliedern rapple ich mich auf und strecke mich. Meine Beine sind eingeschlafen, mein Rücken schmerzt, aufgrund der stundenlangen Sitzhaltung. Ein wenig taumelnd gehe ich zum nächstliegenden Bücherstapel, greife nach dem erstbesten Buch und schlage es auf. Ich lese die ersten Zeilen leise vor und merke direkt, dass ich sie bereits kenne. So mache ich es mit ein paar weiteren Büchern und genau dasselbe geschieht: Ich lese die ersten Zeilen und weiß, wie es weitergeht. Nur zur Sicherheit schlage ich mir einen Weg bis zur hintersten Ecke der Bibliothek frei und hole ein Buch aus der untersten Lage hervor. Bereits beim Lesen des Titels formen sich in meinem Kopf die Informationen dazu. Ohne das Buch aufzuschlagen, weiß ich, was darin steht. Ein begeistertes Jauchzen strömt aus meiner Kehle. Wer hätte gedacht, dass es so einfach wäre, das Wissen einer weißen Hexenkönigin zu erlangen!

      Mit einem dicken Lächeln auf den Lippen verlasse ich die Bibliothek und renne den roten Teppich im Flur entlang.

      „Chris? Roberta?“, rufe ich aufgeregt und sprinte vor bis in die Küche.

      Durch die offenstehende Terrassentür sehe ich die beiden im Garten sitzen. Chris lacht über etwas, das Roberta gesagt hat, und als er mich sieht, springt er auf. Roberta dreht sich um und sieht mich grinsend an, als ich im Türrahmen erscheine.

      „Na, endlich, Scarlett!“, ruft Chris erleichtert aus und schließt mich in die Arme. Er zieht mich so dicht an sich, dass mir kaum Luft zum Atmen bleibt.

      „Ich nehme mal an, es hat funktioniert, nicht wahr?“, sagt Roberta und nickt stolz.

      Umständlich winde ich mich halb aus Chris´ Armen und drehe mich zu Roberta. „Ja, es hat geklappt“, sage ich erleichtert. „Ich weiß nun alles, was in den Büchern deiner Bibliothek steht.“

      „Warum hat es so lange gedauert?“, will Chris wissen und verschränkt seine Finger mit meinen.

      Ich zucke mit den Achseln. „Weil es so viele Bücher waren, denke ich mal. Wie lange hat es denn genau gedauert?“

      „Zwei Tage!“

      Kapitel 11

      Die Tatsache, dass ich zwei ganze Tage in der Bibliothek verbracht habe, schüttle ich mit einem gleichgültigen Achselzucken ab. Sicherlich hätte ich gerne vorab dafür gesorgt, dass Chris Zuhause ist, und nicht 48 Stunden bei Roberta auf mich warten muss, aber es scheint ihn nicht gestört zu haben. Die beiden sind sich noch nähergekommen, was mich wirklich freut. Allerdings scheint Roberta noch mehr Gefallen an ihm gefunden zu haben, denn bei jeder sich bietenden Gelegenheit berührt sie ihn und zwinkert ihm zu. Chris lächelt dann freundlich und erwidert das