auf den Kleinlaster zu, als der zum Stehen gekommen war.
„Dort hinten an der Klippe, da ist meine Frau abgestürzt, beeilen Sie sich!“
Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung, und Jean Le Goff rannte neben dem Wagen her. Ewen und Carla hatten jetzt keinen Blick mehr für den 55 Meter hohen Leuchtturm Phare du Creac’h, dem wichtigsten nautischen Punkt der Seefahrt in der Region, der in wenigen 100 Metern Entfernung in den Himmel ragte. Auch sie folgten schnellen Schrittes dem Lastwagen in Richtung der Klippen, ohne zu überlegen, was sie dort helfen konnten.
Als sie an den Klippen ankamen, sah Ewen, dass Jean mit den Helfern an der Abrisskante der Felsen hin und herging und immer wieder nach unten sah. Er schien seine Frau zu suchen, aber nicht sehen zu können. Carla war etwas weiter entfernt stehen geblieben, während Ewen zu dem Mann mit dem Kleinlaster an den Steilhang getreten war.
„Ist die Frau tief abgerutscht?“
„Schwer zu sagen, jedenfalls scheint sie verschwunden zu sein. Ihr Mann hat uns die Stelle gezeigt, an der sie abgerutscht sein soll, aber es ist nichts zu sehen, nicht einmal richtige Spuren. Das Gras ist etwas niedergetreten, das kann aber auch von ihrem Mann stammen.“
„Seltsam!“, sagte Ewen und ging in die Richtung der angeblichen Absturzstelle.
Er sah hinunter auf die Wellen, die sich an den Klippen brachen und auf das Wasser, das sich schäumend um die zahlreichen, herausragenden spitzen Felsbrocken zu winden schien. Mit jedem erneuten Auftreffen einer Welle stoben Wasserperlen in die Luft und bildeten für Sekunden einen Schleier. Mit großer Wucht trafen die Wellen auf den Granit der Insel. Zwischen den großen Steinen sammelte sich weißer Schaum, aus dem vom Wasser aufgeschlagenen Eiweiß der Meeresalgen und bildete einen dichten Teppich, der selbst noch aus einer Höhe von fast 30 Metern zu sehen war. Sollte die Frau an dieser Stelle hinuntergestürzt sein, dann wäre sie von den Wassermassen hinaus aufs Meer gezogen worden. Ewen konnte sich nicht vorstellen, dass sie einen Absturz an dieser Stelle überlebt haben konnte.
Mit den Augen suchte er den Hang nach Spuren ab, die ein rutschender Körper hinterlassen haben konnte. Ewen konnte nichts entdecken. Inzwischen waren Jean Le Goff, und zwei weitere Männer der herbeigeeilten Helfer, bei Ewen angekommen. Sie hatten die Klippenabschnitte rechts und links der beschriebenen Stelle auf einer Länge von 200 Metern abgesucht, ohne eine Spur von der Frau zu entdecken. Jean raufte sich unentwegt seine Haare und rief ständig:
„Hier war es, ich bin mir sicher, es war genau hier! Wo ist meine Frau?“
Einer der Helfer nahm sein Funksprechgerät in die Hand und rief die Leitstelle an. Er schilderte kurz die Situation und bat um Unterstützung von der Seenotrettung. Dann wandte er sich an Jean Le Goff.
„Monsieur Le Goff, ich habe um Unterstützung von der Seenotrettung gebeten. Es wird eine Weile dauern, bis das Boot hier eingetroffen ist, es muss um die Halbinsel herumfahren, denn das Rettungsboot ist im Hafen von Lampaul stationiert. Wir suchen dann vom Meer aus weiter. Ist Ihre Frau eine gute Schwimmerin?“
„Ja, sie kann sehr gut schwimmen.“
„Das Wasser ist kalt, da kann sie es nicht lange ohne einen Schutzanzug aushalten. Vielleicht ist sie ja ins Wasser gestürzt und hat sich an einer zugänglicheren Stelle wieder an Land retten können. Ich will Ihnen aber keine große Hoffnung machen. Wenn sie hier abgestürzt ist, stehen ihre Chancen nicht gut.“
Ewen beobachtete Jean, während ihm der Helfer die Situation erklärte. Ewen erkannte kaum eine Regung im Gesicht des Mannes.
Würde man ihn mit so klaren Worten auf den Tod von Carla vorbereiten, wäre seine Reaktion bestimmt nicht so gefasst. Er nahm wahr, wie sich sein kriminalistischer Instinkt breit zu machen begann und die Gedanken an einen ruhigen erholsamen Urlaub zu verdrängen schien. Carla trat jetzt zu Ewen und stellte sich neben ihn. Ihr entging die Veränderung in Ewens Gesicht nicht. Seine zuvor noch gelösten und ruhigen Gesichtszüge waren plötzlich durch eine angespannte und nachdenkliche Mimik verdrängt worden. Carla kannte diesen Gesichtsausdruck zu genau, sie wusste, dass jetzt nur wenig fehlte, und der so mühsam herbeigeführte Urlaub würde ein jähes Ende finden.
