Dirk Lützelberger

Mord im ersten Leben


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Nebelwolke auf und Kays Augenlider schlossen sich langsam. Sein Körper hatte bisher alle lebensnotwendigen Systeme aufrechterhalten können, aber nun spürte er, wie die Kraft aus seinen Muskeln schwand und er flacher atmete. Dann atmete er gar nicht mehr. Er hatte den Kampf endgültig verloren.

      Sonntag, 25. November 2012, 08:57

      Für einen Sonntag waren sie schon früh aufgestanden. Das Wetter war hervorragend und Gwen sah dem Tag erwartungsvoll entgegen. Endlich wieder für ihre Familie und speziell ihren Sohn da zu sein, erfüllte sie mit Vorfreude.

      »Ich habe eine Überraschung für meinen Großen.« Erwartungsvoll sah Gwen ihren Sohn an, der immer noch lustlos an seinem Nutella Brötchen herumkaute. Phil verzog keine Miene. Gwen traf diese Reaktion unerwartet und direkt. Sie hatte gehofft, Phil würde sich freuen und neugierig nachfragen, aber das Gegenteil war der Fall. So ging das nun schon die ganze Woche. Kaum ein Wort hatte sie aus Phil herausgebracht, seit Paul starb. Es schien so, als wenn er in seiner eigenen Welt leben würde, als wenn der Kontakt zur Außenwelt unterbrochen war. Das einzige Interesse, welches Phil zeigte, war es, an seinem Computer zu spielen. Hier konnte er sich stundenlang zurückziehen und verbrachte seine Zeit, aber zu Gwen war der Kontakt abgerissen.

      Gwen trank ihren Kaffee aus und legte nach: »Willst Du gar nicht wissen, wohin wir heute fahren?«

      Phil schob den letzten Bissen seines Brötchens in den Mund und stand auf. »Wir können gleich los, ich putze mir nur noch die Zähne«, verkündete er gleichgültig.

      Verwundert schaute Gwen Phil hinterher, als er oben am Treppenabsatz verschwand. Kopfschüttelnd räumte sie den Küchentisch ab.

      Alles war vorbereitet und sie hatte so sehr gehofft, ihrem Sohn eine Freude zu machen. Er aber zeigte nicht den Funken eines Interesses wohin es ging. Wortlos und lustlos stieg Phil, mit seinem iPod und den Kopfhörern auf den Ohren, ins Auto.

      Während sie die Tür zuschlug und um den Wagen herumging, murmelte Gwen: »Bitte sehr, der Herr, bloß kein Wort reden!«

      Sie gab Gas.

      Beth stand abfahrbereit schon am Fahrbahnrand und erwartete ungeduldig ihre Tochter. Als sie den schwarzen Touareg ankommen sah, winkte sie Gwen zu. Kaum kam der Wagen zum Stehen, flog die hintere Tür auf und Phil sprang heraus, um seiner Oma um den Hals zu fallen.

      Mit Argusaugen beobachtete Gwen das Geschehen und saß wie angewurzelt am Steuer. Nach endlosen Sekunden stellte sie den Wagen ab, und half ihrer Mutter beim Einsteigen. Phil war schon wieder auf der Rückbank und lächelte vor sich hin, als Gwen in den Wagen stieg, um das Trio zu ihrem eigentlichen Ziel zu chauffieren.

      »Und? Freust Du Dich schon, Phil?«, fragte Beth neugierig.

      »Weißt Du, wohin wir fahren?«, fragte Phil scheinheilig.

      Verwundert schaute Beth Gwen an, bevor sie antwortete. »Zu den Haien und Kraken, ins Sea Life. Das magst Du doch, oder?«

      »Klasse! Da waren wir schon so lange nicht mehr!«

      Gwen erkannte ihren Sohn nicht wieder. Die letzte Woche brachte er ihr gegenüber kaum ein Wort heraus. Mit seiner Oma schien die Situation eine ganz andere zu sein. Er plapperte ungebremst vor sich hin und erzählte fast die gesamte Fahrt lang über seine letzte Woche und seine Erlebnisse. Nach neunzig Minuten erreichten sie den Timmendorfer Strand und das Sea Life. Es war bitterkalt, aber die Sonne war ihnen wohl gesonnen. Minus zehn Grad zeigte das Thermometer heute Morgen bei der Abfahrt und es mochte kaum wärmer geworden sein. Die Sonne hatte einfach keine Kraft mehr, um die Luft entsprechend aufzuheizen. Der Winter kam unaufhaltsam mit großen Schritten.

      Nachdem sie den Wagen in einer Seitenstraße abgestellt hatten, gingen sie zu dritt zum Eingang. Hinter der Düne konnte man die Wellen hören, die sich unermüdlich den Weg an den Strand bahnten. Gwen hatte jetzt schon das Gefühl, dass sie viele Anläufe brauchen würde, um wieder zu ihrem Sohn zu finden. Vielleicht stand auch Phils Eindruck, seine Mutter hätte eine Affäre mit Dr. Peters, ihrer Beziehung im Wege. Mit dieser fixen Idee würde sie alsbald einmal aufräumen müssen, aber nicht heute und nicht in Gegenwart von Beth, überlegte sich Gwen, während sie sich in der Schlange am Eingang anstellten.

