Dirk Lützelberger

Mord im ersten Leben


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gewesen, nicht weiter um ihre Gunst zu buhlen. Dafür respektierte er sie viel zu sehr. Aber nun hatte sich das Blatt gewendet. Entsetzt über seinen eigenen Gedankengang brach Stefan alle Überlegungen sofort ab. Wie kam er nur dazu so zu denken? Seine Kollegin war gerade einmal zweiunddreißig Stunden Witwe und hatte ihren geliebten Mann verloren. Nun hatte sie ganz bestimmt andere Sorgen, als sich um einen neuen Partner zu bemühen. Er würde seine Gefühle für sich behalten und das professionelle Verhältnis, welches sie seit Jahren hatten, nicht aufs Spiel setzen.

      »In der Tat! Vielen Dank für Deine schnelle Hilfe, Stefan. Ich möchte ja gar nicht fragen, aber es wäre Klasse, wenn Du mich heute Abend noch nach Hause bringen könntest. Ich werde dann den Automobilclub anrufen. Hoffentlich ist es nur eine Kleinigkeit.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Was hätte ich ohne Dich gestern und heute bloß gemacht?«

      »Ich habe Dir gerne geholfen, Gwen. Kein Problem. Ich fahre Dich auch gerne heute Abend nach Hause. Wir bekommen das schon hin. Sag mir einfach, wo ich Dir helfen kann. Dafür sind Partner doch da.«

      »Du hast uns gestern Nacht schon so viel geholfen. Dass Du einfach nur da warst. Das war so wichtig für mich. Ich weiß, dass ich mich auf Dich verlassen kann, aber ich möchte es auch nicht strapazieren.«

      »Mach Dir bitte keine Sorgen. Ich sage Dir schon Bescheid, wenn es mir zu viel wird«, entgegnete ihr Stefan. Innerlich dachte er, dass es ihm wohl nie zu viel werden wird. Im Gegenteil, er wollte mehr von ihr.

      Gwen riss Stefan aus seinen Gedanken.

      »Ich rufe mal den Automobilclub an und mache einen Termin für heute Abend. Auch muss ich mich nun erst einmal um meine Mutter und Phil kümmern. Sie holt ihn sicherlich wieder von der Schule ab und bringt ihn dann nach Hause. Ich werde sie bitten, heute Nachmittag bei ihm zu bleiben, bis wir nach Hause kommen.«

      »Sag ihr einen schönen Gruß von mir und ich denke um sechs Uhr können wir da sein. Nun müssen wir aber auch mal was schaffen. Ich muss noch rüber ins Dezernat 23, wegen der Falschgeldgeschichte bei der Tankstelle. Vielleicht haben sie ja schon etwas herausbekommen.« Stefan wollte nicht, dass seine Gefühle für Gwen in diesem Moment weiter zunehmen, daher machte er kehrt und ließ sie im Korridor vor ihrem Büro stehen.

      Dienstag, 20. November 2012, 18:30

      Erschöpft von einem langen Arbeitstag kam Mark zurück in seine kleine Junggesellenwohnung. Diese Zwölf-Stunden-Schichten sind nicht so einfach durchzustehen, überlegte Mark. Am besten wäre nun eine kurze Stippvisite im Internet. Wie fast an jedem Abend schaltete er zuerst den Rechner ein, damit dieser hochfahren konnte, während er sich frisch machte und bequemere Klamotten anzog.

      Nach dem Anmeldebildschirm begrüßte ihn das System mit den bekannten Worten:

      Willkommen zurück Miss Gore. Ihr letzter Besuch war vor 1 Tag und 16 Stunden.

      Als sich der Bildschirm aufbaute erkannte Mark schnell, dass seine Freunde tatsächlich online waren. Priscilla war anwesend und ein weiterer seltsam gekleideter Typ. Soll wohl eine Art Supermann sein, grübelte Mark, während er die Maus hin und her schubste. Schließlich fing er an zu tippen.

      [Miss Gore]: Guten Abend meine schöne Sklavin. Ich freue mich sehr, Dich zu sehen. Du bist gehorsam gewesen!

      [Priscilla]: Guten Abend, ja meine Herrin. Ihre Dienerin hat Ihnen wie gewünscht das Foto geschickt. Ist es zu Ihrer Zufriedenheit?

      [Miss Gore]: In der Tat ist es genau, was ich von Dir erwartet hatte. Du hast einiges wieder gut gemacht.

      [Priscilla]: Danke, meine Herrin, das tut gut, ein Kompliment von Ihnen zu bekommen. Im echten Leben hört dieses Mädchen so etwas selten.

      Dies schien der Hinweis auf eine direkte Kommunikation zu sein. Mark hielt kurz inne und antwortete dann auf dem privaten Kanal. Es hatte den Vorteil, dass keiner der Anwesenden diese Unterhaltung mitlesen konnte.

      [(p) Miss Gore]: Zu Hause oder bei Deiner Arbeit?