„Lass uns weitergehen, Ewen, wir können hier doch nicht helfen.“
„Ich muss noch bleiben, ich habe den Verdacht, dass hier etwas nicht stimmt.“
„Wir sind im Urlaub, Ewen! Überlass die Arbeit den Kollegen vor Ort.“
„Aber hier ist doch niemand! Bis ein Kollege vom Festland hier ankommt, vergeht wertvolle Zeit. Ich muss mit Jean sprechen.“
Ewen ging auf Jean zu, der sich immer noch mit seiner rechten Hand durch die Haare fuhr.
„Monsieur Le Goff, erzählen Sie mir doch ganz genau, was sich vor dem Sturz Ihrer Frau ereignet hat.“
Le Goff, der die ganze Zeit abwechselnd auf das Gras unter seinen Füßen und auf die Klippen starrte, hob seinen Kopf und blickte Ewen an.
„Was haben Sie gesagt?“
„Ich habe Sie gefragt, was genau passiert ist, bevor Ihre Frau abgestürzt ist.“
„Nichts ist passiert, wir sind fröhlich hier an den Klippen entlang spaziert, haben uns über die kommenden Urlaubstage unterhalten und überlegt, was wir alles unternehmen wollen. Dann muss meine Frau in eine Bodenunebenheit getreten sein. Sie ist plötzlich hin und hergeschwankt und hat ihr Gleichgewicht verloren. Bevor ich nach ihr greifen konnte, ist sie bereits über den Klippenrand gerutscht und hat sich einige Meter tiefer an dem Ast eines Busches festgehalten. Ich habe ihr nicht helfen können. Ich habe ihr zugerufen, sie solle sich festhalten, ich würde Hilfe holen. Das war alles. Dann habe ich Sie getroffen und Sie haben Hilfe herbeigerufen.“
„Können Sie mir den Ast zeigen, an dem sich Ihre Frau festgehalten hat?“ Ewen sah Jean an.
„Ja, das kann ich, kommen Sie.“ Er ging die drei Schritte bis zum Klippenrand und sah sich um. Dann erblickte er den kleinen Stechginsterstrauch und zeigte darauf.
„An dem Busch dort hat Marie sich festgehalten.“
Ewen ging in die angezeigte Richtung und sah zu dem Stechginsterstrauch hinunter. Der Strauch schien völlig unbeschädigt zu sein. Auf dem Boden konnte er keine heruntergerissenen Blütenblätter erkennen, obwohl der Strauch noch jede Menge davon trug. Ewen überlegte, wenn die Frau hier abgerutscht war, dann muss es möglich sein, Spuren zu entdecken. Aber der Boden sah nicht aus, als ob hier ein Mensch ausgerutscht war. Warum sollte ihr Mann den Helfern aber eine falsche Absturzstelle zeigen? Hatte er etwas mit ihrem Absturz zu tun? Ist die Frau überhaupt abgestürzt? Die Fragen gingen Ewen durch den Kopf. Er sah Jean Le Goff an, der immer noch auf und abging und sich die Haare raufte.
Ewen erinnerte sich an die Überfahrt mit dem Schiff. Es war erst einige Stunden her. Jean war sehr liebevoll mit seiner jungen Frau umgegangen, nichts hatte darauf hingedeutet, dass die zwei einen Streit gehabt hätten, bevor sie an Bord des Schiffes gegangen waren. Ewen war unschlüssig, ob er seine Kollegen in Brest anrufen sollte. Die waren für die Insel zuständig. Wenn die Frau tatsächlich abgestürzt war, bedurfte es keiner Mordkommission. Aber wenn es ein Mord gewesen war? Er brauchte einen Anhaltspunkt, der ihm helfen konnte die richtige Entscheidung zu treffen. Wenn es doch wenigstens eine einzige Spur gäbe, die entweder auf einen Unfall oder auf ein Verbrechen hindeutete.
Ewen sah Carla ungefähr 20 Meter von sich entfernt stehen. Sie sah im Moment nicht gerade glücklich aus. Ewen ging auf sie zu und nahm ihre Hand.
„Carla, bitte verzeih, aber ich brauche vielleicht noch zehn Minuten, dann können wir weitergehen. Ich will mir nur noch den Erdboden, links und rechts der Absturzstelle, genauer ansehen. Die Frau kann unmöglich dort abgestürzt sein, wie Jean es uns weismachen will. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Frau überhaupt abgestürzt ist.“
„Zehn Minuten sollst du noch haben, aber dann sind wir wieder im Urlaub, einverstanden?“
„Versprochen!“, antwortete Ewen und ging raschen Schrittes an den Klippenrand. Vorsichtig bewegte er sich zuerst nach links, jeden