      Nachdem sie den Eingang passiert hatten, steuerte Phil geradewegs auf die ersten Aquarien zu und zerrte seine Oma am Arm mit sich. »Komm Oma, lass uns zu ›Speedy‹ gehen!«

      ›Speedy‹ war eine der Attraktionen im Sea Life und Phil war verrückt nach ihr. Die kleine Meeresschildkröte hatte es ihm wirklich angetan. Er konnte stundenlang vor dem Aquarium stehen und ›Speedy‹ beim Dahingleiten zusehen. Gwen hätte zu gerne wissen wollen, was in dem kleinen Kopf ihres Sohnes vorging.

      »Hey, ist das nicht toll, wie ›Speedy‹ im Wasser ihre Bahnen zieht?«, versuchte Gwen ein Gespräch zustande zu bringen. »Ich wette, so lange kannst Du nicht die Luft unter Wasser anhalten!«

      »Wenn Du mal mit mir ins Schwimmbad gegangen wärst, so wie Papa, dann wüsstest Du, wie gut ich schon schwimmen und vor allem tauchen kann!«

      Rumms! So war das nicht geplant, dachte Gwen. Das tat wirklich weh, aber es war einfach nicht genug Zeit für ihre Karriere, ihren Mann und ihren Sohn gewesen. Sie hatte Prioritäten setzen müssen, die sich nun als falsch herausstellten. Aber es war immer noch genügend Zeit die Dinge zu ändern. Gwen tat einen Schritt näher an ihren Sohn heran und ging in die Hocke.

      »Du hast Recht Phil, ich habe zu wenig Zeit mit Dir verbracht, und das tut mir sehr, sehr leid, aber wir müssen jetzt zusammenhalten. Wir haben doch nur noch uns beide.«

      Die Sekunden vergingen, Phil starrte weiterhin auf diese kleine Meeresschildkröte und ließ keine Gefühlsregung erkennen.

      »Du, ich habe eine tolle Idee. Im LKA ist zurzeit nicht so viel zu tun und ich habe alle großen Fälle abgearbeitet. Ich kann es leicht einrichten mehr zu Hause zu sein und wir unternehmen dann einfach was zusammen. Irgendetwas, wozu Du Lust hast. Vielleicht können wir auch ins Schwimmbad gehen, wenn Du magst? Na, wie klingt das?«

      Wieder verstrichen die Sekunden, die Gwen wie endlose Minuten oder sogar Stunden vorkamen. Dann endlich antwortete Phil leise und verhalten: »Ja, das wäre toll.«

      Das war alles, formulierte Gwen innerlich die Frage, kam dann aber zu der Erkenntnis, dass es immerhin ein Anfang war.

      »Toll! Das freut mich!« Sie nahm Phil in den Arm, drückte ihm einen kleinen Kuss auf die Wange, den er sich aber sofort wieder abwischte, und stand auf. »So, und wohin geht es nun? Du entscheidest! Es ist heute Dein Tag, Phil.«

      Während Gwen aufstand, vibrierte ihr Handy. Ob sie rangehen sollte oder lieber nicht? Es ist hoffentlich nichts Dienstliches, überlegte sie, während sie ihr Handy aus der engen Hosentasche herausfischte. Der Name auf dem Display verhieß nichts Gutes. Es war ihr Kollege. Ein Anruf an einen Sonntag auf ihrem Diensttelefon machte Gwen nervös. Gab es vielleicht wieder einen neuen Fall? Sie hatte gerade noch versprochen mehr Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen und nun könnte sich dieses Vorhaben schon wieder in Wohlgefallen auflösen. Hin-und hergerissen drückte sie die grüne Taste, um das Gespräch anzunehmen.

      »Gwen Fisher …«, antwortete sie und fügte amüsiert hinzu, »… ist zurzeit mit ihrer Familie auf einem Ausflug und nicht zu erreichen. Bitte hinterlassen sie eine Nachricht nach dem Signalton. Piep!« Danach verstummte sie und konnte ihr Lachen nur schwer zurückhalten.

      »Hey Gwen, das ist ja eine tolle Begrüßung – Du kannst ruhig mit mir sprechen, ich rufe privat an.«

      »Da bin ich aber erleichtert. Ich dachte schon, es würde wieder einen Fall geben. Gerade habe ich meinem Sohn erklärt, dass ich nun wieder etwas mehr Zeit für ihn habe und schon klingelt mein Diensttelefon.«

      »Das tut mir leid, ich wollte Dich nicht erschrecken. Sorry. Ihr seid auf einem Ausflug? Wo denn?«

      »Im Sea Life am Timmendorfer Strand. Phil sieht hier immer gerne der Schildkröte ›Speedy‹ zu und gleich werden wir wohl wieder den Seepferdchen und ›Nemo‹ einen Besuch abstatten.«

      »Und? Wie kommt