      Priscilla, die sofort verstanden hatte, antwortete ebenso im privaten Bereich, was durch ein kleines ›(p)‹ im Chatfenster angezeigt wurde, um ihre Privatsphäre zu schützen.

      [(p) Priscilla]: Bei der Arbeit und zu Hause, Herrin.

      [(p) Miss Gore]: Warum wirst Du da nicht gelobt?

      [(p) Priscilla]: Es gibt niemanden über diesem Mädchen, der bei der Arbeit loben könnte und zu Hause hat dieses Mädchen nicht viel zu sagen …

      [(p) Miss Gore]: Leitest Du einen Betrieb?

      [(p) Priscilla]: Ja, Filialleitung einer Sparkasse.

      [(p) Miss Gore]: Na, dann hast Du Deine Belobigungen hier verdient.

      Mark wusste aus vielen vorangegangenen Gesprächen, wie man seinem menschlichen Gegenüber, auch wenn er nur als Avatar auf dem Bildschirm dargestellt wurde, so einige persönliche Informationen entlocken konnte. Man musste nur zur richtigen Zeit die richtigen Signale senden und entsprechend reagieren. Es war so einfach.

      [(p) Priscilla]: Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herrin.

      [(p) Miss Gore]: Du hast also einen Partner zu Hause? Musst Du viel im Haus helfen?

      [(p) Priscilla]: Ja, Miss, es gibt einen Partner, aber die Arbeiten sind zu seinen Gunsten verteilt. Wir bekommen viele Pakete und dieses Mädchen muss immerzu bei der Packstation vorbei, um die Pakete nach Hause zu bringen. Es gibt nur sehr wenig Lob dafür.

      Mark lächelte, denn wieder hatte er ohne große Anstrengungen Details aus Priscillas Leben geliefert bekommen. Das reichte für heute. Aktiv wollte er nicht weiter nachfragen, um nicht neugierig zu wirken. Aber nun wurde es Zeit, Priscillas Begleiter kennen zu lernen.

      [(p) Miss Gore]: Du armes Ding. Aber sag mal, wen hast Du denn hier heute mitgebracht?

      [(p) Priscilla]: Oh Herrin, das ist ein neuer Freund. Wir haben uns neulich auf einer Sklavenauktion getroffen. Er nennt sich ›Darkwing‹!

      Eine Sklavenauktion – da war er auch schon lange nicht mehr – sinnierte Mark über Priscillas Worte nach. Diese virtuellen Auktionen, in denen devote Sklaven und Dienerinnen an dominante Herrinnen und Meister ›verkauft‹ wurden. Hier traf er sich auch oft mit seinen früheren Begleitern, um neue Sklavinnen zu ersteigern. Mittlerweile begeisterte ihn aber mehr die Verbindung zwischen virtueller Welt und der Realität. Daher war er heute an diesem neuen Typen interessiert, der mit Priscilla unterwegs war. In dieser künstlichen Welt war es möglich, sich in einem virtuellen Körper zu bewegen, den man nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten konnte. Ein Mann konnte eine Frau darstellen oder umgekehrt. Auch körperliche Proportionen ließen sich beliebig anpassen, so dass aus sehr zurückhaltenden Mauerblümchen in der virtuellen Welt dominante Herrscher werden konnten.

      Mark begann, wie er es schon oft getan hatte, sein Netz auszuwerfen. Im Schutz der Anonymität waren viele Spieler bereit, wildfremden Menschen Vertrauen zu schenken und ihnen ihr Herz auszuschütten. In einer knappen halben Stunde der Unterhaltung, teils privat, teils öffentlich, hatte Mark, alias Miss Gore, schon etliche Details aus dem Leben des Neulings in Erfahrung gebracht. Sein Name war in Wirklichkeit Jens-Gerwin, oder kurz Jens, wie ihn seine Freunde nannten. Er war in der Scheinwelt in seinem eigenen Geschlecht unterwegs, aber sicherlich hatte er mit seiner Erscheinung etwas nachgeholfen, denn so muskulös war in der realen Welt nun wirklich kein Mensch. Mark erfuhr auch, dass Jens sehr alleine war. Er hatte weder Frau noch Kinder und verbrachte seine Freizeit immer wieder gerne mit Prostituierten, die er meistens bei sich zu Hause empfing. Mit ihnen konnte er seine spezielle Vorliebe nach Schlägen und Auspeitschungen ausleben. Es war alles nur eine Frage des Geldes. Dies war für Jens-Gerwin allerdings weniger ein Problem, da er als Computerexperte sehr gut verdiente. Genauso stellte Mark ihn sich dann auch vor – als Nerd. Computerbegeistert, ohne Freundin, nicht ungepflegt, aber auch weder mit topaktuellem Haarschnitt oder Kleidung.

      Zufrieden schwang sich Mark von seinem Computer auf, nachdem er sich von beiden verabschiedet hatte. Für heute hatte er genug in Erfahrung gebracht und fühlte sich sehr wohl bei dem Gedanken bald noch eine weitere gute Tat zu vollbringen.